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Hören Sie das siebte Kapitel auch als Hörbuch. (Hörzeit 7:32 Minuten)
Wer sich mit dem demokratischen Sozialismus auseinandersetzen will, der braucht vor allem eins: eine ziemlich leistungsstarke Lesebrille. Unzählige Werke wurden geschrieben, in denen immer wieder neue Ideen, Bausteine und Argumente zu Theorien verdichtet wurden. Marx’ und Engels’ Werke umfassten alleine 44 ziemlich dicke Bände. Und jeden Tag erscheint irgendwo irgendein Aufsatz, ein Büchlein oder sogar ein dicker Wälzer, der sich in theoretischer Perspektive mit dem Sozialismus auseinandersetzt.
Warum schreiben Sozialisten so gerne? Eine der Ursachen liegt in der politischen Bewegungsrichtung begründet. Sozialisten und auch Liberale wollten und wollen die Dinge verändern. Sie habe eine Idee von einer besseren Ordnung der Dinge. Konservative politische Strömungen wollen das Bestehende bewahren. Vielleicht geht es hier oder da um eine Modernisierung, aber im Kern sollen die Dinge so bleiben, wie sie sind. Das verklärte Reden von der „guten, alten Zeit“ schwingt da mit. Und gewiss auch die Angst vor Veränderungen. Wer aber Fortschritt will, muss diese Veränderung beschreiben können. Hier geht es um die Hoffnung, dass eine bessere Welt möglich ist. Wer das will, muss zeigen, wo die Reise hingehen soll und wie man ans Ziel kommt. Das allein begründet eine stärkere Theorieorientierung bei fortschrittlichen politischen Kräften.
Bestenfalls kann eine gute Theorie die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Veränderungen erklären und einen Zielhorizont für das politische Handeln beschreiben. Sie kann wissenschaftliche Erkenntnisse für die politische Praxis erschließen und der politischen Bewegung eine Richtung geben. Vielleicht ist sie auch eine Plattform für den Austausch mit Intellektuellen und einer breiteren Öffentlichkeit. Und gewiss beschreibt sie Ansprüche, an der sich das konkrete Handeln einer politischen Bewegung messen lassen muss. Ohne Theorie wäre die politische Praxis nur aktuellen Stimmungen und kurzfristigen Nutzenkalkülen unterworfen, eine zielgerichtete, langfristige Entwicklung wäre kaum möglich. Politische Theorie kann in diesem Sinne wie ein Kompass wirken, mit dem man die Richtung bestimmt.
Es geht auch anders: Schlimmstenfalls hat die Theorie einer politischen Bewegung gar nichts mit der politischen Praxis zu tun, weil sie zu abgehoben und zu realitätsfern ist. Oder weil die politischen Handelnden sich schlicht nicht für eine übergreifende Standortbestimmung interessieren, sondern im täglichen Ringen um Details oder um sich selbst den Blick fürs große Ganze verlieren. Dann kommt es zu einem unproduktiven Nebeneinander von Theorie und Praxis.
Wie entscheidend umsichtiges Vordenken für eine erfolgreiche politische Praxis war, zeigte sich in der deutschen SPD in den 1950er- und 1960er-Jahren. Nach dem II. Weltkrieg ging die SPD davon aus, dass ihr die Unterstützung der Wähler und Wählerinnen sicher sein werde. Schließlich stand die SPD gegen die Nazi-Diktatur und hatte für das andere, gute Deutschland gekämpft. Doch es kam anders. Bei der ersten Wahl zum Deutschen Bundestag 1949 waren CDU/CSU und SPD zwar noch fast gleichauf, doch danach vergrößerte sich der Abstand bei jeder Wahl zugunsten der CDU.
Um wieder politische Mehrheiten zu erringen, hatte die SPD ihr politisches Programm von Grund auf erneuert. Das Godesberger Programm (1959) verabschiedete sich von einem orthodox interpretierten, marxistischen Geschichtsverständnis und stellte statt dessen die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität „an die Spitze des Programms“ – wie Susanne Miller (1915–2008) als Sekretärin der Programmkommission prägnant zusammenfasste (in Krell/Woyke, 2015: 124). Mit dem Programm war eine programmatische Ausrichtung an Werten verbunden, eine zeitgemäße Analyse der Gegenwart und ein zupackender, moderner Forderungskatalog.
Die Frage, ob man den Kapitalismus überwinden müsse, vielleicht gar mit einer Revolution, stand nicht mehr im Vordergrund. Seit Jahrzehnten hatte man die Erfahrung gemacht, dass man mit dem Recht und demokratischen staatlichen Strukturen die Wirtschaft so lenken kann, dass sie für die Mehrheit der Menschen funktioniert, nicht nur für einige wenige. Allerdings war damit auch klar, dass es eine kluge Mischung braucht aus gesellschaftlichen Rahmensetzungen und freiem Zusammenspiel der wirtschaftlichen Kräfte. „Wettbewerb so weit wie möglich – Planung so weit wie nötig.“ Das war die Wendung des Godesberger Programms zu diesem Gedanken.
Wie ein roter Faden zog sich die Idee um Demokratie und Sozialismus durch das Programm. „Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt.“ So hieß im Abschnitt zu einer menschenwürdigen Gesellschaft. Der Gedanke Hermann Hellers findet sich darin wieder: Wenn Demokratie tatsächlich funktionieren soll, muss man sich auf Augenhöhe begegnen können, alle müssen teilhaben können. Demokratie wurde von der SPD nicht nur als irgendein Entscheidungsverfahren beschrieben, sondern als zentral für die Würde des Menschen. Nur unter demokratischen Bedingungen könne sich die menschliche Würde frei entfalten. Deshalb sollte sich die Demokratie auch nicht nur auf den Staat erstrecken, sondern auch auf andere Lebensbereiche wie die Wirtschaft.
Tatsächlich konnte die SPD nach der Verabschiedung dieses Programms erstaunliche Erfolge erzielen. Von Wahl zu Wahl konnte die SPD zulegen. Neben all den neuen Inhalten, die von neuen Personen verkörpert wurden, waren sicher auch die Diskussionen um das neue Programm wichtig. Willi Eichler (1896–1971) war verantwortlich dafür und stand an der Spitze einer Kommission, deren Name allein bezeichnend war. Er lautete: „Kommission zur Weiterführung der Parteidiskussion“. Es ging darum miteinander zu reden, zu streiten, zu debattieren, in der Partei und darüber hinaus. Das führte in der SPD zu einem gemeinsamen Verständnis davon, wofür man sich engagierte und in der breiten Öffentlichkeit wurde klar, wofür die SPD stand. Die Programmdiskussion trug so zu den Wahlsiegen der SPD in den 1960er- und 1970er-Jahren bei.
Um die Godesberger Beratungen herum entstand deshalb eine ganze Diskussionsinfrastruktur: Neue Zeitungen wurden gegründet, Bildungsstätten errichtet, Diskussionszirkel gegründet. Später wurde eine „Grundwertekommission“ eingerichtet, die jenseits der Tagespolitik die langfristigen Fragen der Politik mit den Wertorientierungen der SPD verknüpfen sollte. Es wurde gemeinsam vorgedacht. Der politische Erfolg gab denjenigen recht, die eine lebendige Verbindung zwischen Theorie und Praxis forderten. Und er bestätigte, was der langjährige Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Erhard Eppler (1926–2019) immer wieder betonte: „Ein Programm ist nur so viel wert wie die Diskussion, die dahin geführt hat.“ (Eppler 1985, in Krell/Woyke, 2015: 124)
Prof. Dr. Christian Krell (1977) lehrt Politikwissenschaften und Soziologie. Er hat zur Europapolitik sozialdemokratischer Parteien promoviert und war von 2006 bis 2018 Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort leitete er die Akademie für Soziale Demokratie und das Büro für die Skandinavischen Länder in Stockholm. Von 2018 bis 2021 war er Professor für Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes, seit 2021 ist er an der HSPV NRW. Die Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte wird von Krell mitherausgegeben, und er ist Honorarprofessor der Rheinischen Wilhelms-Universität Bonn.