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Kapitel 9: Verteilung oder Anerkennung – Warum Alexandria Ocasio-Cortez zeigt, dass das keine Gegensätze sind

Our job is not to divide. Our job is to bring people together. Bernie Sanders

Hörbuch

Hören Sie das neunte Kapitel auch als Hörbuch. (Hörzeit 7:19 Minuten)


„The Old Oak“ – die alte Eiche. So heißt ein Pub in dem gleichnamigen Film des britischen Regisseurs Ken Loach. Er liegt in einem abgewirtschafteten Städtchen im Norden Englands. Die Minen, die lange Arbeit und Einkommen in der Region gesichert hatten, sind längst stillgelegt, Schulen geschlossen und Geschäfte abgewandert, Häuser verfallen. Armut und Resignation haben sich breitgemacht. An den Wänden des Pubs hängen Bilder des gemeinsamen Streiks, als alle sich untergehakt haben, um sich gegen die Minenschließungen durch die Thatcher-Regierung zu stemmen. Sie wirken wie aus einer längst vergangenen Zeit.

Als in den leer stehenden Häusern des Orts syrische Bürgerkriegsflüchtlinge untergebracht werden, löst das ganz unterschiedliche Reaktionen aus. Es gibt diejenigen, die sofort helfen. Beim Einzug wird mit angepackt und ein Fahrrad wird gespendet. Es gibt diejenigen, die nicht verstehen, dass die neu Dazugekommenen plötzlich ein Fahrrad bekommen, obwohl sie auch gerne eins hätten. Und es gibt diejenigen, die mit Hass und Wut auf alles reagieren, was ihnen fremd erscheint.

Das Bild, das Ken Loach hier zeichnet, ist in vielen Teilen Europas zu beobachten. Die Enttäuschung und die Wut derjenigen, die sich abgehängt fühlen und es tatsächlich auch sind, mischt sich mit einer Abgrenzung von den Anderen. In der Soziologie wird dieser Mechanismus als „Othering“ beschrieben. Menschen werden als „anders“ klassifiziert, nicht zuletzt, um den eigenen Status in Abgrenzung zu den „Anderen“ zu betonen.

Dieses „Othering“ hat weitreichende Folgen: Wenn ich jemanden nicht als meinesgleichen betrachte, als Mensch, der ähnliche Bedürfnisse, Wünsche und auch Rechte hat wie ich, sondern schlicht als Anderen, der nichts mit mir gemein hat, dann muss ich ihn auch nicht als Menschen behandeln. Womit dieses „Anderssein“ begründet wird, kann dabei vielfältig sein. Manchmal geht es um die Hautfarbe oder Nationalität, manchmal um das Geschlecht, die Religion oder um die sexuelle Orientierung.

Was manche Stammgäste im „Old Oak“ übersehen, ist, dass sich sowohl sie als auch die neu Dazugekommenen in einer sehr ähnlichen, misslichen Lage befinden. Aber statt sich gemeinsam gegen die Ursachen von Armut, Ausgrenzung oder Gewalt zu engagieren, grenzt man sich voneinander ab. Ganz gezielt wird dieses „Othering“ von politischen Parteien der extremen Rechten genutzt. Sie profitieren davon, Menschen gegen Menschen auszuspielen und können damit bei Wahlen und Abstimmungen Erfolge erzielen.

Dieser Aufschwung der politischen Rechten traf in den 2000er-Jahren auf Parteien des demokratischen Sozialismus, die in der Defensive waren. Es herrschte Ratlosigkeit. Wofür stehen die Parteien des demokratischen Sozialismus eigentlich noch? Im Osten Europas war die Idee nach dem Scheitern des sogenannten realexistierenden Sozialismus gründlich verbrannt. Und auch im Westen Europas war unklar, was man nach drei Jahren neoliberaler Dominanz noch hoffen und fordern konnte.

Auch die Gesellschaften hatten sich verändert. Eine Analyse dazu brachte es Ende der 2010er-Jahre zu einer gewissen Prominenz: In den modernen Gesellschaften käme es zu einer drastischen Polarisierung. An den Endpolen standen sich dabei mit Kosmopoliten und Kommunitaristen zwei ganz verschiedene Lager gegenüber.

Als Kosmopoliten galten dabei jüngere, gut qualifizierte und wohlhabende Eliten, die oft in den Städten lebten, weltoffen und frei, die sich für Menschen- und Freiheitsrechte einsetzten und gar kein Problem mit Migration hatten, schließlich seien sie selbst Teil globaler Wanderungsbewegungen. Denen gegenüber stünden die weniger Gebildeten, weniger Wohlhabenden, die ihre lokalen Gemeinschaften schützen wollten, die nicht wollen, dass in ihrem Pub plötzlich Zugewanderte auftauchen und die deshalb gegen Zuwanderung seien und zugleich eine Verteilung des Wohlstands wollen, die sich mehr an ihren Interessen orientiere (vgl. Merkel, 2017).

Im politischen Wettbewerb würden davon vor allem zwei Kräfte profitieren: Grüne und liberale Parteien einerseits, die die Kosmopoliten vertreten, und Rechtspopulisten andererseits, die die Kommunitaristen vertreten. Sozialdemokratische Positionen hätten dazwischen kaum mehr einen Raum, entsprechend müssten sich sozialdemokratische Parteien für eine Seite entscheiden (vgl. Merkel, 2018).

Andere betonen genau das Gegenteil: In Zeiten, in denen die Gesellschaften auseinanderdriften, müssen fortschrittliche politische Kräfte zusammenführen. Es ginge darum, Brücken zu bauen, statt Gräben zu vertiefen. Denn wir leben hier gemeinsam und müssen gemeinsam miteinander umgehen. „We are all in this together“ – so hat es der ehemalige US-amerikanische Präsident Barack Obama auf den Punkt gebracht.

Die Lebenswelten der Menschen lägen, so diese Position, ehedem nicht so weit auseinander, wie behauptet. Und bei den Forderungen nach wechselseitiger Anerkennung und Freiheitsrechten einerseits und Verteilungsgerechtigkeit andererseits gebe es kein zwingendes Entweder-Oder. Sie dienen dem gleichen Ziel: Menschen sollen ein selbstbestimmtes Leben führen können, ohne Armut und ohne Bevormundung (hierzu exemplarisch Hollenberg/Krell, 2019).

In den USA ist eine Politikerin besonders erfolgreich, die beide Forderungen miteinander verknüpft. Alexandria Ocasio-Cortez (* 1989) beschreibt sich selbst als demokratische Sozialistin. Sie wurde 2019 ins Repräsentantenhaus gewählt. Dort setzt sie sich für die Black Lives Matter-Bewegung ein und für einen höheren Mindestlohn. Ihr Beispiel zeigt: Forderungen gegen Diskriminierung und für sozialen Ausgleich stehen zueinander nicht im Widerspruch. Und mit ihnen kann man sogar Wahlen gewinnen. Bernie Sanders (* 1941), der Parteikollege von Alexandria Ocasio-Cortez, hat es auf den Punkt gebracht: „Our job is not to divide. Our job is to bring people together“ (in: Corasaniti, 2016).

Im nordenglischen „Old Oak“ steht der Wirt TJ Ballantyne zwischen all den unterschiedlichen Gruppen. Zusammen mit einer jungen syrischen Frau gelingt es ihm, eine Tradition aus der Zeit des gemeinsamen Streiks wiederzubeleben. „Zusammen essen, zusammen stehen“ – ist das Motto, das sie in die Tat umsetzen. Einmal am Tag wird gemeinsam gekocht und gegessen. Man wird satt, Gräben werden überwunden und man kämpft gemeinsam für ein besseres Leben. Es geht, so bringt es Ballantyne auf den Punkt, „um Solidarität, nicht um Wohltaten.“ Freilich machen nicht alle dabei mit, aber viele. Und so entsteht nicht nur eine neue Gemeinschaft, sondern auch eine neue Perspektive für den Ort.

Für einen modernen demokratischen Sozialismus bedeutet das eigentlich gar nichts Neues: Egal, ob man nicht mithalten kann, weil man seinen Job verloren hat oder weil der Lohn einfach nicht zum Leben reicht. Egal ob man wegen seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seines Geschlechts diskriminiert wird. Beides muss überwunden werden.


Über den Autor

Prof. Dr. Christian Krell (1977) lehrt Politikwissenschaften und Soziologie. Er hat zur Europapolitik sozialdemokratischer Parteien promoviert und war von 2006 bis 2018 Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort leitete er die Akademie für Soziale Demokratie und das Büro für die Skandinavischen Länder in Stockholm. Von 2018 bis 2021 war er Professor für Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes, seit 2021 ist er an der HSPV NRW. Die Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte wird von Krell mitherausgegeben, und er ist Honorarprofessor der Rheinischen Wilhelms-Universität Bonn.


Werk

  • Krell, C. (2024). Eine Idee für morgen: Über die Aktualität des Demokratischen Sozialismus. Schuren.
    ISBN 978-3-7410-0288-5.

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