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Medienkompetenz

Herausforderung in der digitalen Gesellschaft
von Aydan Özoguz


Das Wort „Medienkompetenz“ löst mittlerweile höchst unterschiedliche Reaktionen aus: Die einen können es kaum noch hören, beschäftigen sich seit Jahrzehnten damit. Die anderen finden, dass es noch viel zu tun gebe und wir gerade in vielen Bildungseinrichtungen, aber auch in Elternhäusern, erst am Anfang des Weges stünden. Beide haben recht und nur eine Verbindung der bereits gemachten Erfahrungen sowie eine zielgerichtete Strategie für die Zukunft können den Kreis durchbrechen, in dem man sich mitunter miteinander dreht.

Unbestritten ist, dass der Begriff „Medienkompetenz“ in den letzten Jahren reichlich inflationär gebraucht wurde, allerdings haben viele, die ihn verwenden, wohl nur ein relativ vages Bild, was damit genau gemeint sein könnte. Medienkompetenz gilt vielen als Allheilmittel für diverse Probleme und Phänomene im Umgang mit dem Internet. Hier nur ein paar Beispiele, zu welchen Gelegenheiten gerne nach mehr Medienkompetenz gerufen wird: Seniorinnen und Senioren, die in Abofallen tappen, Schülerinnen und Schüler, die zu Mobbingopfern im Internet werden, Eltern, die für die illegalen Downloads ihrer Kinder aufkommen müssen, und natürlich der Klassiker aller Beispiele, die wilden Partyfotos des Nachwuchses bei Facebook oder anderen sozialen Plattformen, die dann irgendwann hervorgeholt werden könnten, wenn es um den ersten Job geht.
  
Was beinhaltet dieser vage Begriff „Medienkompetenz“ und wie wird man zum medienkompetenten Nutzer in einer Gesellschaft, die ganz selbstverständlich mehr und mehr auch im digitalen Raum zu Hause ist? Kann allein mit Medienkompetenz allen Unwägbarkeiten vorgebeugt werden? Wer sich länger mit dem Begriff „Medienkompetenz“ befasst, wird feststellen, dass es in der Wissenschaft zahlreiche Begriffsbestimmungen und Eingrenzungen gibt. Am bekanntesten ist wohl das Bielefelder Modell von Dieter Baacke (1), das in den letzten Jahren von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Erst kürzlich hat die Projektgruppe Medienkompetenz der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages den Versuch unternommen, den Begriff „Medienkompetenz“ für ihre Arbeit handhabbar zu machen:

„Medienkompetenz wird in der wissenschaftlichen Diskussion keineswegs reduziert auf technisch-manuelle Fertigkeiten verstanden, sondern bezeichnet eine Spannbreite von kognitiven, affektiven und konativen (also das Denken, Fühlen und Handeln betreffende) Fähigkeiten, die ein medienkompetentes Individuum aufweisen sollte. Dazu gehören beispielsweise das Lesen von Texten, die Kenntnis technischer Zusammenhänge, das Wissen um ökonomische oder rechtliche Strukturen von Medien, aber auch die Fähigkeit, auf einer SocialMedia-Plattform ein Konto einzurichten und kritisch zu hinterfragen, welche Auswirkungen dies auf die eigene Persönlichkeit haben kann.

Die bei der Informationsund Wissensbeschaffung sowie bei gesellschaftlicher Teilhabe nötige Selbstständigkeit hinsichtlich der Filterung (von der sinnvollen Suchanfrage bis zur sinnvollen Auswahl) und die Notwendigkeit, hierbei lebenslang mit den sich stetig wandelnden Formen neuer Medien Schritt zu halten, machen auf ein Problem des Begriffs Medienkompetenz aufmerksam: Diese Kompetenz ist keine, die einmal für immer erworben wird, sondern sie muss auf dauernder Fortbildung beruhen.“ (2)

Die Zusammenfassung der Enquete-Kommission zeigt: Um wirklich kompetent im Umgang mit digitalen Medien zu sein, bedarf es einer Reihe von unterschiedlichen Fähigkeiten und Kenntnissen, die über ein rein technisches Wissen hinausgehen und die dauerhafter Fortentwicklung bedürfen. Das Idealbild ist der informierte, selbstbestimmte und souveräne Nutzer – gleich welchen Alters. Dies beinhaltet nicht nur das passive Konsumieren von Informationen, sondern auch die Fähigkeit, selbst Inhalte zu produzieren und zu verbreiten. Die Enquete-Kommission führt zur Rolle der Nutzerinnen und Nutzer in einer digitalen Öffentlichkeit weiter aus: „Als Ziel hat die Enquete-Kommission daher die aufgeklärten Nutzerinnen und Nutzer im Blick, die sich beispielsweise durch kreatives Schaffen der Medien bedienen und dabei verantwortungsvoll mit eigenen persönlichen Daten und respektvoll mit den Daten anderer Nutzer in den Medien umgehen. Die Enquete-Kommission betrachtet die Nutzer interaktiver Medien ausdrücklich mehrdimensional: als Sender und Empfänger, als Konsumenten und Produzenten, als Wissende und Lernende.“ (3) Medienkompetenz ist somit nicht nur der Schlüssel zur Teilhabe an der digitalen Gesellschaft – Medienkompetenz bzw. fehlende Medienkompetenz hat auch ganz konkrete Auswirkungen auf die „Offline-Welt“: auf gesellschaftliche Teilhabe, auf Bildung oder auf sozialen Aufstieg. So bietet das Internet in vielfacher Weise die Möglichkeit, gesellschaftliche Debatten zu verfolgen und sich dort selbst einzubringen. Ebenso ist Medienkompetenz mittlerweile unverzichtbar für den Erfolg in Schule, Ausbildung oder Beruf. In der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ haben wir dafür den Begriff der „digitalen Selbstständigkeit“ geprägt. Damit ist das Ziel gemeint, dass jeder Bürger und jede Bürgerin in der Lage sein soll, alle Möglichkeiten der „digitalen Gesellschaft“ möglichst selbstständig zu nutzen und – andersherum – sich vor allen damit verbundenen Risiken möglichst gut zu schützen.

Natürlich stehen im Fokus der Bemühungen von Wissenschaft und Politik oftmals Kinder und Jugendliche (4), die zwar heute – im Gegensatz zu ihren Eltern – als Digital Natives heranwachsen und ihren Erziehungsberechtigten teilweise technisch weit überlegen sind, denen es aber oftmals noch an Wissen über Strukturen und Zusammenhänge fehlt, was eine Auswahl aus der Vielfalt und die grundlegende Beurteilung von Informationen erschwert. Neben der Bewertung ist aber auch das Abwägen der Weitergabe – teils der eigenen und persönlichen Informationen – ein wichtiger Aspekt auf dem Weg zum Leitbild der „digitalen Selbstständigkeit“. Viele Nutzerinnen und Nutzer, unter ihnen verstärkt Kinder und Jugendliche, pflegen einen eher unbedarften und unkritischen Umgang mit ihren Daten und stellenweise auch mit den persönlichen Daten von Dritten. Oftmals erkennen sie weder, „dass personenbezogene Daten anfallen, noch die Reichweite und die möglichen Folgen der Sammlung und Verarbeitung der angegebenen Daten. Ohne diese Erkenntnis ist ein bewusster Umgang mit Daten aber nicht möglich. Daher muss den Nutzern sowohl das praktische und technische Verständnis für einen sorgfältigen Umgang mit den eigenen personenbezogenen Daten (z. B. auch deren Schutz vor unerwünschtem Zugriff oder Weitergabe) als auch die Fähigkeit, mögliche Folgen und Konsequenzen der Nutzung entsprechender Angebote zu erkennen, vermittelt werden. Dies hilft nicht nur, datenschutzrechtliche Risiken für den Einzelnen zu minimieren, sondern eröffnet zugleich auch die Chance, sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung bewusst auszuüben. Neben anderen Voraussetzungen ermöglicht die Kenntnis der Prozesse der Datenverarbeitung einen eigenverantwortlichen Umgang mit den Daten.“ (5)

Kinder und Jugendliche brauchen deshalb konstruktive Anleitung durch Eltern, Lehrer und Gesellschaft,um ihren Platz in der der digitalen Öffentlichkeit und den richtigen Umgang mit ihr zu finden. Und hier schließt sich wieder der Kreis: Nur Eltern, Lehrerinnen und Lehrer oder weitere Bezugspersonen, die selbst medienkompetent sind, können diese Anleitung leisten. Bei der Vermittlung von Medienkompetenz in Kitas und Schulen wird in Deutschland mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlichem Engagement gearbeitet. Die Enquete-Kommission schließt sich deshalb den zentralen Forderungen der Initiative „Keine Bildung ohne Medien“ an: „In den Bildungsplänen für alle Schularten, auch der beruflichen Bildung, sind medienpädagogische Themen verbindlich in den Curricula und Prüfungen zu verankern.“ (6) Ebenso ist eine stärkere Verankerung von medienpädagogischen Inhalten in der Ausund Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern und Pädagoginnen und Pädagogen aller Schulformen, einschließlich der Hochschule, dringend geboten. Und auch die Eltern muss die Politik in den Blick nehmen: Hier bedarf es eines Bewusstseins der Eltern für ihre medienpädagogische Verantwortung und eines niedrigschwelligen Beratungsangebots für hilfesuchende Eltern. Natürlich sind die dargestellten Forderungen nur ein Teilaspekt der anzustrebenden gesamtgesellschaftlichen Maßnahmen. Klar ist: Der Erwerb von Medienkompetenz wird für jede Nutzerin und jeden Nutzer individuell ablaufen und sich an seinen Bedürfnissen und Grundkenntnissen orientieren.

Und doch wird Medienkompetenz nicht alle Probleme im Internet und im Umgang mit digitalen Medien lösen können und auch nicht müssen. Die Politik hat die Aufgabe, optimale Ausgangsbedingungen zu schaffen, dass jede und jeder die Fähigkeit erlangt, sich selbstbestimmt und verantwortungsbewusst in der digitalen Gesellschaft zu bewegen. Die Politik hat aber auch die Aufgabe, Rahmenbedingungen in dieser digitalen Gesellschaft zu schaffen: Medienkompetenz kann kein Ersatz für Daten-, Verbraucheroder Jugendschutz, für soziale Kompetenz oder den Respekt vor der geistigen (Eigen-)Leistung anderer sein – sie ist immer die zweite Seite der Medaille.


(1) Vgl. Baacke, Dieter: Medienkompetenz als Netzwerk. Reichweite und Fokussierung eines Begriffs, der Konjunktur hat. In: Medien praktisch, Heft 2 / 1996, S. 4–10.

(2) Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“: Medienkompetenz, S. 5, BT-Drs. 17/ 7286 vom 21.10.2011.
Vgl. auch: Groeben, Norbert: Anforderungen an die theoretische Konzeptualisierung von Medienkompetenz. In: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina ( Hrsg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen, Weinheim 2002, S. 11–22, und Jarren, Otfried / Wassmer, Christian: Medienkompetenz – Begriffsanalyse und Modell. In: medien + erziehung, Heft 3 / 2009, S. 46–51.

(3) Ebd., S. 8.

(4) Die Projektgruppe Medienkompetenz der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hat insgesamt zwölf unterschiedliche Zielgruppen für die Vermittlung von Medienkompetenz herausgearbeitet und eine entsprechende Bedarfsanalyse je nach Gruppe durchgeführt: Kinder im vorschulischen Alter, Schülerinnen und Schüler, Studierende, pädagogische Fachkräfte, Hochschullehrende, Eltern, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung, Seniorinnen und Senioren, Journalistinnen und Journalisten und Multiplikatoren, Erwerbslose und Berufstätige.

(5) Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“: Datenschutz und Persönlichkeitsrechte, Ausschussdrucksache 17 (24) 042, S. 39f. www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/ Sitzungen/20111017/Ausschussdrucksache_17_24_42.pdf

(6) Initiative „Keine Bildung ohne Medien“, Bildungspolitische Forderungen: Medienpädagogischer Kongress 2011, S. 9, www.keine-bildung-ohne-medien.de/kongress-dokumentation/keine-bildung-ohne-medien_bildungspolitische-forderungen.pdf, vgl. auch Deutscher Bundestag, BT-Drs. 17 / 7286, S. 35.


Aydan Özoguz ist stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. Als Mitglied des Deutschen Bundestages arbeitet sie u. a. in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ und ist zuständig für den Jugendschutz. Özoguz lebt in Hamburg. www.oezoguz.de


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