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Kapitel 4: Revolution oder Reform – Wie Eduard Bernstein Bewegung ins Spiel brachte

Dieses Ziel, was immer er sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Eduard Bernstein

Hörbuch

Hören Sie das vierte Kapitel auch als Hörbuch. (Hörzeit 6:55 Minuten)


Wie erreicht man gesellschaftliche Veränderungen? Die Beatles hatten 1968 ein klares Konzept: Revolution. In ihrem gleichnamigen Chart-Hit heißt es: „You say you want a revolution. Well, you know, we all want to change the world.“

Wie man eigentlich genau die Welt verändern kann, war eine Kernfrage im demokratischen Sozialismus. Nicht erst seit Marx und Engels gab es die Vorstellung, dass eine Revolution kommen wird – irgendwie, irgendwo, irgendwann. Wie genau sie sich vollzieht, ob die Arbeiterbewegung sie aktiv organisieren soll oder nur darauf warten solle, war umstritten. Und ob aus dem Zusammenbruch einer schlechten Ordnung zwangsläufig etwas Besseres entstehen würde, das war offen.

Wie man Fortschritt erreichen könnte, wurde in der SPD heftig diskutiert. Ihr Parteiprogramm von 1891 zielte einerseits auf einen revolutionären Umschwung, nannte aber andererseits auch zahlreiche einzelne Reformschritte, die man jenseits einer umfassenden Revolution verwirklichen könnte.

Dass die Frage, wie Veränderungen erreicht werden könnten, für die SPD zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer drängender wurde, lag auf der Hand: Sie wurde allmählich zur stärksten Partei im Deutschen Reich. Sowohl im Reichstag, bei den Wählerstimmen und bei der Mitgliederzahl war sie tatsächlich „die stärkste der Parteien“ – wie es in der Internationalen hieß. Reale Macht bedeutete das allerdings nicht. Faktisch konnte die SPD mit dieser Stärke kaum etwas bewegen. War der Gedanke an eine Revolution, mit der man an die Macht kommen könnte, da nicht verlockend?

Ein kleiner Mann setzte der Revolutionsromantik in seiner Partei etwas entgegen. Eduard Bernstein (1850–1932) stand einer Revolution skeptisch gegenüber. In Folge der Sozialistengesetze im deutschen Kaiserreich verbrachte Bernstein einige Jahre im Londoner Exil (Pfahl-Traughber, 2020). Dort beobachtete er den britischen Kapitalismus und kam zu überraschenden Erkenntnissen.

Entgegen der Vorhersagen von Marx kam es nicht zu einem sich ständig zuspitzenden Klassenkampf zwischen Habenichtsen und denen, die alles besitzen, also zwischen Proletariern und der Bourgeoisie. Vielmehr wurde die gesellschaftliche Struktur differenzierter, auch mit starken Mittelschichten. Sogar ein gesellschaftlicher Aufstieg der Arbeiter in diese Schichten schien möglich. Eine Revolution, die sich auf die zunehmende Verelendung einer immer größeren Gruppe von Proletariern stützen sollte, schien nicht realistisch. Und wenn eine politische Bewegung sich als wissenschaftlich verstand, so wie die von Marx und Engels inspirierten Sozialisten, dann müsse sie das auch anerkennen.

Aus Bernsteins Perspektive war das allerdings kein Hindernis für gesellschaftliche Veränderungen. Denn er brachte eine weitere Erkenntnis mit aus seiner Zeit in England: Es gab nicht nur revolutionäre Strömungen im Sozialismus, sondern auch Kräfte, die auf einen schrittweisen Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaft setzten. Die noch heute bestehende Fabian Society sprach sich für einzelne Reformen aus, mit denen nach und nach Fortschritt und Veränderung erreicht werden könnten.

Diese Erkenntnisse brachte Bernstein seinen deutschen Genossen mit aus dem Londoner Exil. Er warb für einen graduellen Wandel, bei dem ein Schritt auf den anderen folgte. Die Strategie, auf eine Revolution zu warten, nach der dann alles von einem Schlag auf den anderen anders würde, das schien ihm unrealistisch. Der große „Kladderadatsch“, von dem der langjährige Vorsitzende der SPD, August Bebel (1840–1913), redete, würde so schnell nicht kommen.

Mehr noch: Bernstein war skeptisch, dass eine komplexe und hochgradig ausdifferenzierte, moderne Gesellschaft ihre Funktionsweise von heute auf morgen durch eine ganz andere, alternative Funktionsweise ersetzen könne. Von einem Tag auf den anderen vom Kapitalismus in eine ganz andere Ordnung? Wie sollte das gelingen? Millionen von Wirtschaftsakteuren können nicht von heute auf morgen umgepolt werden.

Auch zweifelte Bernstein, dass ein unter kapitalistischen Bedingungen sozialisiertes Proletariat sich unmittelbar für eine alternative Gesellschaftsform entscheiden werde. Im Gegenteil, wer die Selbstbestimmungsrechte der gesellschaftlichen Individuen ernst nimmt und wenn Wandel breit gesellschaftlich getragen sein soll (und nicht nur durch eine Elite vorgegeben), dann kann das realistischerweise nur in kleinen Schritten erfolgen.

Damit verband sich auch ein striktes Bekenntnis zur Demokratie. Sie war nach Bernstein „Mittel und Zweck zugleich“ (Bernstein, 1984 [1899]: 253). Sie war Mittel, um mit demokratischen Mehrheiten Veränderungen zu erreichen, und Zweck, weil nur in einer demokratischen Gesellschaft die gleichen Rechte und größtmöglichen Freiheitsspielräume für jeden erreicht werden können.

Eine Transformation der Gesellschaft müsse nach Bernstein durch Reformen aus dem bestehenden System gelingen. Veränderungen, die in Richtung eines veränderten gesellschaftlichen Interesses wirken, „müssen als Teillieferungen der Sozialismus selbst“ (Meyer, 1977: 180) verstanden werden. Es geht, so eine andere prominente Formulierung, um ein „Hineinwachsen in den Sozialismus“.

Entscheidend dabei ist, dass es nicht um jedwede Veränderung geht, sondern eine zielgerichtete Veränderung. An dieser Stelle führt Bernsteins vielleicht berühmtestes Zitat über das „Endziel des Sozialismus“ in die Irre: „Dieses Ziel, was immer er sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Bernstein, 1898: 556) Er hat später (Bernstein, 1984 [1899]: 201 ff.) erläutert, dass es nicht um irgendwelche Veränderungen geht, sondern um Bewegung in Richtung umfassender Selbstbestimmung für alle Individuen in der Gesellschaft. Das Endziel dieser Bewegung sei allerdings kaum abstrakt zu benennen und schon gar nicht im Vorhinein festzulegen, da sich Gesellschaften und ihre Bedingungen immer ändern. Das, was Sozialismus ist, kann nicht von vornherein festgelegt werden.

In Bewegung bleiben, die gesellschaftlichen Verhältnisse und den Fortschritt fest im Blick und Schritt für Schritt daran arbeiten, ohne die naive Idee, dass mit einem Schlag alles ganz anders werden könnte. Diesen Mix aus Radikalität und realistischem Blick für die Veränderungsbereitschaft der Menschen hat Bernstein dem demokratischen Sozialismus hinterlassen. Dass es dafür vor allem eine Veränderung im Denken braucht, haben schließlich auch die Beatles aufgegriffen: „You’d better free your mind instead!“ – singen sie in „Revolution“.


Über den Autor

Prof. Dr. Christian Krell (1977) lehrt Politikwissenschaften und Soziologie. Er hat zur Europapolitik sozialdemokratischer Parteien promoviert und war von 2006 bis 2018 Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort leitete er die Akademie für Soziale Demokratie und das Büro für die Skandinavischen Länder in Stockholm. Von 2018 bis 2021 war er Professor für Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes, seit 2021 ist er an der HSPV NRW. Die Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte wird von Krell mitherausgegeben, und er ist Honorarprofessor der Rheinischen Wilhelms-Universität Bonn.


Werk

  • Krell, C. (2024). Eine Idee für morgen: Über die Aktualität des Demokratischen Sozialismus. Schuren.
    ISBN 978-3-7410-0288-5.

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