Die FES wird 100! Mehr erfahren

Familismus

Was bedeutet Familismus?

Die Familie als ideologisierter Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Ordnung — so lässt sich der Begriff Familismus erklären. Die Sozialwissenschaftlerin und Historikerin Gisela Notz hat ihn 2015 maßgeblich geprägt, indem sie nachweist, wie das konservative Familienverständnis „Vater-Mutter-Kind“ der 1950er und 60er-Jahre bis heute als Ideal fortwirkt — in staatlichen Konzepten der Gesetzgebung und in seiner Idealisierung durch Medienprodukte aller Art. Der Familismus bezeichne die weitgehende Identität von Familie und Gesellschaft. Das System aller Familien bilde das Gemeinwesen. Gisela Notz: „Familismus ist nicht nur ein soziologischer Begriff oder ein Konzept, sondern vor allem eine Ideologie, die die bürgerliche Kleinfamilie als naturgegebene ‚Leitform‘ einer Sozialstruktur bezeichnet.“

 

Art. 6 Grundgesetz bestimmt, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen. Entsprechend erfolgt die gesetzliche Ausgestaltung des Sozialstaates: nach wie vor gilt das Ideal der Kleinfamilie. Selbst in Regenbogenfamilien wird vielfach nach dem Modell der Kleinfamilie gelebt. Die bundesdeutsche Gesellschaft setzt biologische Verwandtschaft in Form von Familie als soziale Institution systematisch voraus. Gisela Notz merkt an, der Familismus suggeriere, dass „alle Menschen Teil einer familialen Ordnung sein wollen, deren Aufrechterhaltung den Menschen als Individuum nicht benötigt, weil es in der Familie aufgeht”.

 

Staatliche Familienpolitik fördert die traditionelle Kleinfamilie, in der Kinder erzogen und pflegebedürftige Angehörige versorgt werden sollen. Die Geburt des ersten Kindes verstärkt selbst bei Paaren, die eine egalitäre Aufgabenverteilung anstreben, eine traditionelle Aufteilung der familiären Pflichten und stärkt mithin überkommen geglaubte Geschlechterrollen. Zwar ist das früher in Westdeutschland weit verbreitete Modell des männlichen Alleinverdieners durch das Doppelverdienerideal abgelöst. Doch die ungleiche Verteilung von Carearbeit lässt Frauen in die Teilzeitfalle tappen. Familienleben steht für sie vielfach unter der Mühsal des Mental Load.

 

Gisela Notz hält den familiären Bereich als Quelle für soziale Kontakte für überbewertet. Bei aller Idealisierung der Familie ist festzustellen, dass es vielen Menschen längst nicht mehr gelingt, dieses Ideal zu erfüllen. Fast dreiviertel aller Haushalte besteht heute aus ein bis zwei Personen. Die Zahl der Alleinerziehenden steigt kontinuierlich an. Insbesondere alte Menschen leben vielfach allein, entfremdet von ihrer Kernfamilie.

 

Mit dem Erstarken des Rechtspopulismus in Europa geht eine Bewegung für konservative Familienwerte einher — gegen Toleranz und Vielfalt und gegen eine progressive Geschlechterpolitik. Der Soziologe Andreas Kemper merkt an, dass eine ideologische Verengung des Familienbegriffs, etwa als „Keimzelle der Nation“, oft dazu führe, dass andere geschlechter- und gleichstellungspolitische Politiken zurückgestellt werden.

 


Quellen



Weitere Beiträge zum Thema Gender und Geschlechtergerechtigkeit:

Gender Weltweit

Saalitai Enger: Der Mantel der mongolischen Hirtin

Jargal Avirmed, eine mongolische Hirtin trägt einen traditionellen „Saalitai Enger"-Mantel und posiert in der Steppe vor einer Herde Yaks in die Kamera

Folge dem Duft der Milch und lerne das harte Leben Jargal Avirmeds, einer Hirtin im Altai-Gebirge kennen. Denn Hirtinnen nehmen in der mongolischen…


weitere Informationen

Gender Weltweit | Gewerkschaften international

Für mehr Geschlechtergerechtigkeit: Gewerkschaften als treibende Kräfte des Wandels stärken

Symbolhafte Figuren in der Seitenansicht in bunten Farben. Männer und Frauen gemischt in verschiedenen Berufskleidungen

Gewerkschaften sind treibende Kräfte des gesellschaftlichen Wandels. Wandel kann aber nur dann nachhaltig gelingen, wenn er geschlechtergerecht ist.…


weitere Informationen

Gender | Kulturpolitik | Publikation

FES impuls | Gute Arbeitsbedingungen am Theater – auch für Familien?

Cigdem Teke, Christiane Paul und Edgar Eckert bei der Fotoprobe zum Theaterstück 'Prozess' im Maxim Gorki Theater. Berlin, 19.09.2024

Wie können gute und für Mensch und Umwelt nachhaltige Arbeitsbedingungen am Theater aussehen?


weitere Informationen

Gender | Gender Weltweit | Frieden und Sicherheit

Deutsche Außenpolitik im Kontext von Gaza: Widersprüche der deutschen feministischen Außenpolitik und Perspektiven menschlicher Sicherheit

Angeschnittener blauer Kreis als Rahmen unm den Titel der Publikation

Die Autorinnen Barbara Mittelhammer, Leonie Stamm und Lydia Both analysieren die Ansprüche und Widersprüche deutscher Außenpolitik im Kontext…


weitere Informationen

Gender | Gender und Vielfalt | Geschlechterpolitik | Denkanstoß Geschichte

Neues aus der Erschließung: Der Teilnachlass Elfriede Eilers

Die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) Elfriede Eilers bei der Bundesfrauenkonferenz der SPD in Bremen am 30.11.1974. Rechte: J.H. Darchinger / FES [6/FOTA046175].

Das AdsD hat kürzlich den Teilnachlass Elfriede Eilers erschlossen. Aus diesem Anlass widmen wir uns in unserem aktuellen Blogbeitrag der…


weitere Informationen
nach oben