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Wie Europa seine Werte riskiert

Die Einstufung Tunesiens als „sicherer Drittstaat“ markiert einen migrationspolitischen Paradigmenwechsel mit schwerwiegenden Folgen.

 

Im Jahr 2023 schloss die EU eine Migrationspartnerschaft mit Tunesien. Das Memorandum of Understanding (MoU) wurde als Meilenstein und „Entwurf für die Zukunft“ gefeiert. Zwei Jahre später steht es wegen massiver Menschenrechtsbedenken erneut in der Kritik, denn seit April 2025 gilt Tunesien offiziell als „sicherer Drittstaat“. Diese Neubewertung droht, die Schwächen des Abkommens zu verschärfen – die neue Kommission steht vor einem Richtungsentscheid.

 

Werte vs. Realpolitik

Die EU pendelt seit Jahren zwischen Menschenrechtsansprüchen und nüchterner Realpolitik. Als Friedensnobelpreisträgerin bekennt sie sich etwa über verbindliche Verträge wie die Genfer Flüchtlingskonvention zum Schutz von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.

Seit der „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 verfolgt die EU aus Angst vor unkontrollierter Einwanderung einen Kurs der Eindämmung: Reformierung des Asylrechts, Partnerschaften mit Ländern in der direkten Nachbarschaft, und nun die Politik der sicheren Drittstaaten. Hier kollidieren Anspruch und Wirklichkeit – denn die Einstufung Tunesiens als sicher steht im Widerspruch zu Berichten über Gewalt, Einschüchterung und willkürliche Festnahmen von Geflüchteten und Aktivist:innen.

 

Der „Migrantendeal“ und die neue Drittstaatenlogik

Obwohl das MoU mit Tunesien auf fünf thematischen Säulen aufbaut, dominiert Migration den EU-Diskurs so stark, dass es lapidar als „Migrantendeal“ betitelt wird.

Dass die Vereinbarung als Entwurf für weitere Partnerschaften präsentiert wird, birgt erhebliche Risiken. Durch Konditionalität nutzt die EU Fördermittel als Druckinstrument, was Machtasymmetrien vertieft und Verhandlungen auf Augenhöhe behindert. Zugleich bleibt das rein als Pressemitteilung veröffentlichte Abkommen rechtlich unverbindlich und intransparent. Diese Informalität dient als Schutzschild, über den die EU Verantwortung auslagern und Schuld delegieren kann, während in den entstandenen rechtsfreien Räumen Menschenrechtsverletzungen wie Pushbacks und Behinderungen der Seenotrettung beinahe folgenlos begangen werden.

Da die EU durch das Drittstaaten-Label zukünftig nicht nur Tunesier:innen, sondern auch Schutzsuchende aus anderen Ländern vereinfacht nach Tunesien abschieben kann, delegiert sie auch die Schutzpflicht an einen Partner, der diese nicht erfüllt – ein Rückschritt für internationale Flüchtlingsstandards.

 

Gefahren eines „sicheren“ Tunesiens

Seit Februar 2023 führt Tunesiens Präsident Kais Saied eine Hetzkampagne gegen Migrant:innen und ihre Unterstützer:innen. Dokumentiert sind willkürliche Verhaftungen von Aktivist:innen und Journalist:innen, längere Haftstrafen ohne Anklage, strafrechtliche Verfahren wegen „Gefährdung der Staatssicherheit“ sowie gezielte Einschüchterungs- und Diffamierungskampagnen. Migrant:innen selbst berichten von massiven Pushbacks an der libyschen und algerischen Grenze, Aussetzungen in Wüstengebieten, Misshandlungen in inoffiziellen Haftzentren und verweigertem Zugang zu Gesundheitsversorgung. Diese systematische Repression legt nahe, dass Tunesien weder für Schutzsuchende noch für jene, die ihnen helfen, sicher ist. Indem die EU das Land dennoch als sicheren Drittstaat ausweist, legitimiert sie Abschiebungen in genau jene Gefahrensituation und hebelt europäische Schutzmechanismen aus.

 

Zeit für sichere und legale Wege

Dass die neue Kommission an ihrem Eindämmungskurs weiter festzuhalten scheint, hat sie in ihren Leitlinien verdeutlicht, die auf ein integriertes Schutzkonzept der Außengrenzen und ein „entschlossenes Auftreten“ der EU – inklusive strategischer Partnerschaften – setzen. Die Einstufung Tunesiens als sicheres Drittland bestätigt diese Annahme. Will die EU ihrem Anspruch als Hüterin der Menschenrechte gerecht werden, braucht es einen radikalen Kurswechsel.

 

Bessere innenpolitische Zusammenarbeit

Die Kooperation europäischer Regierungen in der Migrationspolitik stagniert – nicht zuletzt durch den Rechtsruck in zahlreichen Mitgliedstaaten und dem europäischen Parlament.  Italien unter Giorgia Meloni dominiert mit harter Linie und befeuert rassistische Narrative wie den „großen Austausch“. Der Unmut ist jedoch nicht unbegründet: das veraltete Dublin-System zwingt vor allem Mittelmeerstaaten wie Italien zur Erstaufnahme ohne faire Verteilung. Ein gerechter Verteilungsschlüssel könnte rechten Kräften den Nährboden entziehen und zugleich den politischen Druck mindern, Verantwortung an „sichere“ Drittstaaten auszulagern. Dieses Vorgehen könnte den Schutz von Migrant:innen stärken.

 

Legale Wege und Integration stärken

Aufgrund des wachsenden Fachkräftemangels und seinem sozialen Konfliktpotenzial sollte die EU legale Fachkräftemigration fördern, statt pauschal auf Eindämmung zu setzen. Eine bessere Einbettung des neuen EU-Talent-Pools in die tunesische Partnerschaft könnte qualifizierten Migrant:innen reale Perspektiven in Europa eröffnen.

Parallel muss die EU auch Menschen aus bildungsfernen Schichten mehr unterstützen, etwa durch Investitionen in lokale zivilgesellschaftliche Organisationen und Entwicklungsagenturen. Da die Asylreform erst ab 2026 greift, könnten in Tunesien vorab Integrationszentren als Ergänzung zu Reintegrationsmaßnahmen entstehen. Diese könnten bereits vor der Entscheidung zu migrieren über die begrenzten Möglichkeiten legaler Zugangswege in die EU, den Asylprozess und realistische Chancen für Asylgesuche aufklären und so zu fundierten Migrationsentscheidungen beitragen.

 

Mehr Formalität und Transparenz

Die dringendste Wende liegt in der Formalisierung der Kooperation mit Monitoring- und Sanktionsmechanismen. Solange das Abkommen informell bleibt, kann Brüssel weiterhin die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen abschieben und auf schnellen, migrationspolitischen Aktionismus setzen. Vor dem Hintergrund der Drittstaatenregelung wirkt der kürzlich angekündigte Formalisierungsversuch der EU, Auszahlungen an Tunesien künftig an Menschenrechtsstandards zu knüpfen, beinahe zynisch. Erst eine Operationalisierung der Menschenrechte sowie eine engmaschige, öffentlich einsehbare Berichterstattung würden echte Transparenz schaffen und politischen Druck erzeugen, damit die EU ihre Menschenrechtsverpflichtungen erfüllt.

Ob die Kommission ihren gegenwärtigen Kurs revidieren wird, ist ungewiss. Fest steht: Die Einstufung Tunesiens als sicherer Drittstaat hat die Glaubwürdigkeit der EU als Hüterin der Menschenrechte erheblich geschwächt.

 


Über die Autorin

Theresa Hartl hat Europäische Studien und Management von Kooperationsprojekten der EU in Passau und Straßburg studiert. In ihrer Masterarbeit hat sie den Nexus von Migrationsmanagement und Menschenrechten betrachtet und hierfür die Einhaltung der Menschenrechtsverpflichtungen der EU in ihrer Migrationskooperation mit Tunesien untersucht.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Redaktion

Annette Schlicht
+49 30 26935-7486
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