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Der Wandel der Wissensgesellschaft

Von Dr. Astrid Herbold

Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Oder genauer gesagt: Wir leben in einer Gesellschaft, die über sich selbst gerne behauptet, dass sie eine Wissensgesellschaft ist. Wissensgesellschaft klingt ja auch deutlich besser als Halbwissensgesellschaft. Oder Spektakelgesellschaft, Eventgesellschaft, Konsumgesellschaft. Das ist möglicherweise auch zutreffend, aber alles so wahnsinnig negativ konnotiert.

„Glauben Sie nicht, wenn jemand eine Krankheit hat, dass der dann zehnmal mehr weiß nach zwei Stunden surfen als sein Arzt?“ (1) Gunter Dueck, re:publica 2011

Der Ruf der Wissensgesellschaft dagegen ist tadellos – und dabei angenehm schwammig. „Relativ sorglos“, schreibt der Philosoph Konrad Paul Liessmann, „wird deshalb auch in der politischen Rhetorik der Begriff der Wissensgesellschaft dem der Informationsgesellschaft gleichgesetzt.“ (2)

Der öffentliche Mythos geht so: Mensch plus Endgerät plus freie Information aus dem WWW gleich Wissensgesellschaft. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia hat daraus sogar ihren Schlachtruf gemacht: Freies Wissen für alle! Was genau ist damit gemeint? Ist Wissen „frei“, wenn es unter freier Lizenz veröffentlicht wird, also ungestraft kopiert und weiterverwendet werden darf? Oder meint „frei“ in erster Linie umsonst, ohne Zugangs-, Erwerbsoder Abokosten? Aber was ist dann mit den Menschen ohne Flatrate und Endgeräte? Noch immer haben laut Statistischem Bundesamt 17 Prozent aller Deutschen zwischen 17 und 74 Jahren keinerlei Kontakt zum Internet. Es sind vor allem ältere, bildungsferne und einkommensschwache Bevölkerungsschichten. (3) Für sie ist der Zugang zum Netz nicht frei, sondern teuer. Zu teuer.

Wer über den Siegeszug der Wissensgesellschaft reden will, der darf über alte gesellschaftliche Gräben nicht schweigen. Denn die Grenzen verlaufen nicht, wie oft suggeriert, zwischen den Facebook-begeisterten „Digital Natives“ und ihren um Datenschutz besorgten Eltern, sondern zwischen dem gut situierten iPhone-Besitzer und der Hartz-IV-Rentnerin. Oder zwischen dem Blogger mit Hochschulabschluss und dem Hauptschüler mit Dyslexie.

Trotzdem leugnet niemand, dass für diejenigen, die über einen Zugang verfügen – und zwar nicht nur über den technischen, sondern auch über den intellektuellen Zugang, Informationen, Fakten, Datenbanken, Texte und Studien durch das Netz leichter zugänglich sind. „Wissen“ muss nicht mehr in Foliantenform beim Brockhaus Verlag gekauft oder aus Stadtbüchereien nach Hause geschleppt und für die akademische Weiterverwendung mühsam exzerpiert werden. Das geht jetzt schneller. Let’s google, let’s überflieg, let’s copy & paste.

Neulich saß sie abends bei mir am Küchentisch, diese neue Wissensgesellschaft. Sie hatte Hausaufgaben auf, ein Referat über eine Berliner Sehenswürdigkeit. „Guckt mal im Netz“, hatte die Grundschullehrerin sorglos in den Klassenraum gerufen. Eine Mutter (ich war’s nicht!) versuchte dennoch, die Tochter zu einem Besuch des Baudenkmals zu überreden. Die Siebenjährige weigerte sich, aus dem Auto auszusteigen. Schrie immer nur: Im Internet solle nachgeschaut werden, nicht in echt. Ende vom Lied: Wer mit Mamas Hilfe Fotos und Textbausteine aus dem Netz auszudrucken und auf einen bunten DIN-A3-Karton zu kleben verstand, bekam eine Zwei. Wer krakelig selber buchstabierte und malte, eine Drei minus.

Natürlich beweisen persönliche Anekdoten erst mal gar nichts. Aber sie helfen bei der Veranschaulichung. In der digitalisierten Wissensgesellschaft hat sich die Beziehung von Text und Rezipient fundamental verändert, es wird anders gesucht, erfasst, verarbeitet. Viele Studierende, konstatiert Medienwissenschaftler und Plagiatsforscher Stefan Weber, „arbeiten [...] nicht mehr im semantischen oder pragmatischen Bereich, in den Bereichen der Wortbedeutung oder des Textverstehens. Ihre Beziehung zum Text ist nicht mehr inhaltlich-kontextueller, sondern ‚syntaktisch-editorischer‘ Natur.“ (4) Wie Wikipedia das gedruckte Lexikon abgelöst hat und die Google-Recherche den Bibliotheksbesuch, so ist die Stichwortsuche an die Stelle des Lesens getreten – und die Satzmontage an die Stelle des eigenen Schreibens:„Google als Tor zur Wirklichkeit und Copy/Paste als neue Kulturtechnik, die das genuine Formulieren ablöst, beginnen bereits flächendeckend bei Referaten und schriftlichen Arbeiten in der Schule“ (5), schreibt Weber.

Die Sache hat, neben den immensen Vorteilen für das persönliche Zeitmanagement, auch eklatante Nachteile. Wer nur noch lernt, vorhandene Textbausteine, die im schlimmsten Fall aus ihren argumentativen Zusammenhängen gerissen und verfälschend weiterverarbeitet werden, zu neuen Collagen zusammenzusetzen, der entwickelt kaum eigene Sprachkompetenz. Abgesehen davon tritt er auch erkenntnistheoretisch auf der Stelle. Für einen Grundschüler mag das noch kein Beinbruch sein, für einen Doktoranden kann es schnell zu einem werden.

Aber die politischen Nebenwirkungen von Copy-&-PastePublikationen sind nicht das einzige Problem der googelnden Wissensgesellschaft. Denn was das große Orakel bei den Millionen Suchanfragen täglich zutage fördert, ist ja weder zufällig noch gleichrangig. Die Leistung des globalen Marktführers besteht in der Sortierung. Algorithmen entscheiden, was relevant ist. Sie loten dazu bekanntermaßen vor allem Vernetzungscluster und Zugriffszahlen aus. Inhalte kann Google nicht prüfen. Die Qualität kann nur abgeleitet werden aus Quantität: Was viele Nutzer anklicken und viele Webseiten verlinken, scheint richtig und wichtig zu sein. Ergo steht es auf der Ergebnisliste oben.

Hier kommt die Ameisenmetapher ins Spiel. Ameisen sind dumm, aber schwarmintelligent. Auf der Suche nach dem kürzesten Weg zur Nahrungsquelle und zurück markieren sie ihre Wege mit Pheromonen. Der kürzeste Weg duftet bald am intensivsten. Und lockt damit immer mehr Ameisen an. Bis alle auf der gleichen Straße hinund herrennen. Mit der GoogleWikipedia-Wissensstraße verhält es sich ähnlich: Weil Wikipedia regelmäßig unter den ersten drei Treffern auf der Ergebnisliste auftaucht, also dort, wo statistisch gesehen die meisten Menschen hinschauen und -klicken, wird das Lexikon im Umkehrschluss für die Suchmaschine automatisch immer„relevanter“ – und bleibt im Ranking beharrlich oben, auch wenn sich möglicherweise irgendwo in den Weiten des Internets bessere oder aktuellere Quellen finden lassen würden.

Die Platzierung hat also Folgen für die Verbreitung. Je höher die Suchmaschinenposition, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass der entsprechende Wissensschnipsel, egal ob sorgfältig verifiziert oder nicht, sich ausbreitet und binnen kurzer Zeit durch unzählige weitere Texte mäandert. (6) Die Schwarmintelligenzforschung nennt das positive Rückkopplung oder
„Matthäus-Effekt“: Wer hat, dem wird gegeben.

Die Wissensgesellschaft spricht gerne von Schwarmintelligenz, es ist eines ihrer Lieblingswörter. Aber wer die Schwarmintelligenz beschwört, der muss auch die Effekte der viralen Ausbreitung erwähnen. Er muss über googelnde Blickfeldverengung diskutieren und anfangen, über die Kanonisierung durch Quantifizierung zu streiten. Die neuen „Wissensarbeiter“, egal ob Schüler oder Doktoranden, müssen ein Verständnis dafür entwickeln, wie im Netz aus individuellen Trampelpfaden Autobahnen der Massen werden. Wie die Aufmerksamkeit gelenkt, wie Quellen „gerankt“ werden. Wie Mathematik (Algorithmen) und Psychologie (Ungeduld) zu sammenwirken – und zwar oft zu ungunsten des kritischen Hinterfragens oder der journalistischen oder wissenschaftlichen Genauigkeit. (7)

Gegen Suchmaschinen-Halbwissen helfen nur Akribie, Vertiefung, Serendipity. Nötig sei vor allem „eine Wiederaneignung von Zeit“, schreibt Medientheoretiker Geert Lovink. Zeit aber ist – wie Aufmerksamkeit – in der digitalen Gesellschaft teuer und rar, eine harte Währung eben: „Unsere technokulturelle Grundhaltung ist eine zeitliche Intoleranz. [...] Wenn wir unzufrieden sind, klicken wir weiter.“ (8) Und suchen

„Der Onkologe Dr. Vier nimmt die Studie zu Cilengitid, Oncovir und Talampanel auseinander, die ich ihm ausgedruckt habe. Phase-II-Studie mit noch nicht zugelassenen Medikamenten, warum ist das am Ende nicht mal nach Medikament aufgeschlüsselt? [...] Er spricht von Avastin, ebenfalls Angiogenesehemmer und ohne Zulassung in Deutschland, das er, wenn es so weit ist, mit Ausnahmeregelungen bei der Krankenkasse beantragt. Aber es ist gut, daß ich gefragt habe. Ich habe das Gefühl, in guten Händen zu sein und mich mit der Sache nicht mehr befassen zu müssen. [...] Ende des Googelns.“ (9) (Wolfgang Herrndorf)

lieber nach Abkürzungen. Für Ameisen mag das eine gute Überlebensstrategie sein, als Grundlage einer produktiven Bildungsund Forschungsgesellschaft taugt die Haltung nicht.

Was also bleibt vom Mythos der neuen, digitalen Wissensgesellschaft? Joseph Weizenbaum, der skeptisch gewordene IT-Pionier, plädiert dafür, nicht die Server, sondern die Rezipienten in den Fokus zu rücken: „Die Signale im Computer sind keine Informationen. Es sind ‚nur‘ Signale. Und es gibt nur einen Weg, aus Signalen Informationen zu machen. Nämlich die Signale zu interpretieren.“ Wissen hätte demnach nur wenig mit dem viel beschworenen „Wissen-wo-es-steht“ zu tun. Es ist vielmehr eine zeitaufwendige Strategie, Informationen zu finden, zu verstehen, zu überprüfen, zu beurteilen, zu filtern, zu reflektieren und zu kritisieren. Wissen ist ein Bündel hochkomplexer Kulturtechniken. Niemand erwirbt das in zwei Stunden nebenbei.Genauso wenig,wie man durch ein bisschen Googeln Französisch lernt. Oder Klavier spielen. Oder Krebs heilen.


(1) http://re-publica.de/11/blog/panel/das-internet-als-gesellschaftsbetriebssystem

(2) Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Halbbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, München 2008, S. 27.

(3) www.golem.de/1109/86222.html

(4) Weber, Stefan: Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden, Hannover 2009, S. 40.

(5) Ebd., S. 10.

(6) Der Journalist Andreas Kopietz hat mit Einfügung des Begriffs „Stalins Badewanne“ in den Wikipedia-Eintrag zur Berliner Karl-Marx-Allee einen solchen Verselbstständigungsvorgang ausgelöst und beobachtet: „Wie ich Stalins Badezimmer erschuf“, Berliner Zeitung, 24.03.2011.
www.berlin-online.de/berliner-zeitung/archiv/ .bin/dump.fcgi/2011/0324/medien/0012/index.html

(7) Eine Studie von James A. Evans kommt sogar zu dem Schluss, dass wissenschaftliche Untersuchungen, die hauptsächlich auf digital verfügbare Sekundärliteratur zurückgreifen, eher dazu neigen, mit weniger (und immer mit den gleichen) statt mit mehr und unterschiedlichen Quellen zu arbeiten. Vgl. Evans, James A.: Electronic Publication and the Narrowing of Science and Scholarship. In: Science, Vol. 321, 18.07.2008.

(8) Lovink, Geert: Die Gesellschaft der Suche. Fragen oder Googeln. In: Becker, Konrad / Stadler, Felix (Hrsg.): Deep Search. Politik des Suchens jenseits von Google, Bonn 2010, S. 53–63, hier 62.

(9) Bei dem Berliner Schriftsteller Wolfgang Herrndorf wurde im Februar 2010 ein unheilbarer Gehirntumor festgestellt, seitdem führt er ein Online-Tagebuch. www.wolfgang-herrndorf.de/2010/04/vier/


Dr. Astrid Herbold arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. 2009 erschien ihr Buch Das große Rauschen – Die Lebenslüge der digitalen Gesellschaft im Droemer Verlag. Herbold schreibt u. a. für den Tagesspiegel, ZEIT Online sowie Spiegel Online. www.astrid-herbold.de


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