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Hören Sie das sechste Kapitel auch als Hörbuch. (Hörzeit 8:32 Minuten)
Toni Sender (1888–1964) war eine ungewöhnliche Frau. Im Alter von 13 Jahren verließ sie ihr gutbürgerliches Elternhaus. Sie wollte auf eigenen Beinen stehen und die Welt entdecken. Tagsüber arbeitete sie in einer Frankfurter Immobilienfirma, abends bildete sie sich im Selbststudium weiter. 1910 war Toni 22 Jahre alt. Besondere Ereignisse fallen in dieses Jahr: Sie trat in die SPD ein und sie nahm eine Stelle in Paris an. Dort wurde sie Mitglied der französischen Sozialisten (Hild-Berg, 1994). Eine engagierte Sozialistin, über nationale Grenzen hinweg.
1914 erlebte sie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Als deutsche Staatsbürgerin musste sie Hals über Kopf Paris verlassen. Auf abenteuerlichen Wegen kehrte sie zunächst in ihr Elternhaus zurück. Für einige Zeit arbeitete sie in einem Lazarett. In ihrer Autobiografie schilderte sie die brutale Logik des Kriegs. «Bald durchschaute ich unsere Illusion, dass wir ‹Wunden heilten›. Nein, unsere Funktion bestand im Grunde nicht darin, Wunden zu heilen, sondern Männer dafür fit zu machen, dass sie wieder in die Schlacht – und vielleicht in den Tod geschickt werden konnten.» (Sender, 1981 [1939]: 70)
Für Toni war schwer zu begreifen, dass ihre beiden Parteien – die deutsche SPD und die französische SFIO – in weiten Teilen im Reichstag und in der französischen Nationalversammlung für Kriegskredite gestimmt hatten. In einem Taumel nationaler Begeisterung wurde der Kriegspatriotismus wichtiger als die Überzeugung, dass man das gleiche Ziel verfolgte, diesseits und jenseits des Rheins. Der Internationalismus, den sich die Parteien der Arbeiterbewegung auf ihre Fahnen und in ihre Programme geschrieben hatte, schien plötzlich sehr weit weg.
Was hatte es eigentlich mit dem Internationalismus auf sich? Fest steht, dass er schon früh mit der Arbeiterbewegung verbunden war. 1855, als sich in einigen Ländern Europas erste Zusammenschlüsse der Arbeiter gebildet hatten, wurde in London die «Internationale Assoziation» von französischen, deutschen und polnischen Flüchtlingen gegründet. 1864 ging es dann richtig los. Die Internationale Arbeiter-Assoziation wurde in der Londoner St. Martins Hall ins Leben gerufen. Karl Marx war dabei und berichtete seinem Freund Friedrich Engels in einem euphorischen Brief davon.
Einen flammenden Appell zur Zusammenarbeit der Arbeiter hatten Marx und Engels schon in ihrem Kommunistischen Manifest (1848) formuliert: «Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!» (MEW 4, 493) Hinter dem leidenschaftlichen Aufruf steckte eine nüchterne Analyse: Egal ob in Frankreich, Deutschland, Polen oder England, überall litten die Arbeiterinnen und Arbeiter unter den gleichen Bedingungen. Sie hatten das gleiche Interesse, diese Bedingungen zu überwinden, und konnten ihre Kräfte vervielfachen, wenn sie sich über die nationalen Grenzen hinweg zusammenschließen würden.
Dieses logische Argument führte zu verschiedenen internationalen Zusammenschlüssen. Parteien trafen sich auf internationalen Tagungen, es gab Internationale Sozialistische Frauenkonferenzen und auch die Gewerkschaften schlossen sich in internationalen Bündnissen zusammen. Später kam es zu einer Trennung der kommunistischen und der sozialistischen Kräfte in diesen Bündnissen. Während die sozialistischen Kräfte sich für Demokratie und Menschenrechte aussprachen, verfolgten kommunistische Kräfte die Vorstellung einer Einparteienherrschaft.
Toni Sender war 1914 enttäuscht, dass die Idee von Zusammenhalt und Kooperation einen Krieg nicht verhindern konnte. Sie war allerdings nicht entmutigt, sondern engagierte sich weiter. Im März 1915 reiste sie nach Bern in die neutrale Schweiz, um auf einer Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz für den Frieden zu werben. Später wurde sie Reichstagsabgeordnete der SPD. Dort engagierte sie sich unter anderem für internationale Abrüstungsabkommen und freie Handelsbeziehungen.
1933 musste sie erneut fliehen. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und den ersten Wochen des NS-Terrors war ihr bewusst, dass sie die an sie gerichteten Morddrohungen ernst nehmen musste. Sie flüchtete ohne Gepäck, um nicht aufzufallen. Sie erreichte die Tschechoslowakei, konnte weiter nach Belgien flüchten und kam schließlich 1935 im rettenden amerikanischen Exil an. Und hier begann ein weiterer Abschnitt ihres Lebens, der für die Idee des demokratischen Sozialismus bezeichnend war: Der Einsatz für die internationalen Menschenrechte.
Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet. Schon der erste Artikel ist eine Wucht: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» Die Erklärung spiegelt die Idee wider, dass alle Menschen, egal wo sie wohnen, welchen Geschlechts sie sind, woran sie glauben, wen sie lieben oder ob sie arm oder reich sind, einander in Gleichheit und Freiheit begegnen sollen.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde ausgearbeitet durch eine Fachkommission des Wirtschafts- und Sozialausschusses der gerade gegründeten Vereinten Nationen. Toni Sender wirkte als Vertreterin der Gewerkschaften in diesem Wirtschafts- und Sozialausschuss mit. Sie brachte dort – wie die New York Times schrieb (in Sender, 1981 [1939]: 20) – die sowjetischen Delegierten fast zum Fluchen, unter anderem, weil sie eine Untersuchung sowjetischer Zwangsarbeit forderte.
Toni Sender war auch gut bekannt mit Eleanor Roosevelt. Die Frau des ehemaligen amerikanischen Präsidenten leitete eine international zusammengesetzte Gruppe, die den Text der Menschenrechtserklärung entwarf. Mit der Beteiligung von Experten und Expertinnen aus China, Indonesien, Kanada und anderen Ländern wollte Roosevelt sicherstellen, dass sich in den Menschenrechten nicht nur die Perspektive eines Landes, einer Religion oder einer Kultur wiederfand. Tatsächlich konnten Wissenschaftler später nachweisen, dass sich die Idee, dass jeder einzelne Mensch etwas Besonderes ist und Schutz und Freiheit verdient, in unterschiedlichsten Kulturen der Welt herausgebildet hat (Joas 2011, 2015).
1966 wurden einige der zentralen Ideen der Erklärung der Menschenrechte auch in völkerrechtlich verbindliche Menschenrechtspakte übersetzt. Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) umfasst zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung und freie Wahl und ein Verbot von Zwangsarbeit. Der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) umfasst ein Recht auf Arbeit, angemessenen Lebensunterhalt durch Arbeit, ein Recht auf Mutterschutz, freie Gewerkschaften und Bildung. In modernen Konzepten Sozialer Demokratie spielen diese Rechte eine Schlüsselrolle (Meyer, 2005). Inzwischen haben über 160 Staaten weltweit diese Pakte unterzeichnet. Das bedeutet bei Weitem nicht, dass sich alle Staaten an diese Verpflichtungen halten. Aber jede Regierung muss sich an dem Anspruch der Menschenrechte messen lassen.
Toni Sender war klar: Der Kampf gegen Unfreiheit, gegen Ausbeutung, gegen Diskriminierung ist ein Kampf, der nicht an einer staatlichen oder geografischen Grenze halt machen kann. Ein gutes Leben nur für einige, nicht für alle, das ist nicht zu rechtfertigen und auf Dauer auch nicht praktisch darstellbar. Und dafür braucht es tatkräftiges politisches Handeln, national und international. In Zeiten, in denen sich die gesamte Weltgemeinschaft gemeinsam gegen den Klimawandel stemmen muss und zugleich an vielen Orten nationalistischer Egoismus aufflammt, könnte ihr Ansatz kaum aktueller sein.
Prof. Dr. Christian Krell (1977) lehrt Politikwissenschaften und Soziologie. Er hat zur Europapolitik sozialdemokratischer Parteien promoviert und war von 2006 bis 2018 Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort leitete er die Akademie für Soziale Demokratie und das Büro für die Skandinavischen Länder in Stockholm. Von 2018 bis 2021 war er Professor für Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes, seit 2021 ist er an der HSPV NRW. Die Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte wird von Krell mitherausgegeben, und er ist Honorarprofessor der Rheinischen Wilhelms-Universität Bonn.