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Hören Sie das zweite Kapitel auch als Hörbuch. (Hörzeit 9:34 Minuten)
Keine Freiheit, nirgends. So lässt sich die Situation für die allermeisten Menschen in Europa im ausgehenden 18. Jahrhundert beschreiben. Der Feudalismus begründete Gesellschaften, in denen die Landesherren ihre Untertanen fest im Griff hatten. Manche Menschen waren wie Waren im Besitz weniger Adeliger. Freiheitsrechte waren kaum und wenn, dann nur für einzelne Gruppen in den Gesellschaften vorhanden. Mit einer neuen Wirtschaftsform – dem sich von England ausbreitenden Industriekapitalismus – änderte sich in den Freiheitsspielräumen der Menschen zunächst nur wenig. Er wirbelte zwar die Gesellschaften durcheinander, der Adel verlor an Bedeutung und neue soziale Klassen entstanden, aber er führte auch zu neuen Formen der Ausbeutung. Zu Millionen mussten sich Männer, Frauen und Kinder in den Fabriken verdingen, die etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schossen. Die kapitalistische Produktionsweise schuf unglaubliche Reichtümer in rascher Zeit – von denen aber nur die wenigsten profitierten. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der allermeisten waren von Hunger, Ausbeutung, Not und einem ständigen Überlebenskampf geprägt. Unfreiheit und Ungleichheit – das ist der Hintergrund, vor dem erste sozialistische Ideen entstanden. Es ist kein Zufall, dass die französischen und englischen Frühsozialisten dabei eine Vorreiterrolle einnahmen. Denn in Frankreich und Großbritannien entfalteten sich die Entwicklungen, die die alte, mittelalterlich-ständische Gesellschaft zum Erliegen brachten, früher als in anderen Teilen Europas.
Einer der bekanntesten französischen Frühsozialisten war Claude-Henri de Saint-Simon (1760–1825). Er sah weniger im Industriekapitalismus selbst als im Privatbesitz von Produktionsmitteln die Ursache für Ausbeutung. Saint-Simon und seine Schüler traten dafür ein, dass die Produktionsmittel letztlich im Besitz des Staates bleiben sollten. Einen etwas anderen Weg schlug Robert Owen (1771–1858) vor. Auch er sah den Privatbesitz an Produktionsmitteln problematisch, aber schlug vor, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen sich in Produktionsgenossenschaften selbst organisierten. So sollte der Ertrag ihrer Arbeit auch vollständig in ihren Händen bleiben.
In Deutschland nahm der Schneidergeselle Wilhelm Weitling (1808–1871) eine wichtige Rolle ein. Er betonte, dass alle Menschen frei und gleich seien. Dabei müssten aber immer auch die Grenzen anderer berücksichtigt werden. Die Freiheit des einen dürfe also nicht auf Kosten der Freiheit anderer durchgesetzt werden. Es ist mehr als ein Zufall, dass seine Überlegungen an den kategorischen Imperativ des bekanntesten deutschen Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant (1724–1804), erinnern. Weitling schrieb: „Jeder besitzt außerhalb des Rechts Anderer die größtmögliche Freiheit seiner Handlungen und Reden“ (Weitling, 1845 in Krell/Woyke, 2015: 98).
So unterschiedlich die jeweiligen Frühsozialisten im Detail auch gedacht haben mögen, sie hat vieles verbunden. Sie verfolgten die Idee einer Gesellschaft, in der die Menschen frei und gleich sind in ihren Rechten. Und das in einer Zeit, in der politisch, ökonomisch und sozial völlige Ungleichheit herrschte. Deshalb verbanden sie ihre Forderungen nach gleichen politischen Rechten auch mit wirtschaftlichen und sozialen Forderungen: Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sollte überwunden werden durch eine harmonische und solidarische Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft.
Damit werden Überschneidungen und Unterschiede zu einer anderen politischen Idee deutlich, die auch in dieser Zeit entstand: Der politische Liberalismus. Mit ihm teilten die Frühsozialisten die Vorstellung, dass alle Menschen über gleiche Rechte verfügten. Der politische Liberalismus beschränkte diese Idee aber im Wesentlichen auf den Bereich politischer und bürgerlicher Freiheitsrechte. Dass auch wirtschaftliche und soziale Rechte maßgeblich sind, um tatsächlich Unfreiheit und Not zu überwinden und jedem gleiche Freiheitsspielräume im Leben zu ermöglichen – das war die Perspektive der Sozialisten, die die Liberalen in der Mehrheit nicht teilten.
In dieser Zeit der Frühsozialisten entstand auch schon eine erste Unterscheidung zwischen Sozialismus und Kommunismus. Die Sozialisten galten als diejenigen, die ein gesellschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln wie Fabriken, Rohstoffen oder Maschinen vorsahen, aber darüber hinaus nicht in den Privatbesitz eingriffen. Die Kommunisten galten als diejenigen, die darüber hinaus eine umfassende Gütergemeinschaft forderten, also weitgehend ohne jeden Privatbesitz (vgl. Offermann, 1986: 191).
Die bis heute bekanntesten Denker zu den Ideen des Sozialismus sind Karl Marx und Friedrich Engels. Ihre Werke gehören – nach religiösen Werken wie der Bibel oder dem Koran – zu den auflagenstärksten Publikationen weltweit. Sie hatten erheblichen Einfluss auf Theorie und Praxis des Sozialismus. Und das ist kein Zufall. Auch heute noch wird die Kraft ihrer Sprache sofort deutlich: Sie wollten Ausbeutung überwinden und ein „Reich der Freiheit“, in dem „das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“ (MEW 25: 828).
Ausgangspunkt ihrer Analyse war – ähnlich wie bei den Frühsozialisten – die Untersuchung der verheerenden Realität des Industriekapitalismus. Sie verstanden sich aber als diejenigen, die einen wissenschaftlichen Sozialismus verfolgten. Es ging ihnen darum, mit wissenschaftlichen Methoden und Standards politische Positionen zu begründen, nicht nur mit moralischen Urteilen. Sie kamen zu dem Schluss, dass es zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte Klassengegensätze gegeben habe – zwischen Sklaven und Sklavenhaltern oder zwischen Adeligen und Leibeigenen zum Beispiel. Diese Gegensätze haben sich dann in Revolutionen entladen, die wiederum die Gesellschaften insgesamt auf eine höhere Entwicklungsstufe gebracht hätten. Die vormaligen Gegensätze waren darin aufgehoben. In diesem dialektischen Ansatz nahmen Marx und Engels Bezug zu den Ideen des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831).
Marx und Engels gingen davon aus, dass auch der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts mit seiner Ausbeutung und Unfreiheit zerbrechen werde. Diese Gesellschafts- und Wirtschaftsform, in der eine Klasse – die Bourgeoisie – auf Kosten einer anderen – des Proletariats – lebte, würde überwunden zugunsten einer Gesellschaft der Freien und Gleichen: „An Stelle der Klassen und Klassengegensätze tritt eine Assoziation (der Produzenten), worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4: 482).
Die Marx-Engels’sche Emanzipationsidee war hoch attraktiv. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verbreitete sie sich und beeinflusste die Parteien der Arbeiterbewegung (vgl. Morina, 2017). Auch die deutsche SPD griff im Erfurter Programm (1891) wesentliche Thesen aus Marx’ Kapital auf. Neben den konkreten Ideologiebausteinen, die in die Programmatik des demokratischen Sozialismus einflossen, waren Marx und Engels auch Symbolfiguren, die die politischen Bewegungen des Sozialismus mit ihrer Verheißung eines Siegs der Arbeiterklasse und einer freien Gesellschaft motiviert haben.
Der ikonische Charakter von Marx und Engels verkleisterte den Blick auf Widersprüche und ungelöste Fragen in ihrem Werk. So ist unklar, wie genau denn der Übergang von einem Reich der Notwendigkeit zu einem Reich der Freiheit gelingen könne. Der Verweis auf Revolutionen als „Lokomotiven der Geschichte“ (MEW 7: 85), die den Fortschritt bringen werden, lässt mehr offen, als er erklärt. Thomas Meyer (1973) hat deutlich gemacht, dass in Marx’ Werk sowohl die Möglichkeit eines radikalen ökonomischen und politischen Bruchs durch eine Revolution angelegt war, als auch die Möglichkeit einer schrittweisen Veränderung durch demokratische Reformen. Kein Wunder also, dass sich in der Folge alle möglichen politischen Bewegungen und Praktiken auf Marx und Engels berufen konnten.
Bereits bei Engels gibt es einen Hinweis darauf, dass es unterschiedliche Strömungen im sozialistischen Lager gäbe. Es gäbe die „demokratischen Sozialisten“, die ähnliche Maßnahmen treffen wollten wie die Kommunisten, zum Beispiel die Errichtung einer demokratischen Staatsverfassung, „aber nicht als Übergangsmittel zum Kommunismus, sondern als Maßregeln, welche hinreichend sind, um das Elend aufzuheben und die Übel der jetzigen Gesellschaft verschwinden zu machen“ (MEW 4: 378).
Was bleibt von Marx, Engels und den Frühsozialisten für den demokratischen Sozialismus? Sie haben die Umbrüche ihrer Zeit gedeutet, eine für die junge Arbeiterbewegung motivierende Erzählung entfaltet, die Idee des Sozialismus in die Welt getragen und das Bild einer Gesellschaft ohne Ausbeutung beschrieben, in der die Menschen gleichermaßen frei sind und entsprechend ihrer Neigungen und Bedürfnisse leben können. Allerhand für den Auftakt.
Prof. Dr. Christian Krell (1977) lehrt Politikwissenschaften und Soziologie. Er hat zur Europapolitik sozialdemokratischer Parteien promoviert und war von 2006 bis 2018 Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort leitete er die Akademie für Soziale Demokratie und das Büro für die Skandinavischen Länder in Stockholm. Von 2018 bis 2021 war er Professor für Staatsrecht und Politik an der Hochschule des Bundes, seit 2021 ist er an der HSPV NRW. Die Zeitschrift Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte wird von Krell mitherausgegeben, und er ist Honorarprofessor der Rheinischen Wilhelms-Universität Bonn.