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„Nicht viel dabei“ – Die Verharmlosung von Gewalt am Arbeitsplatz Privathaushalt im 19. und 20. Jahrhundert

Mareike Witkowski

Übergriffe gegen Hausangestellte gehörten lange zum Alltag. Verbale und körperliche Gewalt galten häufig als legitim, sexualisierte Übergriffe blieben oft folgenlos. Strukturelle Ungleichheit machte Gegenwehr nahezu unmöglich.

Gemälde mit einem Mann zu Pferd und einem darunter stehenden Dienstmädchen auf der Straße
Urheber: Düsseldorfer Auktionshaus / Gemeinfrei

Es sei „doch nicht so viel dabei“, wenn man einem „Dienstmädchen“ zu nahe käme, so lautete die Aussage eines Angeklagten vor Gericht im Jahr 1928. Ihm wurde vorgeworfen, sich seiner Angestellten sexuell übergriffig genähert zu haben. Diese hatte nach wiederholten Belästigungen den Dienst verlassen und klagte den ihr noch zustehenden Lohn ein. Der Arbeitgeber musste diesen auszahlen, weitergehende Konsequenzen hatte sein Verhalten jedoch nicht. Sein Benehmen gegenüber der Hausangestellten hielt er für legitim, gegenüber bürgerlichen Frauen hingegen, das lassen seine Bemerkungen erkennen, galt für ihn offenbar ein anderer moralischer Maßstab. Der vor Gericht verhandelte Fall zeigt exemplarisch die strukturellen Ungleichheiten und damit auch die strukturelle Gewalt, denen Hausangestellte unterlagen.

Strukturelle Verwundbarkeit: Hausgehilfinnen als besonders gefährdete Berufsgruppe

Die Berufsgruppe der Dienstmädchen bzw. Hausangestellten war durch vier Merkmale gekennzeichnet, die sie in besonderem Maße für Gewalterfahrungen anfällig machten:

1) Die Arbeit als Hausgehilfin war ein typischer Frauenberuf. Noch bis in die 1960er Jahre zählten die im Privathaushalt Tätigen zur zahlenmäßig größten weiblichen Berufsgruppe.

2) Hausgehilfinnen lebten bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts meist im Haushalt ihrer Arbeitgeber:innen und hatten dort häufig keinen geschützten Rückzugsraum. Viele waren in kleinen, nicht abschließbaren Kammern untergebracht, oft räumlich isoliert von anderen Hausbewohner:innen.

3) In den meisten Haushalten waren die Hausgehilfinnen als sogenannte „Alleinmädchen“ oder „Mädchen für alles“ angestellt, was bedeutete, dass ihnen alle Aufgaben allein oblagen und sie keine Kolleginnen zum Austausch hatten. Besonders junge Frauen aus ländlichen Regionen, die sich in einer fremden Stadt befanden, erlebten eine große soziale Isolation und verfügten häufig nur über die Arbeitgeberin als Ansprechpartnerin, welche bei Übergriffen durch den Hausherren oder dessen Sohn als Vertrauensperson entfiel.

4) Kaum eine andere Arbeit lässt sich so eindeutig als Jugend- und Durchgangstätigkeit charakterisieren wie die der Hausgehilfinnen. Die Beschäftigung war meist eine Zwischenstation auf dem Weg zu einer anderen beruflichen Tätigkeit oder zum Führen des eigenen Haushalts.

Rechtlicher Rahmen: Die Gesindeordnungen und ihre Nachwirkungen

Bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1918 regelten Gesindeordnungen das Dienstverhältnis von Hausangestellten. Diese benachteiligten die Dienstmädchen gegenüber anderen Berufsgruppen, insbesondere durch den eingeschränkten Rechtsschutz bei körperlicher und verbaler Gewalt durch Arbeitgeber:innen. So war beispielsweise in Preußen „geringe Gewaltanwendung“ zulässig, wenn dieser ein „ungebührliches Verhalten“ der Angestellten vorausgegangen war.

Hausgehilfinnen durften ihren Dienst nur dann ohne Einhaltung der Zieh- bzw. Kündigungsfristen verlassen, wenn sie um ihre Gesundheit oder ihr Leben fürchten mussten. Die Gesindeordnungen spiegelten ein autoritäres Rollenverständnis wider, das die Dienstherrschaft als erzieherische Instanz nach dem Vorbild elterlicher Autorität etablierte. Trotz der formellen Aufhebung der Gesindeordnungen 1918 blieben viele strukturelle Ungleichheiten bestehen, da das Bürgerliche Gesetzbuch keine angemessenen arbeitsrechtlichen Regelungen für Hausangestellte enthielt.

Gewalt und Rechtsprechung im Kontext häuslicher Beschäftigungsverhältnisse

Das Ausmaß verbaler und körperlicher Gewalt gegen Hausangestellte im frühen 20. Jahrhundert ist mangels quantitativer Daten schwer zu erfassen, doch zahlreiche Berichte, insbesondere aus der sozialdemokratischen Presse, deuten auf eine weitverbreitete Praxis hin. Während verbale Gewalt in den Quellen oft keine Erwähnung findet, wird sie in Gerichtsprozessen häufig als Vorstufe körperlicher Übergriffe sichtbar. Juristisch fanden verbale Übergriffe selten Beachtung, körperliche Angriffe wurden meist nur bei gravierenden Folgen sanktioniert.

Das Machtgefälle zwischen Dienstherrschaft und Hausgehilfin blieb auch vor Gericht bestehen. „Leichte“ Gewaltformen wie Ohrfeigen wurden oft als erzieherische Maßnahme legitimiert, insbesondere unter Berufung auf die früheren Gesindeordnungen, deren Geist trotz der Abschaffung 1918 weiterwirkte. In den meisten Fällen standen die Arbeitgeber:innen nicht wegen der Übergriffe vor Gericht, sondern weil die Hausgehilfinnen ihren ausstehenden Lohn einklagen wollten. In vielen Urteilen wurde das Verhalten der Angestellten, beispielsweise eine schnippische Antwort oder das Nichtbeachten von Befehlen, als Provokation gedeutet, während Übergriffe von Arbeitgeber:innen bagatellisiert wurden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen sich Hinweise auf einen allmählichen Wandel im Umgang mit Gewalt gegenüber Hausgehilfinnen. Zwar war dies gesetzlich bereits seit 1918 reichsweit untersagt, doch fand das Verbot nur allmählich Eingang in die tatsächliche Arbeitsrealität. Zwar fehlen belastbare Statistiken, doch deuten zeitgenössische Quellen, etwa Schulaufsätze aus den 1950er Jahren, auf eine zunehmende gesellschaftliche Ablehnung körperlicher Gewalt hin. Während Übergriffe wie Ohrfeigen zuvor als legitimes Mittel der Disziplinierung galten, wurden sie zunehmend seltener thematisiert und offenbar weniger akzeptiert. Dies zeigt sich exemplarisch in Berichten einer Aachener Hausgehilfinnenklasse aus dem Jahr 1956: Keine Schülerin berichtete von körperlicher Gewalt, hingegen erwähnten mehrere Schülerinnen in den anonymen Beiträgen Beschimpfungen durch die Arbeitgeber:innen, die sie als belastend empfanden.

Sexualisierte Gewalt als offenes Geheimnis

Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz Privathaushalt war im 20. Jahrhundert ein verbreitetes, jedoch kaum statistisch erfasstes Phänomen. In der zeitgenössischen Presse – insbesondere der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen – wurde sexualisierte Gewalt zwar deutlich angeprangert, aber mit den zeitgenössisch verbreiteten Begriffen wie „Zudringlichkeit“ oder „nicht einwandfreies Verhalten“ des Arbeitgebers beschrieben und damit verharmlost. Vor Gericht waren die Hausgehilfinnen deutlich benachteiligt. Ihre Aussagen wurden oft gegen sie verwendet und ihre Glaubwürdigkeit wurde infrage gestellt, wie etwa im Fall von Anna M., die 1912 gegen ihren Arbeitgeber klagte. Das Gericht wertete ihre unverschlossene Tür als Indiz für Einverständnis mit den nächtlichen Übergriffen.

Gesellschaftliche Stereotype gegenüber Dienstmädchen spielten vor Gericht eine zentrale Rolle, insbesondere die Annahme, sie seien sexuell willig oder leicht verführbar. Belege hierfür finden sich nicht nur in Gerichtsfällen, sondern auch in literarischen Darstellungen und in populären Witzen wie dem folgenden: „Das Dienstmädchen ist vom Sohn des Hauses schwanger. Fragt die Gnädigste entsetzt: ,Warum haben Sie denn kein Veto eingelegt?' ‚Habe ich ja, aber das muß verrutscht sein!‘” Vor Gericht führten diese stereotypen Vorstellungen und der Klassismus dazu, dass Übergriffe auf Hausgehilfinnen als weniger schwerwiegend galten, während vergleichbare Handlungen gegenüber bürgerlichen Frauen als inakzeptabel angesehen wurden.

Fazit

Gewalt gegen Hausangestellte war im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert ein weit verbreitetes und gesellschaftlich vielfach legitimiertes Phänomen. Die strukturelle Unterlegenheit der Hausgehilfinnen – bedingt durch Geschlecht, soziale Herkunft, Isolation im Privathaushalt und prekäre Rechtslage – machte sie zu einer besonders vulnerablen Berufsgruppe. Die Tatsache, dass körperliche Züchtigungen, Beschimpfungen und auch sexualisierte Übergriffe oft als „nicht viel dabei“ abgetan wurden, verweist auf eine tief verankerte gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt, die auch vor Gericht wirksam blieb. Zwar wurden mit der Abschaffung der Gesindeordnungen 1918 die rechtlichen Rahmenbedingungen verändert, doch wirkte deren autoritärer Geist weiter – sowohl im Alltag als auch in der Rechtsprechung.

Ein tatsächlicher Wandel im Umgang mit Gewalt vollzog sich nur langsam: Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zeigten sich allmähliche Anzeichen eines gesellschaftlichen Umdenkens, etwa durch eine zunehmende Ablehnung körperlicher Züchtigung. Aufgrund seiner spezifischen Rahmenbedingungen und der hier bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse war der Privathaushalt – und ist es bis heute in Teilen – ein strukturell begünstigender Ort für Gewalt und Übergriffe gegenüber Hausangestellten.

Dr. Mareike Witkowski, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Der Beitrag basiert auf dem jüngst erschienenen Aufsatz der Autorin:

Witkowski, Mareike: »Hölle mit verteilten Rollen?« Gewalt am Arbeitsplatz Privathaushalt, in: Mareen Heying/Alexandra Jaeger/Nina Kleinöder/Sebastian Knoll-Jung/Sebastian Voigt (Hg.): Verschwiegener Alltag. Gewalt am Arbeitsplatz seit dem 19. Jahrhundert, Bonn 2025.

Weiterführende Literatur:

Eßlinger, Eva: Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex. Zur Geschichte einer irregulären Beziehung in der europäischen Literatur, München/Paderborn 2013.
Wierling, Dorothee: Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin/Bonn 1987.
Witkowski, Mareike: Arbeitsplatz Privathaushalt. Städtische Hausgehilfinnen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2023.

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