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Jugend und Politik: Eine Beziehung in der Krise

Politische Parteien erreichen junge Wähler_innen nicht mehr. In einer digitalen Welt müssen sie ihre Botschaften klar und authentisch formulieren. Aber reicht das aus, um die Zukunft der Demokratie zu sichern?

 

In einem Blogbeitrag für eine renommierte deutsche Tageszeitung hat der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kürzlich die demografische Ausrichtung der politischen Parteien vor der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar einer kritischen Bewertung unterzogen. Sein Fazit war ernüchternd: „Wir können uns die Zukunft derzeit nicht leisten“, schrieb er und nannte als zentrales Wahlkampfthema die massive Umverteilung von Jung zu Alt. Mit anderen Worten: Die jüngeren Generationen zahlen für die älteren – koste es, was es wolle.
 

Kein Wunder, dass dieses Modell bei den unter 30-Jährigen nicht besonders gut ankommt. Und hier zeigt sich auch eine grundsätzlichere Herausforderung: Die politischen Parteien müssen ihre Wahlkampagnen überdenken, damit sie junge Leute besser erreichen. Natürlich ist es wichtig, ihre Sorgen zu verstehen. Genauso wichtig ist aber die Erkenntnis, dass ihre politischen Social-Media-Aktivitäten Jugendliche und junge Erwachsene zum größten Teil nicht ansprechen. In einer Zeit, in der die meisten unter 30-Jährigen das Nachrichtengeschehen hauptsächlich über die sozialen Medien verfolgen, sollten die Parteien nicht oberflächlich kommunizieren und Strategien entwickeln, mit denen sie diese Zielgruppe tatsächlich erreichen.
 

Junge Wahlberechtigte und politische Öffentlichkeitsarbeit

Nach den Wahlen zum Europaparlament 2024 haben wir untersucht, wie Parteien junge Wähler_innen ansprechen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass junge Menschen zunehmend auf soziale Medien setzen und rechtsradikale Parteien bei der Mobilisierung junger Menschen erfolgreich sind. Wir wollten Antworten auf folgende Schlüsselfragen finden: Wie wirksam setzen politische Parteien soziale Medien ein? Welche Strategien verfolgen sie dabei? Schaffen es rechtsradikale Parteien besser als andere, Jugendliche und junge Erwachsene für sich zu gewinnen?

Um diese Fragen auszuloten, haben wir Instagram- und Facebook-Posts politischer Parteien in Deutschland, Ungarn, Polen und Schweden analysiert – also Länder mit unterschiedlichen politischen Landschaften. In unsere Studien haben wir rechtsradikale, grüne, konservative und sozialdemokratische Parteien einbezogen.
 

Politik ist wichtig – aber das reicht nicht

Das Eurobarometer nach den Wahlen widerlegte die Annahme, Politik sei zu „trocken“, um junge Wähler_innen zu mobilisieren. Die Daten zeigten vielmehr, dass für die Wahlentscheidung eine maßgebliche Rolle spielt, ob Politik zu den persönlichen Wertvorstellungen passt. Die Themen, die junge Menschen dazu bewegen, sich zu engagieren, sind jedoch regional unterschiedlich:

  • In ganz Europa standen wirtschaftliche Sorgen im Vordergrund – besonders in Süd- und Osteuropa, wo die Pandemie und die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt weiter nachwirken.
  • Der Klimawandel rangierte in Nordeuropa an erster Stelle.
  • In Osteuropa spielten wegen des russischen Kriegs in der Ukraine Sorgen um die Sicherheit eine wichtige Rolle, während in Westeuropa Fragen der persönlichen Sicherheit an Bedeutung gewannen.

Die etablierten Parteien haben diese Anliegen zwar aufgegriffen, aber ihre Botschaften waren oft nicht kohärent genug und ließen eine Zukunftsvision vermissen. Viele Jugendliche und junge Erwachsene sorgen sich um ihre Zukunft – um Arbeitsplätze, finanzielle Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Um sie für sich zu gewinnen, müssen politische Parteien eine überzeugende Vision für die Zukunft anbieten, die sich konkret umsetzen lässt und in der junge Menschen sich mit der Perspektive auf ein gutes Leben wiederfinden können.
 

Mehr Posts, weniger Wirkung? Das Problem der Zielgruppenbindung

Unsere Studie ergab, dass rund elf Prozent aller mit den Wahlen zusammenhängenden Posts sich gezielt an junge Menschen richteten. Die meisten Posts mit Bezug zu jungen Menschen wurden von sozialdemokratischen Parteien abgesetzt, aber bei der Zielgruppenbindung schnitten rechtsradikale Parteien durchweg besser ab. Den ersten Platz belegten hierbei die Schwedendemokraten, gefolgt von der AfD in Deutschland und der Konfederacja in Polen. Noch deutlicher macht sich dieser Trend auf TikTok bemerkbar, wie eine weitere Studie im Rahmen unseres Projekts ergab.

Ein Grund dafür ist die stilistische Gestaltung der Inhalte. Rechtsradikale Parteien arbeiten oft mit provokativen, emotional aufgeladenen Botschaften, die von den Algorithmen der sozialen Medien damit belohnt werden, dass sie Inhalten, die Reaktionen auslösen, eine größere Reichweite verschaffen. Viele rechtsradikale Gruppierungen haben dieses Vorgehen im Laufe der Zeit optimiert und nutzen Narrative nach dem Schema „Wir gegen die anderen“, um die Zielgruppe stärker an sich zu binden.
 

Implikationen für die Sozialdemokratie

Progressive Parteien sollten die Strategien der radikalen Rechten analysieren, aber nicht darauf verzichten, eine eigene digitale Präsenz zu entwickeln, die überzeugt. Wer nur auf extremistische Rhetorik reagiert, wird es schwer haben, eine proaktive und optimistische Perspektive zu vermitteln, die junge Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Die Stimmen junger Wahlberechtigter sind eine politische Kraft, die bislang weitgehend ungenutzt bleibt. Fast zwei Drittel der jungen Europäer_innen haben nicht an den Europawahlen 2024 teilgenommen. Schon eine geringfügig höhere Wahlbeteiligung junger Erwachsener könnte die Wahlergebnisse deutlich verändern. Für sozialdemokratische Parteien ist das nicht nur eine Chance, sondern Pflicht.

Untersuchungen liefern die ermutigende Erkenntnis, dass sozialdemokratische Parteien bei jungen Wähler_innen nach wie vor als glaubwürdig ankommen. Es reicht allerdings nicht, bei jungen Erwachsenen angesagte Themen wie soziale und ökonomische Ungleichheit oder den Klimawandel aufzugreifen. Die sozialdemokratischen Parteien müssen mehr tun, als nur die radikale Rechte zu kritisieren. Sie brauchen eine Vision, die Hoffnung vermittelt, Chancen aufzeigt und echte politische Lösungen bietet. Versprechungen alleine helfen nicht. Vertrauen und eine langfristige Bindung erreichen die Parteien nur, wenn sie Veränderungen bewirken, die im Alltag spürbar werden.
 

Wege zur erfolgreichen Zielgruppenbindung in den sozialen Medien

Damit überzeugende Politik in eine digitale Öffentlichkeitsarbeit übersetzt wird, die Wirkung zeigt, braucht es kurzfristige und langfristige Strategien.

Kurzfristige Verbesserungen:

  1. Komplexe politische Zusammenhänge vereinfachen – Komplizierte Inhalte in klare, nachvollziehbare Botschaften übersetzen, in denen Jugendliche und junge Erwachsene sich mit ihren Alltagserfahrungen wiedererkennen.
  2. Storytelling nutzen – Konkrete alltägliche Probleme wie Studiengebühren, unsichere Arbeitsplätze und psychische Gesundheit thematisieren, statt abstrakte politische Diskussionen zu führen.
  3. Mitwirkung fördern – Weg von einseitiger Kommunikation hin zu echter Einbindung durch nutzergenerierte Inhalte, Q&A-Live-Formate und Peer-to-Peer-Netzwerke.

Langfristige Lösungen:

  1. Die Auseinandersetzung mit den Dynamiken der Online-Plattformen führen – Social-Media-Algorithmen priorisieren Inhalte, die Empörung auslösen. Wenn dem nichts entgegengesetzt wird, verschiebt sich der demokratische Diskurs zugunsten extremer Positionen.
  2. Transparenz schaffen – Regulatorische Maßnahmen mit dem Ziel, Algorithmen transparent zu machen und weniger Anreize für toxische Inhalte zu schaffen, sind essenziell, wenn erreicht werden soll, dass junge Menschen sich für „gesündere“ politische Inhalte engagieren.
  3. Sich auf die digitale Transformation einlassen – Die progressiven Kräfte können es sich nicht leisten, sich aus den digitalen Räumen zurückzuziehen, sondern müssen sie zu Plattformen für sinnvolle politische Diskurse umgestalten.
     

Eine Zukunft, für die zu kämpfen sich lohnt

In welche Richtung sich die Sozialdemokratie künftig bewegen muss, ist klar: Wenn sie Jugendliche und junge Erwachsene erreichen will, muss sie deren zentrale Anliegen – wirtschaftliche Sicherheit, Klimawandel, soziale Inklusion – thematisieren und ein überzeugendes Hoffnungs- und Fortschrittsnarrativ bieten, das auf die Zukunft ausgerichtet ist. Dass junge Wähler_innen dort abgeholt werden, wo sie sich bewegen – also auf den Plattformen, die sie nutzen, und in einer Sprache, die sie verstehen – ist essenziell. Doch echte Zielgruppenbindung darf sich nicht auf Wahlzyklen beschränken. Wenn progressive Parteien sich den Zuspruch junger Menschen nachhaltig sichern wollen, dürfen sie diese nicht nur zur Wahl mobilisieren, sondern müssen mit konkreter Politik die Lebensbedingungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbessern. Die jungen Europäer_innen bilden keine homogene Gruppe; was ihnen wichtig ist, unterscheidet sich je nach Region und Lebensumständen. Authentizität, Verständlichkeit und eine mutige Vision erzeugen immer eine größere Resonanz als die bloße Menge der Social-Media-Inhalte. Wenn die Sozialdemokraten diese Herausforderung annehmen, werden sie nicht nur Stimmen hinzugewinnen, sondern dazu beitragen, dass bei einer neuen Generation engagierter Bürger_innen die europäische Demokratie wieder gestärkt wird.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Der Originalbeitrag wurde veröffentlicht bei Social Europe.


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