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Die Hoheit der Information

Und außerparlamentarische Kontrolle im digitalen Zeitalter

Ein Interview mit Dr. Dieter Wiefelspütz (September 2011)

Wir leben in einer Informationsgesellschaft, die den politischen Raum auf zwei Arten prägt: Zum einen haben wir die größtmögliche individuelle Wahlfreiheit, Informationen auszusuchen und zu nutzen. Zum anderen werden Informationen global, verbreiten sich dank Massenmedien und sozialen Netzwerken rasend schnell.(1)

Für die Politik sind Informationen jedoch eine Machtressource. Karl W. Deutsch schreibt in seiner „Politischen Kybernetik“: „Macht [...] bedeutet die Möglichkeit zu reden, statt zuhören zu müssen.“ (2)

Was passiert also mit den staatlichen Machtapparaten, wenn Informationen global und frei zugänglich sind? Wenn Bürger die transparente Gestaltung politischer Diskurse und damit die Offenlegung von Informationen fordern? Wenn Plattformen wie WikiLeaks geheime Dokumente weltweit abrufbar machen? Wer entscheidet, welche Informationen geheim, welche öffentlich sind? Wer kann dies kontrollieren?

Dr. Dieter Wiefelspütz leitete als innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion 2005 die Arbeitsgruppe zum Informationsfreiheitsgesetz. Er tritt sowohl für die Online-Durchsuchung als auch für den Schutz von Persönlichkeitsrechten ein. Viele geheime Dokumente sind seiner Meinung nach diesen Status gar nicht wert.


Warum sind Sie der Meinung, in Deutschland werden zu viele Dokumente geheim gehalten?

Geheimnisse sind viel seltener als vermutet. Wir unterwerfen eine Vielzahl von Dokumenten dem Geheimschutz, obwohl das überhaupt nicht nötig wäre. Wenn man selber mal in solchen Geheimschutzstellen unterwegs war, merkt man, wie ganz banal das ist, was dort abläuft. Ich denke, dass wir zwar ein Defizit haben beim Schutz der Persönlichkeitsrechte, dem aber eine völlig überzogene Geheimhaltungspraxis gegenübersteht.


Woher kommt der Drang, die Dokumente geheim zu halten?

Das machen die Apparate selber, die sich nicht ins Büro schauen lassen wollen, die ihr Herrschaftswissen gerne für sich behalten. Wir brauchen in unserem Verfassungsstaat, in unserer freien Gesellschaft überhaupt keine Angst vor Offenheit zu haben. Vielmehr kann Transparenz eine Stärke sein.

So sollten die neuen technologischen Möglichkeiten in jeder Behörde zur Nutzung von Open-Data-Portalen führen, auf denen die Behörden ihre Informationen frei zugänglich ablegen. Das gilt gleichermaßen für Landes- wie Bundesregierungen, für kommunale Verwaltung und für vielfältige gesellschaftliche Einrichtungen.


Welche Auswirkungen hat die digitale Öffentlichkeit auf die Machtverhältnisse im Staat?

Beim Thema „Politik im digitalen Zeitalter“ sind wir ganz am Anfang und die Diskussionen zeigen ja auch, dass die Politik einen unglaublichen Lern- und Nachholbedarf hat. In staatlichen Apparaten sind jede Menge qualifizierter Informationen vorhanden. Diejenigen, die über diese Informationen herrschen, horten Herrschaftswissen. Deshalb sollten wir die Legitimation verbreitern, indem wir dem Volk ganz weitgehend Zugang zu diesen Informationen verschaffen. Letztlich ist das Wissen, das wir hier in der Regierung und in den Parlamenten haben, Wissen für das Volk.


Beim Gedanken an das Programm der Piratenpartei klingen diese Sätze, als würden Sie die Partei wechseln wollen.

Nein, ich kenne die Piratenpartei nicht näher. Wir haben Jahrzehnte im analogen Zeitalter gelebt. Jetzt ist das digitale Zeitalter da und wir haben hier in der Politik viel mehr Fragen als Antworten. Wir stehen weitgehend fassungslos vor dem Internet, vor neuen Kommunikationstechnologien. Wir gehen zwar alle damit um, aber die gesamte gesellschaftliche Dimension haben wir nicht erfasst: Was bedeuten die neuen Kommunikationstechnologien für Politik, für Demokratie, für unseren Rechts staat? Ist die Vorratsdatenspeicherung eine Erbsünde des digitalen Zeitalters oder wird sie dramatisiert? Aus guten Gründen führen wir eine große Urheberrechtsdiskussion. Wie gehen wir mit kriminellen Internetinhalten um?

In staatlichen Apparaten sind jede Menge qualifizierter Informationen vorhanden. Diejenigen, die über diese Informationen herrschen, horten Herrschaftswissen. Deshalb sollten wir die Legitimation verbreitern, indem wir dem Volk ganz weitgehend Zugang zu diesen Informationen verschaffen.

Wie können wir die hohe Qualität unseres Rechtsstaates und der Grundrechte unter den veränderten Verhältnissen des digitalen Zeitalters erhalten und ausbauen?

In unseren staatlichen Einrichtungen sind viel Beharrungsvermögen und Besitzstandsdenken vorhanden, das sich Neuem nur sehr ungern öffnet. Wenn ich die nächste Regierungsagenda für Rot-Grün zu machen hätte, dann wäre ein Programmpunkt der nächste kraftvolle Schritt in dem Bereich des Informationsfreiheitsgesetzes und in dem Bereich von Open Data und E-Government.


Was verstehen Sie unter Open Data?


Open Data ist eine Bringschuld der Apparate, der Behörden, der Regierung und gesellschaftlichen Einrichtungen, Auftritte zu haben, auf denen Daten zugänglich gemacht werden, die den Arbeitsbereich dieser Einrichtung besonders betreffen. Beim Flughafenbau muss der Bürger zum Beispiel die Möglichkeit haben, die Planungsunterlagen einzusehen.


Wären Projekte wie Stuttgart 21 oder der Flughafenbau in Berlin noch umsetzbar, wenn die Behörden die Dokumente frühzeitig offenlegten und die Bürger um ihre Meinung bäten?


Davon mache ich das nicht abhängig. Open Data ist für mich eine wichtige Ergänzung eines funktionstüchtigen parlamentarischen Systems. Aber unsere bisherigen Vorstellungen über Planungsverfahren sind mit Stuttgart 21 an Grenzen gestoßen. Wir müssen bei größeren und kleineren Vorhaben in der Region darüber reden, ob wir nicht andere Beteiligungsverfahren organisieren. Ich glaube, dieses Vorgehen kann man verdichten, intensivieren und durch frühzeitige Beteiligung beschleunigen, sonst brauchen Sie für einen Großbahnhof in Zukunft dreißig Jahre.


Mit dem Ziel, Beschlüsse auf eine breite Basis zu stellen oder Widerstand vorzubeugen?

Um einen Entscheidungsprozess zu ermöglichen, der dann auch eine befriedende Wirkung hat. Es gibt da kein Patentrezept, es werden immer Bürger da sein, die nicht einverstanden sind. Aber wir brauchen zeitgemäße Partizipationsmöglichkeiten, die über das hinaus gehen, was wir vor 20, 30 Jahren als sinnvoll entwickelt haben.


Wie würden Sie die drei Begriffe „öffentlich“, „privat“ und „geheim“ gegeneinander abgrenzen?

Das Politische ist das Öffentliche, Privates kann auch mal politisch werden, Geheimnisse dürfen dagegen im Privatbereich häufiger sein als im staatlich-öffentlichen. Der Geheimnisschutz dient jedoch oftmals auch als Herrschaftsschutz, das finde ich nicht legitim.


Welche Bedeutung haben Plattformen wie WikiLeaks oder die Idee des Geheimnisverrats und der Hinweisgebung in unserer Demokratie?

Sie können eine ergänzende Funktion haben. Unser Land ist ja nicht nur die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, sondern wir haben jenseits der Kontrollinstrumente der Verfassung und des Parlaments sowohl die Presse als auch die Legitimationsfunktion der Gesellschaft. WikiLeaks ist ein Ausdruck von Freiheit in unserer Gesellschaft, ist außerparlamentarische Kontrolle durch

Aber unsere bisherigen Vorstellungen über Planungsverfahren sind mit Stuttgart 21 an Grenzen gestoßen. Wir müssen bei größeren und kleineren Vorhaben in der Region darüber reden, ob wir nicht andere Beteiligungsverfahren organisieren.

Information. Man wird allerdings aufpassen müssen, dass diese selbst ernannten Kontrolleure der Zivilgesellschaft selbst kontrollierbar sind, damit das nicht zur Herrschaft und zum Risiko wird. Es ist ein Problem, wenn zum Beispiel WikiLeaks zu einer One-Man-Veranstaltung wird. Deshalb müssen wir Maßstäbe für solche außerparlamentarischen Kontrolleure entwickeln. Diese Regeln sollten aber nicht staatlich vorgegeben, sondern im offenen Diskurs entwickelt werden, damit sie nachvollziehbar und kontrollierbar sind.


Die G20-Arbeitsgemeinschaft zur Korruptionsbekämpfung diskutierte im Sommer 2011 einen weitreichenden Hinweisgeberschutz. In diesem Zuge hat sich Deutschland verpflichtet, bessere Regeln zu schaffen. Für wie wichtig halten Sie den Schutz von Hinweisgebern?

Wir haben ja bereits Geheimschutzregeln, die eine Strafe bei Geheimnisverrat festlegen. Hier liegt das Problem: Was passiert zum Beispiel mit Hinweisen zu Missständen in Pflegeheimen? Darf man als Mitarbeiter Missstände in einer sozialen Einrichtung an die Öffentlichkeit bringen und unter welchen Voraussetzungen? Das hat gerade

Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir den Geheimnisverrat nicht heroisieren oder idealisieren. Geheimnisverrat ist ein wichtiger Beitrag, aber er ist nicht der Kern unserer Freiheit.

den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt. Auf der anderen Seite können Plattformen wie WikiLeaks Macht haben, die missbraucht werden kann. Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir den Geheimnisverrat nicht heroisieren oder idealisieren. Geheimnisverrat ist ein wichtiger Beitrag, aber er ist nicht der Kern unserer Freiheit.


Halten Sie WikiLeaks für die Revolution der Öffentlichkeit oder für eine Rebellion einzelner Akteure gegen ein ganzes System?

WikiLeaks ist ein Kind des digitalen Zeitalters und damit eine wichtige Ergänzung unserer Öffentlichkeit, nicht mehr und nicht weniger. Die Veröffentlichungen zeigen, wie wichtig eine fachliche Begleitung durch sauber arbeitende Journalisten ist. Darüber hinaus müssen legitime Schutzinteressen beachtet werden. Informationen können im extremen Einzelfall töten oder sehr stark verletzen. Dafür müssen wir sensibel sein.


(1) Vgl. u. a. Norris, P.: Digital Divide. Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet Worldwide, Cambridge 2001.

(2) Deutsch, K. W.: Politische Kybernetik, Modelle und Perspektiven, Freiburg im Breisgau 1973.


Dr. Dieter Wiefelspütz ist innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied des Deutschen Bundestages. Wiefelspütz arbeitete mit am Informationsfreiheitsgesetz und setzt sich u.a. für die Vorratsdatenspeicherung ein. Der ehemalige Richter lebt in Lünen. www.dieterwiefelspuetz.de


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