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Vorwort

von Birthe Kretschmer

Jürgen Habermas’ Untersuchung „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erschien erstmals 1962. (1) Was damals eine heiß diskutierte Analyse der modernen Öffentlichkeit war, ist zu einem Synonym geworden. Der Begriff „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wird heute verwendet, um den Einfluss der digitalen Kommunikationsmittel auf unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und unser Verhältnis zum Staat zu beschreiben.

 Welche Auswirkungen hat dieser digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit auf unsere demokratischen Werte, unsere gesellschaftliche Teilhabe und unseren Umgang mit Informationen? In Essays, Denkschriften, Analysen und Interviews beschäftigen sich die Autoren dieser Publikation mit der Frage, wie das Internet unsere Demokratie verändert. Der Medienkonsum, dieWissensgesellschaft und Internetkampagnen sind davon nur drei Aspekte, die es uns ermöglichen:

  •     Zivilgesellschaft in virtuellen Räumen zu leben,
  •     die demokratische Beteiligung sowie demokratische Beschlüsse transparenter zu machen,
  •     informierter zu sein als jemals zuvor über andere Privatpersonen und staatliche Institutionen sowie deren Akteure.

Im analogen Zeitalter bedeutete Partizipation u. a. das Engagement in politischen Parteien, den Gang zur Wahlurne oder das regelmäßige Lesen von Zeitungen. Diese Beteiligungsmöglichkeiten sind durch das Internet deutlich vielfältiger geworden, von E-Petitionen über Transparenz von Regierungsdokumenten bis hin zur Meinungsäußerung in Blogs. Dieses neue Verständnis von demokratischer Beteiligung führt auf der einen Seite zu großer Begeisterung ob der einfachen und vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite fürchten viele die Verdummung, das Versinken in Details oder die Oberflächlichkeit. Die Diskussionsreihe „Die digitale Öffentlichkeit“ versucht daher, eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, um so eine Brücke zu bauen zwischen der analogen und der digitalen Demokratie.

Doch warum sind wir eigentlich so unsicher, wenn es um das Thema Internet geht?

Das World Wide Web hat nicht nur die Welt zu einem Dorf gemacht, es bringt auch einen Innovationszyklus mit sich, der schneller ist als alle Zyklen zuvor – oder nutzen Sie noch Lycos? Unser Lebensrhythmus hat sich den Innovationen angepasst. Weil aber viele Neuerungen eine technische Komponente haben und für uns nicht immer sofort durchschaubar sind, entstehen Ängste.

Ebenso geht es uns mit unserer Demokratie. Was passiert, wenn wir nicht mehr zur Demonstration gehen, sondern uns per Internet an Kampagnen beteiligen? Die E-Petition gegen Internetsperren gilt als eine der erfolgreichsten. Plattformen wie campact.de geben allen Menschen, egal wo sie wohnen und welche Arbeitszeiten sie haben, die Möglichkeit, sich mit Themen zu beschäftigen, die für sie ganz persönlich relevant sind. Während früher also die Zugehörigkeit zu einer Partei oder Organisation das Engagement zeitlich und inhaltlich vorgab, entspricht die Beteiligung per Web der flexiblen Lebensweise, die heute von uns gefordert wird. Doch welche Qualität hat eine Beteiligung per Mausklick für unsere Demokratie? (2)

Auch unsere Mediennutzung hat sich verändert. YouTube, Mediatheken, Nachrichtenseiten und das mobile Internet führen dazu, dass wir auf Inhalte, die für uns relevant sind, jederzeit und überall zugreifen. Dabei machen wir keinen Unterschied mehr, ob die Nachrichten um 20 Uhr laufen oder ob wir sie um 21:30 Uhr im Internet ansehen. Wir holen uns Informationen, wann wir wollen, von wo wir wollen, und konsumieren sie auf dem Endgerät, welches gerade am besten passt.

Das Internet bietet uns einen freien, einfachen und jederzeit nutzbaren Zugang zu Informationen und ebenso zu Wissen. Während das Wissen heute leichter zugänglich ist, als jemals zuvor, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das auf unsere Demokratie hat. Die Arbeit von Politikern, von Journalisten, Richtern und Beamten wird transparenter und damit leichter überprüfbar. (3) Der mündige Bürger erlangt eine Überprüfungsmacht, die er sich im analogen Zeitalter allerhöchstens erstreiten konnte. Gleichzeitig berichten Dozenten an Universitäten, dass Studenten zunehmend Probleme haben, komplexe Texte zu durchdringen, verursacht u. a. durch die Verkürzung der Schuljahre und die Umstellung auf das Bachelorund Mastersystem an den Universitäten, die mehr Auswendiglernen denn kritisches Hinterfragen honorieren.Ein mündiger Bürger muss im digitalen Zeitalter daher mehr können, als nur Wissen auszuwählen und zu sortieren – er muss sich die Kompetenz erhalten, dieses zu durchdringen und zu überprüfen. Nur dann machen Open-Data-Projekte und die Rufe nach mehr Transparenz von Regierungshandeln wirklich Sinn. (4)

Das Thema Medienkompetenz führt uns zum Datenschutz. Unsere persönlichen Daten sind der Rohstoff des digitalen Zeitalters geworden. Nur so sind die unglaublichen Summen zu verstehen, mit denen Firmen wie Facebook bereits vor Börsengang bewertet werden. Der Datenschutzbeauftragte der Stadt Hamburg, Prof. Dr. Johannes Caspar, spricht von einer Überwachungsgesellschaft, die sich mit privaten Fotos und Videos, Nachrichten auf Social-Media-Plattformen oder durch das Googeln von Personen und die Überprüfung von Plagiaten selbst überwacht. (5) Gleichzeitig werden unsere Daten auch für den Staat immer relevanter: bei der Suche nach Verkehrssündern, terroristischen Zellen oder Schmuggel. Wie wir in Zukunft mit unseren persönlichen Daten umgehen, welches Verhältnis wir zu Informationen unserer Mitbürger und des Staates entwickeln, wird ein bestimmendes Thema bleiben. Dies zeigt u. a. die scharfe Diskussion über die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. (6)

Neben dem Einfluss des Medienkonsums, der Wissensgesellschaft und des Datenschutzes auf unsere Demokratie gilt es noch viele weitere Aspekte zu diskutieren. Daher kann die vorliegende Publikation keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Was können wir zum Beispiel gegen Cybercrime tun und wie prägt Cybermobbing unsere nachwachsenden Generationen? Wie gehen wir mit der Vorratsdatenspeicherung um, wie passt die Online-Durchsuchung in unseren Rechtsstaat? Diese und weitere Fragen werden auch in Zukunft in der FES-Reihe „Die digitale Öffentlichkeit“ diskutiert. Unter den Autoren dieser Publikation finden sich sowohl Gäste der Diskussionsreihe als auch Gastautoren. (7) Am Ende dieser Publikation finden Sie weiterführende Literatur und Links. Wenn wir Sie zum Nachdenken angeregt haben, dann fühlen Sie sich herzlich willkommen, die Beiträge zu kommentieren oder an einer der kommenden Veranstaltungen der Reihe „Die digitale Öffentlichkeit“ in Hamburg teilzunehmen. Leben Sie mit uns Demokratie im virtuellen wie im analogen Bereich.

(1) Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin 1962.

(2) Siehe dazu in dieser Publikation: Preisendörfer, Bruno: Demokratie als click ’n’ go, S. 17ff.

(3) Siehe dazu in dieser Publikation: Wiefelspütz, Dr. Dieter: Die Hoheit der Information und außerparlamentarische Kontrolle im digitalen Zeitalter, S. 91ff.

(4) Siehe dazu in dieser Publikation: Özoguz, Aydan: Medienkompetenz – Herausforderung in der digitalen Gesellschaft, S. 31ff.

(5) Siehe dazu in dieser Publikation: Caspar, Prof. Dr. Johannes: Daten – Rohstoff der digitalen Gesellschaft, S. 83ff.

(6) Ein anschauliches Beispiel, was persönliche Daten erzählen können, zeigt diese interaktive Grafik: ZEIT Online: Verräterisches Handy, 31.08.2009. www.zeit.de/datenschutz/malte-spitz-vorratsdaten

(7) Einen Überblick über die Veranstaltungen der Reihe „Die digitale Öffentlichkeit“ finden Sie auf S. 108ff.


Birthe Kretschmer ist freie Journalistin, Trainerin und Beraterin für crossmedial arbeitende Verlage und schult Journalisten in Europa und Indien im Umgang mit dem Internet. Für die FES moderiert sie u. a. die Diskussionsreihe „Die digitale Öffentlichkeit“.

kontakt(at)birthe-kretschmer.de


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