„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Nach 1945 wurde die Rechtslage der Weimarer Republik weitestgehend wiederhergestellt. In der Praxis wurden nun nicht nur medizinische, sondern auch soziale Beweggründe einbezogen.
Erst die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt nahm sich einer Reform des §218 an. Die Positionen in den Bundestagsdebatten 1974 gingen dabei so weit auseinander wie die in der Gesellschaft. Die sogenannte sexuelle Revolution hatte nicht nur Schlagzeilen über die Kommune 1 und die Pille produziert, sondern vor allem politisch-allgemeine und persönlich-individuelle Freiheiten und Rollenbilder verhandelt, sexuelle und medizinische Aufklärung vorangebracht und feministischen Bewegungen neue Aufmerksamkeit geschenkt. Konservative sowie die katholische Kirche wähnten den Werteverfall von Ehe und Familie.
Die Koalition aus SPD und FDP favorisierte eine Regelung, die das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren betont – eine „Fristenregelung“, bei der ein Abbruch grundsätzlich bis zur zwölften Woche straffrei bliebe. Dagegen stand die Einordnung aus großen Teilen der CDU/CSU des Embryos als „individuelles menschliches Leben“ vom Zeitpunkt der Empfängnis an (Paul Mikat). Insgesamt plädierten CDU/CSU für eine „Indikationsregelung“, die Abtreibungen an eine Reihe medizinischer und ethischer Voraussetzungen knüpfte.
Die Fristenregelung als „entscheidende[r] Schritt hin zur […] sozialen Gleichstellung der Frauen“ (Elfriede Eilers, SPD) sollte sich nicht durchsetzen. Der Paragraf 218 hatte Bestand, als „ein schwer erträglicher Restbestand sozialer Ungerechtigkeit des vorigen Jahrhunderts“ (Willy Brandt). Zwar stimmte der Bundestag mit knapper Mehrheit für das Fristenmodell, doch der Bundesrat tat es ihm nicht gleich. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Fristenregelung 1975 gar für verfassungswidrig nach Artikel 2 des GG, der u.a. besagt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Demnach galt es das Recht des Embryos gegenüber dem der Schwangeren zu schützen.
So wurde 1976 erneut eine Reform beschlossen, die Abtreibungen unter Strafandrohung für Schwangere und Ärzt_innen verbot. Straffreiheit galt unter dem ärztlich attestierten Umstand „besonderer Bedrängnis“ der Schwangeren – definiert durch vier Indikatoren: medizinisch, eugenisch, kriminologisch, sozial – innerhalb der ersten zwölf Wochen.
In der DDR hingegen hatte seit 1972 die Fristenlösung bis zur zwölften Woche gegolten, ohne Offenlegung von Motiven, ohne zu erfüllende Formalia. Nach der Wiedervereinigung wurde eine Vereinheitlichung nötig. Das heute in Deutschland geltende Abtreibungsstrafrecht wurde 1995 beschlossen:
Ein Schwangerschaftsabbruch ist demnach rechtswidrig; Straffreiheit für Schwangere und Ärzt_innen besteht innerhalb der ersten zwölf Wochen und nach attestierter Konfliktberatung. Eine wichtige Neuerung: Liegt eine medizinische oder kriminologische Indikation vor, ist ein Abbruch nicht rechtswidrig.
Strafgesetzbuch (StGB)
§ 218 Schwangerschaftsabbruch
(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder
2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht.
(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
(4) Der Versuch ist strafbar. Die Schwangere wird nicht wegen Versuchs bestraft.
Die aktuelle Gesetzeslage mit ihren zu erfüllenden Auflagen bringt in der Praxis viele Fallstricke mit sich. Sie gilt, ohne, dass ein flächendeckendes Beratungsangebot gegeben ist; ausreichend Ärzt_innen in allen Regionen Deutschlands, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, gibt es nicht – das Durchführen von Abtreibungen kommt im Lehrplan für Medizinstudierende nicht einmal vor. Und bis vor kurzem waren die Informationen über Schwangerschaftsabbrüche nicht für alle offen zugänglich. Das Verbot sorgt darüber hinaus auch für Rechtsunsicherheit bei Ärzt_innen: Ungewollt Schwangere , die selbst medizinische Versorgung benötigen, müssen damit rechnen, dass die Behandlung zu Gunsten des Embryos ausgerichtet ist, was die Gesundheit der Schwangeren gefährdet.
Es gibt also erheblichen Nachbesserungsbedarf: Auf einige der hier skizzierten, teils bereits seit dem 19. Jahrhundert diskutierten Fragen sind bis heute keine befriedigenden Antworten gefunden. Und es ist wichtig die Debatten über Carearbeit, eine ausreichende medizinische Versorgung und Beratungsangebote weiterzuführen, wenn man über bevölkerungspolitische Erwartungen an Individuen sprechen will. Es sollte aber allenfalls ergänzendes Beiwerk sein, wenn wir über ein Recht auf oder Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen (bis zur 12. Woche) sprechen, denn keine dieser anderen Debatten vermag die Antwort auf die hier einzig relevante Frage zu geben: Warum ist eine Schwangere in der Bringschuld, sich einem Staat, einer Gesellschaft gegenüber zu erklären, wenn sie über ihren eigenen Körper bestimmt?
Mascha Schlomm
Weiterführende/verwendete Literatur: