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Leben im Umbruch: LGBTIQ+-Migration in Kolumbien

Beim Globalen Forum für Migration und Entwicklung dürfen die Stimmen von LGBTIQ+-Personen nicht fehlen: Zwischen Angst, Ausgrenzung und neuen Formen der Zugehörigkeit

 

Kolumbien, ein ambivalentes Ziel

Kolumbien hat sich zu einem wichtigen Ziel für Menschen entwickelt, die aufgrund der schwierigen Lage in Venezuela fliehen. Von den 7,7 Millionen Menschen, die das Land verlassen haben, sind über 2,8 Millionen in Kolumbien geblieben. Unter ihnen sind zahlreiche LGBTIQ+-Personen, die eine doppelte Vulnerabilität erleben – sowohl aufgrund ihrer Nationalität als auch wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität.

Die bislang noch unveröffentlichte Studie “Living on the Threshold: LGBTIQ+ Migration in Colombian Cities” von Caribe Afirmativo untersucht die Situation venezolanischer LGBTIQ+-Migrant_innen in vier kolumbianischen Städten (Medellín, Barranquilla, Cartagena und Valledupar). Die Studie, die in Kürze auf der Seite der Organisation zu finden sein wird, gibt Aufschluss darüber, wie diese Menschen in städtischen Räumen, die von Ungleichheit geprägt sind, leben.

 

Eine Perspektive der Ausgeschlossenen

Die qualitative Studie, die 2023–2024 durchgeführt wurde, basiert auf Interviews, Stadterkundungen und kollektiven Gesprächskreisen. Die gewählte Methodik räumt den Stimmen der Betroffenen oberste Priorität ein und würdigt ihre Erfahrungen und ihr Wissen.

Die im Dialog gesammelten Aussagen zeigen, dass die Betroffenen nicht nur mit Hürden beim Zugang zu Arbeit, Wohnraum und Gesundheitsversorgung konfrontiert sind, sondern auch in öffentlichen Räumen stigmatisiert, überwacht oder symbolisch ausgegrenzt werden.

 

Vier Städte, ein gemeinsamer Kampf um sichtbare Existenz

Medellín ist eine moderne 2,5-Millionen-Metropole, die jedoch durch Diskriminierung, vor allem gegenüber trans Frauen mit Migrationshintergrund, geprägt ist. Barranquilla ist eine 1,2 Millionen-Stadt, in der LGBTIQ+-Migrant_innen sowohl Schutz als auch starke Stigmatisierung erfahren. Cartagena, eine historische Touristenstadt, bietet Migrant_innen wenig Zugang zu grundlegender Infrastruktur. Valledupar, eine kleinere Stadt, in der religiöser und familiärer Druck viele LGBTIQ+-Personen in die Unsichtbarkeit zwingt.

Die Städte weisen unterschiedliche Profile auf, dennoch wiederholen sich die gleichen Muster der Ausgrenzung. Gleichzeitig entwickeln die Betroffenen mutige und kreative Anpassungs- und Überlebensstrategien: Sie bilden diverse Wohngemeinschaften, gründen Peer-Support-Netzwerke oder wagen sich mit eigenen Kleinunternehmen an die Öffentlichkeit. Auch die Organisation in virtuellen Selbsthilfegruppen ist eine Möglichkeit.

 

Integration neu denken

Migration bedeutet nicht nur das Fliehen vor politischer Repression oder materieller Not, sondern auch vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität. Die Integration in der neuen Stadt, dem neuen Land, bleibt dabei eine tägliche Herausforderung. Eine besondere Schwierigkeit ist dies, wenn sie die etablierten Geschlechterrollen oder die Sexualvorstellungen der sie aufnehmenden Länder überschreiten.

Die Untersuchung verdeutlicht, dass Integration weit mehr bedeutet als die oftmals vermutete, materielle Grundsicherung durch Unterkunft oder Arbeit. Vielmehr gehören auch Freiheit zur Selbstentfaltung, das Gefühl der Zugehörigkeit und die Möglichkeit, ohne permanente Angst zu leben, unmittelbar dazu.

LGBTIQ+-Migrant_innen streben nach mehr als nur existenzieller Sicherheit. Sie fordern ihr „Recht auf Stadt“ und möchten sich im öffentlichen Raum frei bewegen und lieben können, ohne gesellschaftliche Verurteilung.

 

Handlungsempfehlungen für nachhaltigen Fortschritt

Caribe Afirmativo schlägt Maßnahmen vor, die eine nachhaltige Integration ermöglichen:

  • Inklusive Politikgestaltung: Die spezifischen Bedürfnisse von LGBTIQ+-Migrant_innen müssen anerkannt und diskriminierungsfreie Gesundheits-, Bildungs- und Schutzdienstleistungen gewährleistet werden.
  • Sensibilisierung der Behörden: Fortbildungen für Beamte in Zusammenarbeit mit LGBTIQ+-Organisationen sind notwendig, um institutionelle Diskriminierung zu verhindern.
  • Förderung selbstorganisierter Strukturen: Unterstützen von Netzwerken in Stadtvierteln, die Migrant_innen aus Venezuela beheimaten.
  • Beteiligung an Entscheidungsprozessen: LGBTIQ+-Migrant_innen müssen in politische Entscheidungen eingebunden werden, um ihre Rechte in Bereichen wie Migration und Stadtentwicklung durchzusetzen.

 

Gesehen werden als Akt des Widerstands

Die Untersuchung von Caribe Afirmativo zeigt den Mut und den Erfindungsreichtum der aus Venezuela migrierenden Menschen.

Unter schwierigen Umständen gelingt es ihnen, neue Lebensentwürfe und Gemeinschaftsformen in ihrer neuen Heimat Kolumbien zu etablieren. Sie reklamieren ihr Recht auf Sichtbarkeit, Identität und Zugehörigkeit. Für viele von ihnen, ist „Gesehen werden" zu einem täglichen Akt der Freiheit aber auch des Widerstands in einer Welt geworden, die ihnen weiterhin Grenzen aufzuzeigen versucht – sowohl physische als auch symbolische.

 

Globales Forum für Migration und Entwicklung

Das GFMD ist ein informeller, staatlich geführter und nicht bindender Prozess außerhalb des UN-Systems, der 2006 von Kofi Annan initiiert wurde. Es fördert Migration und Entwicklung durch Dialog, strukturiert internationale Prioritäten und ermöglicht den Austausch bewährter Praktiken. Zivilgesellschaftliche Organisationen werden aktiv eingebunden, koordiniert durch den Civil Society Mechanism (CSM).


Über Caribe Afirmativo

Caribe Afirmativo ist eine NGO, die sich für die Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Kolumbien einsetzt.

 

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Redaktion

Salome Lienert
+41 22 733-3450
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