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Warum Integrationsarbeit mehr braucht als befristete Programme

Zehn Jahre Fluchtmigration: Am Beispiel Osnabrück wird deutlich, welche Strukturen tragen – und wo Kommunen weiter gefordert sind. Ein Interview mit Ralf Sabelhaus vom Referat Chancengleichheit der Stadt Osnabrück.

Wenn Sie auf die Zeit seit 2015 zurückblicken: Wie hat sich die Aufnahme und Integration von Geflüchteten in Osnabrück entwickelt?

Die Aufnahme Geflüchteter erfolgt seitens der öffentlichen Daseinsvorsorge in geordneten Bahnen. 2022, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, musste zwar viel improvisiert werden, dennoch konnten die seit 2015 aufgebauten Strukturen und Erfahrungen erheblich genutzt werden. Ehrenamtliches Engagement ist vor allem im außerschulischen Bildungsbereich nach wie vor hoch, insgesamt hat es jedoch abgenommen.
Der Fokus der Integrationsarbeit ist heute breiter: Er umfasst Geflüchtete mit Asylbewerberstatus, Geflüchtete aus der Ukraine, Fachkräfte aus Drittstaaten sowie Maßnahmen der nachholenden Integration. Besonders die Bildungslandschaft musste sich anpassen: Viele Kinder und Jugendliche, die mit ihren Müttern aus der Ukraine geflohen sind, benötigen Plätze in Kitas und Schulen – was zu Engpässen führt. Auch die örtliche Ausländerbehörde steht vor großen Herausforderungen: hohe Personalfluktuation, Fachkräftemangel und ein Mangel an geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern prägen die Situation.
 

Welche Maßnahmen, Programme oder Strukturen konnten seitdem etabliert werden, die sich aus Ihrer Sicht langfristig bewährt haben?

Besonders bewährt haben sich die möglichst dezentrale Unterbringung sowie die koordinierte Flüchtlingssozialarbeit mit freien Trägern. In der Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten war die Anpassung der Beratungsstrukturen erfolgreich; Informationen wurden übergangsweise auch mehrsprachig angeboten. Für die mehr als 2.000 Geflüchteten aus der Ukraine in Osnabrück werden zudem zielgruppenspezifische Formate wie Arbeitsmarktveranstaltungen entwickelt. Der enge Kontakt zu den Communities ermöglicht es der Verwaltung, sich nah an den tatsächlichen Bedarfen zu orientieren.
Wichtig ist auch die Sensibilisierung der kommunalen Öffentlichkeitsarbeit: Transparenz über das Verwaltungshandeln sowie Prävention stehen im Fokus, unterstützt durch Schulungen der Diversitätsbeauftragten und Beratungen des Antidiskriminierungsbüros.

Strukturell wurden seit 2015 wichtige Formate etabliert – etwa die „Koordinierungsrunde Integration“, 2022 das „Forum Ukraine“ und ein „Runder Tisch Fachkräfteeinwanderung“. Auch Vereinsstrukturen, einschließlich der Moscheegemeinden, werden aktiv unterstützt. Ein vom BAMF kofinanziertes Projekt hat die Kommunikation, digitale Angebote und Erreichbarkeit der Ausländerbehörde nachhaltig verbessert. Ergänzend wirken Einrichtungen wie die städtische Migrationssozialberatung, das Friedenskulturbüro mit interkulturellen Angeboten, die Freiwilligenagentur mit einem Fokus auf Geflüchtete und das Bildungsbüro mit Programmen im außerschulischen Bereich. Mentoringprojekte zur politischen Partizipation werden von Kommune, Migrationsbeirat und Stadtratsfraktionen initiiert.
 

Gibt es Beispiele, die inzwischen auch in anderen Kommunen in Niedersachsen aufgegriffen wurden?

Osnabrück ist für sein konzeptionelles Integrationsmanagement preisgekrönt, überregional bekannt und gut vernetzt. Eine Übersicht, welche Einzelmaßnahmen oder Modellprojekte konkret übernommen wurden, liegt jedoch nicht vor.
 

Wo sehen Sie heute noch die größten Hürden in der Integrationsarbeit auf kommunaler Ebene?

Eine der größten Hürden ist die nach wie vor mangelnde Diversitätsorientierung in der Daseinsvorsorge. Viele Institutionen tun sich schwer, sich auf heterogene Zielgruppen einzustellen. Personalauswahlprozesse folgen oft überholten Mustern, die Ansprache ist häufig unsensibel, und ganze Bevölkerungsgruppen werden in Beteiligungsverfahren kaum erreicht. Auch im Bildungsbereich bestehen Engpässe – sei es durch fehlende Plätze oder den noch unzureichenden Umgang mit Mehrsprachigkeit als Chance.
 

Haben sich die Problemfelder seit 2015 verändert, und wenn ja, in welcher Form?

Ja, die Herausforderungen haben sich deutlich gewandelt. 2015 und 2016 prägten vor allem männliche Geflüchtete im Asylbewerberstatus das Geschehen. Seit 2022 bestimmen Frauen und Kinder aus der Ukraine sowie die Bedürfnisse junger Fachkräfte ohne Kinder und ihrer Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die lokale Zuwanderung und Integrationsarbeit. Gleichzeitig kommen weiterhin Geflüchtete aus Drittstaaten. Ein konstantes Problem bleibt der allgegenwärtige Rassismus im Alltag, der zunehmend offen zutage tritt.
 

Wie bewerten Sie die „Notlage“-Diskussion zur Unterbringung Geflüchteter – und deren politische Folgen in der gegenwärtigen Asylpolitik der Bundesrepublik?

Diese Debatte birgt große Gefahr, Geflüchtete zu diskriminieren und sie für soziale Verwerfungen verantwortlich zu machen. Die Friedensstadt Osnabrück hat die aktuellen Fluchtbewegungen als Herausforderung jedoch nicht als Krise erlebt und auch nicht so bezeichnet.
 

Wie ist Osnabrück aktuell organisatorisch und strukturell aufgestellt, um auch künftig auf Flucht- und Zuwanderungsbewegungen reagieren zu können?

Die Stadt hat die Erfahrungen der letzten zehn Jahre systemisch verankert: Strukturen für Unterbringung, Versorgung und Kommunikation sind etabliert, Wissensmanagement wird aktiv betrieben. Profitieren kann Osnabrück zudem von seiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit Arbeits- und Fluchtmigration: Schon in den 1970er Jahren wurden Konzepte zur Unterbringung und sozialen Teilhabe der damals sogenannten „Gastarbeiter“ entwickelt und umgesetzt.

Allerdings sind Ressourcen und insbesondere der Wohnungsmarkt auch in Osnabrück knapp. Zudem ist Skepsis gegenüber migrationspolitischen Themen heute stärker ausgeprägt als noch vor zehn Jahren – sowohl in Politik als auch in der Gesellschaft.
 

Welche Unterstützung durch Landes- oder Bundespolitik halten Sie für notwendig, um die Integrationsarbeit auf kommunaler Ebene nachhaltig zu sichern?

Integrationsarbeit basiert vielerorts auf Projektstrukturen und wird innerhalb der Verwaltung zu selten als Querschnittsaufgabe verstanden. Bund und Länder sollten Impulse setzen, um Integrationsarbeit systematisch in kommunalen Strukturen zu verankern und dauerhaft abzusichern.
 

Worauf blicken Sie mit besonderem Stolz zurück – und was treibt Sie auch nach zehn Jahren noch an, sich für gelingende Integration einzusetzen?

Integration erfordert einen kommunalen Moderationsprozess. Dieser ist in Teilen gelungen – insbesondere dort, wo Akteure identifiziert und gewonnen werden konnten, die sich für eine lernende Organisation und eine diversitätsorientierte Stadtgesellschaft einsetzen. Dass dies in Osnabrück vielerorts erreicht wurde, darauf sind wir stolz.


Zur Person

Ralf Sabelhaus arbeitet als Sachgebietsleitung Integration im Referat Chancengleichheit der Stadt Osnabrück.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


Redaktion

Joana Marta Sommer
030 26935-8304

Referentin | Bildungspolitik, Integration und Teilhabe, Flucht und Asyl

Anni Bauschmann
0228 883-7204
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