Von Kehrmaschinen, Küchen und Kofferradios

Von Sebastian Haak

Die allermeisten DDR-Bürger waren nicht unmittelbar dabei, als Willy Brandt vor 50 Jahren in Erfurt Willi Stoph zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen seit 1949 traf. Doch manches Kofferradio tat in diesen Stunden wertvolle Dienste.

Dass Willy Brandt Weltgeschichte geschrieben hat, als er von einem Fenster des „Erfurter Hof“ herunterwinkte, das ist hinlänglich bekannt. Auch, weil jüngst die Bilder dieses historischen Ereignisses wieder und wieder überall auftauchen.

Davon, wie am 19. März 1970 geschätzt mehrere Tausend Menschen in Erfurt die Postenketten von Volkspolizei und Stasi durchbrachen, kurz nachdem der Sozialdemokrat und deutsche Bundeskanzler angekommen und vom Hauptbahnhof der damaligen Bezirksstadt in das nahegelegene Hotel gegangen war. Davon, wie aus der Menschenmenge schließlich skandiert wurde: „Willy Brandt ans Fenster! Willy Brandt ans Fenster!“ Davon, wie Brandt ihrem Wunsch schließlich nachkam und sie mit einer schüchternen Handbewegung grüßte. Schüchtern, weil – das haben Historiker immer wieder betont – Brandt seinen Gastgeber nicht düpieren wollte: den SED-Politiker Willi Stoph, seines Zeichens Vorsitzender des Ministerrats der DDR.

Doch davon, dass der Besuch Brandts in Erfurt auch die Umzugspläne der Schwiegermutter von Roland Büttner durcheinanderbrachte, hat die Welt bislang nicht gehört. Obwohl diese Geschichte doch exemplarisch dafür ist, wie die allermeisten Menschen in der DDR diesen Besuch erlebten: Eben nicht unmittelbar vor Ort, als Brandt vor 50 Jahren zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen seit Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 in die heutige thüringische Landeshauptstadt kam. Sondern in ihren Betrieben oder Wohnungen stehend und sitzend, was sie aber nicht daran hinderte, auf ihre Weise an diesem Besuch teilzuhaben. Schon deshalb nicht, weil dieser Besuch schon vorab für viele Tage das Leben vieler Menschen in der DDR beeinflusst hatte.

Noch heute kann sich Büttner genau an diese Tage erinnern: Eigentlich, sagt der 83-jährige Erfurter, habe er seiner Schwiegermutter beim Umzug helfen wollen. Deshalb habe er schon lange vorher in seinem Betrieb um die Erlaubnis gebeten, nicht zur Arbeit kommen zu müssen. „Das hatte mein Direktor auch zunächst erst einmal genehmigt“, sagt Büttner. Aber als dann bekannt geworden sei, dass Brandt nach Erfurt kommen wollte, sei diese Genehmigung zurückgezogen worden. „Er hatte von oben die Weisung bekommen“, sagt Büttner. Also erlebte Büttner den Brandt-Besuch an seinem Arbeitsplatz. Vermutlich, sagt er, habe die SED so verhindern wollen, dass im Umfeld des Besuchs Westjournalisten mit allzu vielen DDR-Bürgern direkt Kontakt hatten.

Wenn Büttners Vermutung zutreffen sollte, dann hätten die Verantwortlichen der SED ein gutes Gespür dafür bewiesen, wie heikel der Besuch Brandts bei Stoph sein würde – was die weltöffentliche Blamage für das Regime nur umso größer machte, die bundesdeutsche Journalisten einfingen, indem sie von den begeisterten Rufen berichteten, die während des Besuchs Brandts über den Bahnhofsvorplatz schallten. Daran änderte sich auch dadurch nichts, dass die Partei später am Tage linientreue Jubeler nach Erfurt brachte, die mit Sprechchören wie „Ob mit, ob ohne Willy Brandt, die DDR wird anerkannt“ gegen die „Willy Brandt ans Fenster!“-Rufe von zuvor anzuschreien versuchten. Und damit der Verdrehungen noch nicht genug: Im DDR-Fernsehen wurden die Spontandemonstranten später als „offensichtlich bestellte Provokateure“ hingestellt.

Dabei ist es nicht so, dass die DDR-Führung nicht entschlossen versucht hätte, Brandt und den mit ihm reisenden westdeutschen Journalisten ein möglichst gutes, also linientreues Bild des Arbeiter- und Bauernstaates und seiner Bewohner zu vermitteln. Was vielen DDR-Bürgern im Vorfeld des Besuchs nicht verborgen geblieben war. Zum Beispiel, sagt Büttner, habe er „noch nie so viele Kehrmaschinen mit Leipziger Kennzeichen durch die Innenstadt von Erfurt“ fahren sehen wie unmittelbar vor dem Besuch des bundesdeutschen Kanzlers. Auch die Schaufenster der Innenstadtläden hätten in den Tagen zuvor ein ungewohntes Bild geboten. Sie, sagt Büttner, seien oft hellerleuchtet gewesen, weil darin Dekorateure aus Erfurt, aber auch aus anderen DDR-Bezirken gearbeitet hätten, um die Auslagen besonders hübsch zu machen. „Und an den beiden Vortagen des Besuchs waren sehr viele Seniorinnen und Senioren hier in der Innenstadt zugegen, die wussten, dass das Warenangebot an diesen Tagen besonders groß war. Die haben eingekauft und eingekauft und eingekauft.“In einem Brief, den Büttner viele Jahre nach der Wende bekommen hat, ist noch eine andere Facette der Vorbereitungen für den Brandt-Besuch niedergeschrieben: Darin erinnert sich eine inzwischen verstorbene Frau daran, wie kurz vor dem Besuch Brandts Maler in ihrer Küche arbeiteten – die dann plötzlich abgezogen wurden; auch auf Anweisung von oben. Der zuständige Vorarbeiter, schreibt die Frau in dem Brief, habe ihr damals gesagt, alle verfügbaren Handwerker Erfurts hätten den Auftrag erhalten, den Bahnhof auf Vordermann zu bringen. Erst als Brandt wieder abgereist gewesen sei, sei die Küche fertig gestrichen worden.

Dass der weit überwiegende Teil der DDR-Bürger nicht ganz nah dran war, als sich mit Brandt und Stoph die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten zum Austausch von eigentlich bekannten Positionen trafen, hat sie unmittelbar nach der Abreise Brandts dennoch nicht davon abgehalten, sich darüber zu informieren, was in Erfurt auf dem Bahnhofsvorplatz geschehen war.Teilweise taten sie das sogar noch, während der Besuch lief. Wenn auch auf Kanälen, die die SED-Oberen – anders als viele Menschen in der DDR – für nicht besonders vertrauenswürdig hielten.Nicht nur nämlich, dass sich Büttner daran erinnert, wie er am Abend „im Westfernsehen“ viele Details der Ereignisse des Tages erfahren habe. Schon tagsüber, sagt Büttner, habe einer seiner Kollegen ein Kofferradio „im Betrieb“ mit dabei gehabt, dem man sich immer wieder zugewendet habe. Der Kollege habe dann „immer aufgepasst, dass nicht ein Westsender eingestellt war, wenn gerade jemand in das Arbeitszimmer reinkam“.

Die Mär der SED-Propaganda, Brandt sei von Störern bejubelt worden, habe er niemals geglaubt. „Mit Sicherheit nicht.“ So, wie das auch bei den anderen Menschen in seinem beruflichen und privaten Umfeld gewesen sei.Nun, fünfzig Jahre nach dem Besuch Brandts, nach dem zunächst verhinderten und auf später verschobenen Umzug von Büttners Schwiegermutter sowie nach der ausgesetzten Küchenrenovierung erinnert in Erfurt wieder ein Bild Brandts an dieses historische Ereignis. Es ist auf Betreiben der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und des Freundeskreis „Willy Brandt im Erfurter Hof“ eingefügt worden; in eines der Fenster, an denen Brandt damals erschien.

Wann immer Büttner über den Bahnhofsvorplatz geht, schaut er dort hinauf.

Heute kann er das.

Infokasten: Das Erfurter Gipfeltreffen

Mit der Gründung der DDR und der BRD waren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwei deutsche Staaten entstanden. Als Teil des Ost-West-Konflikts pflegten sie lange Zeit keine freundschaftlichen Beziehungen zueinander – getrieben durch politische Entscheidungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs.

So beanspruchte die Bundesrepublik beispielsweise lange Zeit für sich, der einzig legitime deutsche Staat zu sein. Sie drohte zwischen 1955 und 1969 jedem Staat, der die DDR völkerrechtlich anerkennen würde, dies werde als „unfreundlicher Akt“ verstanden.Erst mit dem Amtsantritt der sozialliberalen Koalition in Westdeutschland unter Willy Brandt 1969 änderte sich der Umgang der beiden Staaten zueinander spürbar.

Unter dem Vorsatz, „Wandel durch Annäherung“ zu erreichen, ging Brandt auf die DDR zu; begünstigt wiederum durch politische Entscheidungen in Moskau und Washington. Das deutsch-deutsche Gipfeltreffen in Erfurt vom 19. März 1970 war auf diesem Weg ein entscheidender, wenn auch vor allem symbolischer Schritt.