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Wie sozialdemokratisch ist die NATO? Der Blick zurück auf ihre Gründung 1940–1960 zeigt überraschende Ursprünge und ungewohnte Allianzen.
von Stefan Müller
Wer die 1949 gegründete NATO als sozialdemokratische Erfindung bezeichnet, dürfte vor allem in Deutschland für Erstaunen sorgen: bei Sozialdemokrat:innen, weil sich die Gründung eines Militärbündnisses schwer mit den Friedenszielen ihrer Partei vereinbaren lässt; bei Konservativen, weil sie die militärische Verteidigung der Heimat traditionell als ihr ureigenes Anliegen betrachten.
Die Gründungsidee zur NATO geht auf den norwegischen Sozialdemokraten Trygve Lie zurück. Dieser hatte sich 1940 während der deutschen Besatzung Norwegens als Mitglied der Exilregierung in London an das britische Foreign Office mit der Idee eines europäischen Verteidigungsbündnisses gewandt. Der Hintergrund war, auch über das Kriegsende hinaus Schutz vor dem deutschen Imperialismus zu organisieren. Lie stieß mit seiner Idee auf offene Ohren. Angesichts der Kriegslage war es für ihn und die anderen Beteiligten selbstverständlich, dass ein solches Bündnis nur mit Unterstützung der USA denkbar war. Nach 1945 veränderte sich jedoch das Gefahrenszenario. Nun nahm die Furcht vor einem sowjetischen Angriff auf Westeuropa zu und die britische Regierung – jetzt geführt von Labour unter Clement Attlee – forcierte ihre Anstrengungen, das Verteidigungsbündnis Realität werden zu lassen. Im März 1947 gelang es ihm, mit dem französischen sozialistischen Interimsregierungschef Leon Blum ein bilaterales Verteidigungsabkommen zu schließen – den Vertrag von Dünkirchen. Ein Jahr später schlossen sich die Niederlande, Luxemburg und Belgien diesem Bündnis an (Brüsseler Pakt). Damit war der Grundstein der NATO gelegt – es fehlten aber noch die USA.
In den USA dominierten zu diesem Zeitpunkt noch die Stimmen, die sich gegen ein längerfristiges militärisches Engagement in Europa aussprachen. Stattdessen sollte die europäische Bindung an die USA durch wirtschaftliche Maßnahmen garantiert werden (Marshall-Plan). Insbesondere wehrten sich die USA gegen einen vertraglichen Automatismus zum militärischen Beistand, wie er im Brüsseler Pakt enthalten war. Der kommunistische Umsturz in der Tschechoslowakei im Februar 1948 und die von der Sowjetunion verhängte Blockade gegen Berlin ab Juni 1948 ließen die Stimmung in den USA jedoch kippen. Ab Sommer 1948 wurde über den Inhalt des Beistandspaktes verhandelt. Den USA war zum einen wichtig, dass sich die Beistandsverpflichtungen der NATO auf die UN-Charta bezogen. Der republikanische Senator Arthur H. Vandenberg hatte dies in einer vom Senat im Juni 1948 beschlossenen Resolution an die US-Regierung formuliert. Zum anderen wandte man sich weiterhin gegen einen Beistandsautomatismus. In den folgenden Monaten kam es über den französischen Wunsch einer unmittelbaren Entsendung US-amerikanischer Truppen nach Frankreich noch einmal zu Komplikationen. Großbritannien übte nun einerseits Druck auf Frankreich aus, sich zu mäßigen, und versuchte andererseits, die USA an Bord zu halten. Die finale Formulierung von Artikel 5 im NATO-Vertrag kam den unterschiedlichen Interessen entgegen: Erstens verweist der militärische Beistand auf das in der UN-Charta verankerte Recht auf Selbstverteidigung (Artikel 51). Zweitens schließt der Beistand für das angegriffene Land die „Anwendung von Waffengewalt“ ein – eine zentrale Forderung der Europäer:innen. Drittens ergreift im Bündnisfall jedes Mitglied jedoch nur solche Maßnahmen, die es “für erforderlich erachtet”, womit der Artikel 5 einen kriegsauslösenden Automatismus verhindert – eine Forderung der USA.
Kurz vor Vertragsschluss forderte Frankreich den Beitritt Italiens, um neben dem Nordatlantik auch das Mittelmeer abzusichern. Die USA reagierten mit einseitigen Einladungen an Dänemark, Portugal und Island. Gemeinsam mit Kanada, den Staaten des Brüsseler Pakts (Belgien, Luxemburg, Niederlande), Norwegen und Großbritannien gründeten schließlich zwölf Staaten die NATO – ein Bündnis, das die gesamte Atlantikküste Europas abdeckte. Die strategisch wichtige Lage Portugals – inklusive seiner Besitzung auf den Azoren – war dabei ein entscheidender Grund für die Aufnahme.
Ein enges Militärbündnis stellte die NATO 1949 aber noch nicht dar - vielmehr handelte es sich zunächst um eine vertraglich vereinbarte Absichtserklärung. Erst der Koreakrieg brachte den entscheidenden Impuls, eigene Militärstrukturen auszubauen.
Nicht nur die Idee zur NATO kam aus dem sozialdemokratischen Lager – auch an ihrer Gründung waren sozialdemokratische Regierungen maßgeblich beteiligt. Von den zwölf Gründungsmitgliedern wurden sechs Länder von sozialdemokratischen oder Arbeiterparteien regiert, sei es allein oder in Koalitionen: Belgien, Dänemark, Island, Norwegen, die Niederlande und Großbritannien. In Frankreich stellten ferner die Sozialist:innen mit Vincent Auriol den Präsidenten, in den USA regierte der Demokrat Harry S. Truman. Lediglich Kanada, Italien und Luxemburg wurden von liberalen oder konservativen Parteien geführt. Hinzu kam das diktatorisch regierte Portugal.
Die Gründung der NATO war keineswegs selbstverständlich. Zunächst mussten sich Europa und Nordamerika darauf verständigen, sich gemeinsam gegen die Sowjetunion zu verteidigen. Sozialdemokrat:innen, Konservative und Liberale zogen dabei an einem Strang. Doch es gab sensible Wegmarken, in denen sozialdemokratische und Arbeiterparteien eine zentrale Rolle spielten: die ursprüngliche Initiative des Norwegers Trygve Lie noch inmitten des Kriegs, die kontinuierlichen Bemühungen der britischen Labour-Regierung nach 1945 und schließlich das von Großbritannien und Frankreich geschlossene Abkommen von Dünkirchen im Jahr 1947.
Nach der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg dominierten in der deutschen Sozialdemokratie zunächst pazifistische Haltungen. Eine Wiederbewaffnung der 1949 gegründeten Bundesrepublik kam für sie nicht in Frage – auch wenn die SPD mit Artikel 4 Absatz 3 ins Grundgesetz hineinverhandelte, dass niemand „gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden” dürfe. Der Koreakrieg veränderte die sicherheitspolitische Haltung: SPD-Vorsitzender Kurt Schumacher erkannte nun die Notwendigkeit einer Landesverteidigung an.
Dennoch lehnte die SPD sowohl die Gründung der Bundeswehr 1955 als auch den NATO-Beitritt Westdeutschlands ab. Die Sozialdemokrat:innen sahen im Militärbündnis die Gefahr, die Ost-West-Spaltung zu zementieren und die erhoffte Wiedervereinigung mit der DDR zu behindern. Die deutsche Einheit war den Sozialdemokrat:innen in den 1950er-Jahren wichtiger als die europäische Einigung.
Im Verlauf der 1950er-Jahre wich die Ablehnung des NATO-Beitritts einer zunehmenden Kritik an der Militärstrategie des Bündnisses. Anlass war die 1957 verabschiedete Strategie der “massiven Vergeltung” (massive retaliation), die vorsah, jeden sowjetischen Angriff – auch konventioneller Art - mit umfassenden Nuklearschlägen zu beantworten. Im Ernstfall wäre das Gebiet der Bundesrepublik und der DDR zum Austragungsort eines Atomkriegs geworden.
In den späten 1950er-Jahren setzte in der SPD ein Umdenken ein – angestoßen durch die intensive Arbeit einer Reihe von Sicherheitspolitikern. Dazu zählten Fritz Erler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Friedrich Beermann, der 1952 den Begriff des “Staatsbürgers in Uniform” prägte und 1968 der erste Bundeswehrgeneral mit SPD-Parteibuch wurde, sowie Helmut Schmidt.
Auf ihrem Parteitag im November 1960 bekannte sich die SPD schließlich zur NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik. Helmut Schmidt sollte sich in den folgenden Jahren zum militärstrategischen Vordenker in der SPD entwickeln und von 1969 bis 1972 der erste sozialdemokratische Verteidigungsminister der Bundesrepublik werden.
Dr. Stefan Müller leitet das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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