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In der Genossenschaft Ro70 in Weimar leben heute 200 Menschen. Sie haben ein ehemaliges Krankenhaus in Thüringens größtes generationenübergreifendes Wohnprojekt verwandelt.
Wohnen | 04. Juni 2025 | Reportage von Claudia Euen | Lesezeit: 9 Minuten
Mittags im Nordosten von Weimar. Während draußen kalter Aprilwind um die Hauswände pfeift, wird drinnen warmes Essen auf Teller verteilt. Fünf Anwohnende setzen sich rund um den großen Holztisch im Gera. Mit Gera ist nicht die thüringische Stadt 70 Kilometer ostwärts gemeint, Gera heißt hier Gemeinschaftsraum – ein lichtdurchfluteter Raum mit hohen Fenstern, einer kleinen Bibliothek und einer geräumigen Küche. Gera ist hier nicht die einzige Abkürzung: Ro70 steht für Eduard-Rosenthal-Straße 70, Eike heißt der Einkaufskeller, die erwachsenen Bewohner sind die Rosies, die Kinder Rosinchen, erklärt Rosemarie Kaiser und lacht.
Die 72-Jährige ist eine der Rosies, die heute Mittag zum Essen gekommen ist. „Jeder, der Lust hat, ist mal mit Kochen dran“, erklärt sie. Es gibt gibt Reis mit Fischcurry, scharf und wohltuend.
Mehr als nur Nachbar:innen
„Fisch und Gemüse hab‘ ich auf dem Markt besorgt“, sagt Gabi, die gekocht hat. Rosemarie verteilt das Essen auf die Teller. Die vier Euro Spende pro Essen wirft jede:r in eine kleine, rote Porzellandose. Die Stimmung beim Essen ist gelassen, man tauscht sich über Dinge aus, die anstehen, wie der Kunst-Kreis, der alle 14 Tage hier in den Räumen stattfindet oder das, was alle am Wochenende so vorhaben. Die Bewohner:innen der Ro70 sind mehr als nur einfache Nachbar:innen. Sie kennen sich beim Vornamen und versuchen, sich den Alltag so angenehm wie möglich zu gestalten. Zum Nachtisch wird Rote Grütze mit Vanillesoße serviert. Bevor wieder alle in ihre Wohnung oder zur Arbeit gehen, erledigen sie den Abwasch. „Zusammen geht es am schnellsten“, sagt Gabi.
Ein Wohnort mit Geschichte In den 1930er Jahren wird das Gebäude an der Eduard-Rosenthal-Straße 70 in Weimar als Polizeikaserne gebaut. Noch heute zeugen die meterdicken Wände von dem Sicherheitskonzept der damaligen Zeit. Lange Flure durchschnitten die Häuser. Links und rechts lagen kleine Zimmer, in denen einst die Polizeitruppen untergebracht waren. Im Zweiten Weltkrieg nutzen die Nationalsozialisten das Gebäude. Nach dem Krieg wurde die ehemalige Kaserne zum städtischen Krankenhaus mit einer Intensivstation und einem Erholungspark umgebaut. Ab 1998 stand das Haus leer, bis 2016 die Genossenschaft Ro70 die Gebäude von der Stadt Weimar kaufte und zu Wohnungen umbaute.
Auf der Suche nach Gemeinschaft
Und genau dieses Zusammen ist etwas, das viele in die Ro70 verschlagen hat. Auch Rosemarie Kaiser. Nach einer Trennung und dem Umzug nach Weimar war die gebürtige Hessin schon lange auf der Suche nach einer Gemeinschaft. 2017 stieß sie auf die damalige Genossenschaftsgruppe Ro70, einer Bürgerinitiative, die aus der Transition-Town-Bewegung (Weimar im Wandel) entstanden war.
An Wohnen war zu dem Zeitpunkt noch nicht zu denken. Das Entkernen der alten Gemäuer, die bis dato 18 Jahre lang leer gestanden hatten, war gerade dran. „Für mich war klar, dass ich im Alter nicht alleine sein will“, erinnert sich die ausgebildete Sozialpädagogin.
„Vereinzelung in unserer Gesellschaft ist ja ein großes Thema.“ 2019 ist Rosemarie eine der Ersten, die ihre eigene kleine Wohnung bezieht. Zunächst wurde der Westflügel des rechteckig angelegten Areals fertig, im Sommer der Ostflügel. Im März 2020 waren dann endlich alle zusammen: rund 200 Menschen, 70 davon Kinder.
Ohne Geduld, Geschick und Unterstützung geht es nicht
Der Weg dahin war alles andere als leicht. Acht Jahre Planen, Bauen, Bangen und Warten waren ins Land gegangen. 2013 hatte die Baugruppe das erste Mal versucht, das Grundstück zu erwerben. Den Zuschlag bekam damals ein Bauinvestor, der jedoch nicht wie geplant mit den Sanierungsarbeiten begann. Der Kauf wurde rückabgewickelt und das Projekt neu ausgeschrieben. 2016 bewarb sich die Ro70 erneut mit ihrem Konzept einer genossenschaftlichen Gemeinschaft. „Ohne die Unterstützung der Stadt hätten, wir das Objekt nicht kaufen können“, sagt Thomas Aures, der gleich nebenan mit seiner Familie wohnt und der während der Bauzeit im Vorstand der Genossenschaft war. „Wir haben mit unserem Nutzungskonzept überzeugt“, erinnert sich Aures.
„Genossenschaftliches Wohnen ist gute Altersvorsorge“
Im März 2016 erwarb die Ro70 das Grundstück zum Bodenrichtpreis von 870.000 Euro. „Das war eine Entscheidung gegen das Geld und für die Weimarer“, sagt Aures, der selbst mit Immobilien handelt und weiß, dass Investoren sicher mehr gezahlt hätten. Dass später bei einigen Frust entstand, weil das Anfangsversprechen von 6,50 Euro Miete pro Quadratmeter nicht eingehalten werden konnte, kann er verstehen. „Bauverzögerung, gestiegene Baukosten und Inflation haben uns dazu gezwungen, die Mieten anzuheben“, sagt er. „Wir müssen kostendeckend wirtschaften, als Genossenschaft tragen wir alle Kosten selbst.“
Aktuell wurde die Miete von 8,70 Euro auf 9,20 Euro erhöht, die Kreditverträge müssen nach zehn Jahren neu verhandelt werden - immer noch günstiger als die Weimarer Durchschnittsmieten. Dass es sich beim genossenschaftlichen Wohnen um eine gute Altersvorsorge handelt, davon ist Aures dennoch überzeugt. „Wir können nicht wegen Eigenbedarfs gekündigt werden. Die ersten zehn bis 30 Jahre baut die Genossenschaft Rücklagen auf. Aber danach, wenn die Kredite abgezahlt sind, sinken die Mieten wieder“, sagt Thomas Aures.
Heute, fünf Jahre nach dem Einzug, sind nicht nur die Gebäude in der Eduard-Rosenthal-Straße neu saniert, auch die Außenflächen grünen und erblühen im Sommer. Es gibt einen sternförmig angelegten Garten, in dem die Bewohner:innen eigene Parzellen bewirtschaften, es gibt einen Bolzplatz, eine Feuerstelle, und einen Ort der Stille – einen kleinen grünen Hang, auf dem, selbst wenn man sich dort trifft, nicht geredet wird.
„Sich abzugrenzen ist hier eher eine Herausforderung als die Vereinsamung“, sagt Rosemarie Kaiser, die gerne zum Ort der Stille kommt. „Sobald man seine Wohnung verlässt, trifft man hier eigentlich immer jemandem zum Quatschen.“ Da könne schon der Gang zur Mülltonne ein soziales Event werden. Rosemarie aber ist froh über den Austausch und die nachbarschaftliche Fürsorge. Also kürzlich ein Familienvater schwer erkrankte, haben die Bewohner:innen Mutter und Kinder wochenlang mit Essen versorgt. Nur bei körperlicher Pflege seien Grenzen erreicht, sagt Rosemarie, die selbst hofft, bis ins hohe Alter hier gut wohnen zu können.
Das Gebäude:
Inklusiv und barrierefrei wohnen
Bernd Jutzi wohnt gleich nebenan in einer der Erdgeschosswohnungen. Wenn der 59-Jährige redet, legt er seinen Kopf ein Stück in den Nacken, so als würden die Worte leichter aus seinem Mund fallen. 13 Jahre ist es jetzt her, dass ein Schlaganfall den Körper teilweise lähmte und sein früheres Leben von heute auf morgen umkrempelte.
In einem Einfamilienhaus lebte der gelernte Polizist mit seiner Frau, auf einen gemeinsamen Lebensabend hatten sie sich gefreut. Doch Bernds Krankheit machte den beiden einen Strich durch die Rechnung. Plötzlich wurde alles existenziell. Seine Frau hörte auf zu arbeiten, um sich um Bernd zu kümmern. Das Geld wurde knapp. Sie entschieden Haus und Hof zu verkaufen und zogen gemeinsam in die Ro70: eine kleine helle Wohnung im Erdgeschoss, barrierefrei, mit Mini-Terrasse.
Das Leben in der Gemeinschaft trug beide, bis Andrea 2024 an Krebs starb. Für alle ein Schock, am meisten natürlich für Bernd. Heute sitzt der lebenslustige Mann in seiner eigenen Wohnung und ist stolz auf sein kleines Reich. „Ich hab‘ das einzige Bad mit Licht“, sagt er und lacht auf eine Art, die mitreißt. In den anderen Wohnungen würden die Bäder innen liegen, quasi in den früheren, breiten Fluren des ehemaligen Klinikkomplexes. Nach Andreas Tod musste sich Bernd aufrappeln, das war eine harte Zeit. Er ist aber auch selbstständiger geworden. „Ich gehe gerne zum Mittagessen“, sagt er. Manchmal kocht er sogar für die anderen, die ihm wiederum mit dem Einkauf aushelfen. Wenn er ganz dringend etwas braucht, geht er runter in den Eike, den Einkaufskeller.
Dort gibt es Grundnahrungsmittel wie Haferflocken, Eier und Nudeln – alles zum Einkaufspreis.
Über ihm gibt es eine weitere Wohngemeinschaft des Lebenshilfewerks Weimar-Apolda e.V., zehn Menschen mit Beeinträchtigungen, die „Sonnenblumen“, leben dort. Bernd kann alleine hier unten wohnen und von seiner Terrasse aus den Kindern beim Spielen zusehen.
Ein Paradies für Kinder und Eltern
Gerade ist Daniel Jörg mit seinen zwei Töchtern im Hof. Heute ist nicht viel los, eher ungewöhnlich für die kinderreiche Gemeinschaft. Jörgs Töchter rennen vom Sandkasten rüber zu den Schaukeln. „Für Kinder kann man sich keinen besseren Ort vorstellen, für Eltern eigentlich auch nicht“, sagt Daniel Jörg, der 2018 mit seiner Frau hierher zog, als sie noch keine Kinder hatten.
Seine jüngste Tochter, wurde gerade in der Kita eingewöhnt, sie chille gerne in der Hängematte, wenn sie nach Hause kommt. „Ich habe mir erhofft, dass hier sowas wie ein Zuhause entsteht“, erinnert sich der 44-Jährige an die Entscheidung, in die Ro70 zu ziehen. Der gelernte Koch, der als politischer Bildner im thüringischen Landtag arbeitet, wuchs auf einem kleinen Dorf auf, in dem er sich als Kind immer frei bewegen konnte. Hier sei alles noch besser. Kein Verkehr, viele Spielgeräte und Anwohner:innen, die achtgeben.
Wie lang darf der Rasen sein?
Konflikte gebe es trotzdem. Einmal gab es Streit über den Rasen. Die einen wollten ihn kurz und gepflegt, die anderen lang und wild für die Insekten. „Vielleicht kann man da schon erahnen, wie mühsam es sein kann, so ein riesiges Areal als Gruppe zu gestalten“, sagt Daniel Jörg, der sich ehrenamtlich als Vorstandsmitglied mit um die Finanzen kümmert. Heute werden einige Rasenflächen höher stehen gelassen, andere werden kurz geschnitten.
Ob er schon mal darüber nachgedacht hat, wieder rauszugehen? „Klar“, sagt er und nickt. Nicht nur einmal. Aber dann seien die Abwägungen gekommen, die Vorteile, die es gibt und das Verzeihen, das man übt: „Hier lernt man Toleranz“, sagt Daniel Jörg und wirft seine kleine Tochter hoch in die Luft. Sie jauchzt. Dann gehen sie in ihre Wohnung, es ist Abendbrotzeit.
Rosemarie steht noch kurz an ihrem Beet und guckt nach den Kräutern, dann muss sie los, Besorgungen machen. Zum Abschied winkt sie Bernd auf seiner Terrasse. Er zieht sie Tür hinter sich zu – sein eigenes kleines Reich, wohl wissend, dass da draußen andere auf ihn warten.
Weitere Informationen zum genossenschaftlichen Wohnen
https://www.ro70-weimar.de/
https://transitionweimar.wordpress.com/
https://www.syndikat.org/
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