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Ein Ort, wo man verstanden wird

Am Berliner Südkreuz ist ein Zuhause für queere Menschen entstanden – der „Lebensort Vielfalt“

Wohnen | 4. Juni 2025 | Reportage von Hanna Fath | Alle Fotos von Karolin Klüppel | Lesezeit: 9 Minuten

In der Schöneberger Linse, dem augenförmigen Areal zwischen Sachsendamm und der Berliner Ringbahn, ist ein neues Stadtquartier entstanden. Hier, wo ganz in der Nähe einmal Hildegard Knef und Marlene Dietrich wohnten, findet man jetzt den „Lebensort Vielfalt“, einen hellen, siebenstöckigen Bau mit vielen Regenbogenfahnen an den Balkongeländern. Im begrünten Innenhof um einen Tisch herum sitzen Annet, Manfred, Elke, Mona Lisa und Monika, die hier vor zwei Jahren ihr neues Zuhause gefunden haben.

„Altern ist ein Abenteuer“, sagt Monika, nachdem sie von ihrer Eigenbedarfskündigung, dem Zusammenziehen mit Elke, den Turbulenzen der letzten Jahre erzählt hat. Monika trägt ihr Herz auf der Zunge und hat immer einen Spruch parat. „Das Dessert ihres Lebens“ sei die Wohnung im Lebensort Vielfalt für sie. Neben ihr sitzt Mona Lisa und erzählt von queerfeindlicher Diskriminierung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft in der alten Wohnung.

Sie wusste dann: „Ich muss hier weg“. Annet nennt diese Erfahrungen „Narben auf der Seele“ und auch Monika erinnert sich, wie sie zu ihrer Frau Elke sagte: „Wir müssen uns etwas suchen, wo wir verstanden werden.“ Eine Erwartung, die hier wohl alle mit dem Einzug verbunden haben.

Marcel de Groot ist der Geschäftsführer der Schwulenberatung Berlin und erklärt den Gedanken hinter dem Wohnkonzept: „Es spielt eine Rolle, ob man LSBTI* ist oder nicht. Wir brauchen Räume, die wir unsere eigenen nennen können. Es geht darum, sich nicht erklären zu müssen.“ Egal, ob über die geteilten Erfahrungen gesprochen wird oder nicht – eine Verbundenheit ist immer da: „Wir sprechen die Sprache des Herzens“, ergänzt Annet und grinst.

Freundschaften schließen und füreinander da sein

Was wird einmal aus mir, wenn ich alt und pflegebedürftig bin? Wie geht es dann weiter? Diese Fragen trieben Manfred um, als seine Mutter an Demenz erkrankte. Er wohnte zu dieser Zeit allein in einer Wohnung und machte sich viele Gedanken: Würde es jemand mitbekommen, wenn es ihm schlechter geht? Dass er die Zusage für die Wohnung im Lebensort Vielfalt bekommen hat, ist für ihn „ein einziger Traum“. Hier hat er viele Freundschaften geschlossen, er schätzt es, dass sich die Bewohner:innen helfen und gegenseitig füreinander da sind. Nächstes Wochenende zum Beispiel füttert Manfred die Katzen des queeren Paars aus der Wohnung gegenüber, das mit seinen Kindern unterwegs ist.

Manfred ist bei den gemeinsamen Aktivitäten der Bewohner:innen gerne dabei – und sollte er tatsächlich einmal auf Pflege angewiesen sein, kann er im Lebensort Vielfalt wohnen bleiben. Alle Wohnungen sind barrierefrei angelegt und es gibt eine Pflege-WG, die von einem ambulanten Pflegedienst und dem Team der Fachstelle LSBTI* Alter und Pflege betreut wird. Marcel de Groot: „Hier leben Leute zusammen, die aufgrund der Biografie oft wenig Kontakt mit der Herkunftsfamilie haben, wir wollen eine Art Ersatzfamilie schaffen.“

1200 Personen auf der Warteliste

Für alle, die hier am Gartentisch zusammensitzen, ist die Wohnung im Lebensort Vielfalt so etwas wie ein Lottogewinn. Manfred stand zehn Jahre auf der Warteliste, Monika konnte es zuerst überhaupt nicht glauben, als die Zusage kam. Nach einem Anruf, um sich zu vergewissern, dass sie einziehen konnten, ließ sie mit ihrer Frau einen Sektkorken knallen. Die Wohnungen sind begehrt, aktuell stehen rund 1200 Personen auf der Warteliste.

Dass es nicht nur unter queeren Menschen viel Bedarf nach gemeinschaftlichem Wohnen gibt, weiß auch Sabine Sternberg. Die Stadtplanerin berät in der Netzwerkagentur GenerationenWohnen im Auftrag der Senatsverwaltung seit 2008 rund um gemeinschaftliches Bauen und Wohnen in Berlin. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Erstberatung von Einzelinteressierten, aber auch bei der Begleitung von Baugruppen. Außerdem vernetzt Sabine Sternberg Interessierte mit den Akteur:innen, die es braucht um ein Wohnprojekt umzusetzen – Wohnungsbauunternehmen, Banken, Verantwortliche aus Politik und Verwaltung.

„Wir versuchen auch, Einfluss und Wissen in die Förder- und Finanzierungslandschaft zu tragen und vermitteln die Bedarfe und Anliegen aus der Szene an die Projektpartner.“ Ihr Team organisiert zudem so genannte Wohntische, offene Treffpunkte in den Quartieren, zu denen Menschen kommen, die sich gemeinschaftliches Wohnen wünschen. „Es sind oft junge Menschen, die gerne selber bauen möchten und gute räumliche Lösungen für sich suchen. Die gerade nach Corona im Alltag näher mit ihren Freund:innen zusammenrücken wollen und deshalb nach gemeinschaftlichen Formen des Wohnens suchen.“ Aber auch Ältere kommen zu den Wohntischen und Beratungsangeboten, also die Generation, die schon gemeinschaftswohnerfahren ist, die Pioniere aus den 1960er, 70er und 80er Jahren.

„Das Projekt lebt von den Leuten, wir bieten die Struktur“

Montags heißt es „Anders Altern“ im Lebensort Vielfalt, ein Austausch-Café für schwule Männer, erzählt Manfred. Im Gemeinschaftsraum und im Garten des Hauses werden Geburtstage gefeiert, Film- und Spieleabende veranstaltet. Und einen regelmäßigen TIN*-Kochabend gibt es auch. Was das nochmal sei – hakt Monika nach. TIN* stehe für trans, inter und nonbinär, erklärt Annet. Für Menschen, deren Geschlechtsidentität sich nicht in die binäre Geschlechterordnung einfügt. Manche Abkürzungen oder Pronomen sind den Älteren in der Runde neu. Da ist Annet zur Stelle und vermittelt gerne zwischen den Bewohner:innen der unterschiedlichen Generationen im Haus. „Wir geben uns Mühe und machen unsere Hausaufgaben!“ scherzt Monika. Marcel de Groot: „Das Projekt lebt von den Leuten, die hier leben, wir bieten die Struktur.“ 

Annet ist im September 2023 eingezogen und „Generation Boomer“, wie sie sich selbst vorstellt. „Ich fühle mich hier sauwohl.“ Sie ist Berlinerin mit Herz und Schnauze und in Tempelhof aufgewachsen.

An ihrer Wohnungstür klebt ein Sticker, #Krawalllesbe. Annet geht gerne auf Demos, ist gut vernetzt in der Berliner queeren Szene. Ihre Wohnung ist spartanisch eingerichtet, aber mit allem ausgestattet, was sie braucht. Stolz führt Annet die flexible Verglasung vor, die den Balkon auf Wunsch in einen Wintergarten verwandelt. Die Glasscheiben brechen das Licht genau so, dass ein Regenbogen mitten auf den Fußboden in Annets Wohnung fällt. „Ich möchte mit Vielfalt leben und mit Vielfalt gehen.“ Wenn sie einmal sterbe, soll hier ein großer CSD gefeiert werden, so stellt sie sich das vor.

Mit Anfang 80 eine gemeinsame Wohnung

„Der Balkon mit der Regenbogenfahne ist unserer!“ sagt Elke und zeigt auf eine Wohnung im dritten Stock des Gebäudes. Elke und Monika sind seit fast 30 Jahren ein Paar, aber hier im Lebensort teilen sie sich zum ersten Mal eine gemeinsame Wohnung. Mit Anfang 80 zwei Haushalte, zwei Leben zusammenlegen: „Eine architektonische Doktorarbeit und eine seelische Meisterleistung“ nennt es Monika. Doch in der Zwei-Zimmer-Wohnung ist genug Platz, für Fotos und Erinnerungen, für Elkes DDR-Inventar und Monikas schwäbische Möbel, wie sie mit Blick in das gemütliche Wohnzimmer erklärt. Da sind Fotos von Monika beim Theater spielen und von Elke, die als Jugendliche Ballett tanzte, bunte, selbstgemalte Bilder und Gedichte, die Elke geschrieben hat.

Die beiden Frauen blicken auf ein bewegtes Leben zurück, in den vergangenen Jahren auch belastet von Krankheiten und Gebrechen. Umso glücklicher sind sie, hier in Schöneberg ein gemeinsames Zuhause gefunden zu haben. „Ich fühle mich hier sehr wohl“, schwärmt Elke mit versonnenem Lächeln. Langweilig wird es den beiden nicht, dazu sind sie viel zu gerne unter Leuten. Mit leuchtenden Augen erinnern sich beide an ein ganz besonderes Fest hier in ihrem neuen Zuhause: Die Theologin Mona Lisa, die direkt nebenan wohnt, segnete die Ehe der beiden Frauen, die zuvor schon standesamtlich verpartnert und verheiratet waren. „Da hat der liebe Gott doch nichts dagegen“, ist sich Monika sicher. Es wurde eine große Feier, mit Weihrauch, Glockenläuten und 50 Gästen.

Planung, Bau und Hausverwaltung in einer Hand

Die Schwulenberatung Berlin verantwortete nicht nur Planung und Bau des siebenstöckigen Hauses, sondern kümmert sich auch jetzt um die Hausverwaltung. Und die geht Hand in Hand mit der Sozialberatung der Schwulenberatung. „Wenn jemand die Miete nicht zahlen kann, fragen die Fachkräfte der Schwulenberatung nach und unterstützen“, erklärt Marcel de Groot.

Der Lebensort Vielfalt am Südkreuz ist zugleich neuer Hauptsitz der Schwulenberatung Berlin. In den Beratungs- und Büroräumen arbeiten pädagogische Fachkräfte, die Verwaltung und die Geschäftsführung.

Wie wertvoll das ist, wenn Planung, Bau, Vergabe der Wohnungen und Verwaltung in einer Hand liegen, weiß auch Stadtplanerin Sabine Sternberg. Mit einigen Berliner Wohnungsunternehmen bestünden gute Kooperationen, andere zögerten – „aus Angst einen hohen Aufwand betreiben zu müssen mit den Wohngruppen“, vermutet Sternberg. Sie ist jedoch überzeugt, dieser Mehraufwand zu Beginn lohne sich. „Für eine soziale Nachbarschaft von Anfang an und Menschen, die sich kümmern.“

 

Nach vielen Jahren Beratungstätigkeit weiß Sternberg auch um die Hürden auf dem Weg zum gemeinschaftlichen Wohnen. So sei zum Beispiel der Bedarf von Alleinerziehenden, von Ein-Eltern-Familien nach Gemeinschaftswohnen groß. Aber hier fehle es oft an den zeitlichen Ressourcen, einen langwierigen Planungsprozess zu stemmen sowie an den finanziellen Mitteln, sich an einer Genossenschaft zu beteiligen. Hier mangele es auch in Berlin an intensiverer Beratung und Begleitung.

Marcel de Groot nennt das, was hier am Südkreuz in den vergangenen Jahren entstanden ist, „ein Versprechen an eine Gesellschaft, in der alle die Möglichkeit haben, sich zu entfalten und sicher zu fühlen“. Und da will der Lebensort Vielfalt auch Leuchtturm sein. De Groot: „Da das nicht mal in Berlin selbstverständlich ist, sind wir auch Vorbild und inspirieren Menschen in anderen Städten dazu, für ihre Rechte einzutreten und vergleichbare Projekte umzusetzen.“

 

Lebensort Vielfalt

Die Bezirksverwaltung Tempelhof-Schöneberg hatte die Fläche am Südkreuz für einen LSBTI*-Träger vorgesehen mit Blick auf eine bessere Versorgung der Zielgruppe. Den Zuschlag für die Realisation des Projekts erhielt die Schwulenberatung Berlin. Diese hatte zwei ähnliche Lebensort-Wohnformen bereits am Ostkreuz und in Charlottenburg realisiert. Der Bau in Schöneberg dauerte von 2020 bis 2023 und kostete insgesamt 21 Millionen Euro.

Von den 69 Wohnungen haben 32 eine geringere Miete und sind für Menschen mit Wohnberechtigungsschein geeignet. Die Wohnungen sind zwischen 30 und 104 Quadratmeter groß, haben ein bis vier Zimmer und verfügen jeweils über einen Balkon. Die Vergabe der Wohnungen erfolgt bevorzugt an schwule, lesbische, sowie trans* und inter Menschen. Eine Balance von Alt und Jung, Menschen mit und ohne Kinder sowie Familien wird angestrebt. Es gibt eine Pflege-WG und eine therapeutische Wohngemeinschaft, in der Menschen lernen, ein eigenständiges Leben zu führen.

Das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt® ist ein bundesweites Qualifizierungsprogramm für stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste, Tagespflegestätten, Hospize und Krankenhäuser, die in struktureller, organisationspolitischer und personeller Hinsicht Voraussetzungen für LSBTI*-sensible und (post-)migrationssensible Settings schaffen wollen.

 

 

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