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Wie Medien unsere Entwicklung beeinflussenEin Interview mit Prof. Dr. Dieter F. Braus (Januar 2012) Unser Gehirn durchläuft einen individuellen Entwicklungsprozess, der im Mutterleib beginnt und mit dem Tod endet. Besonders wichtig für den Umgang mit den Medien und die Teilhabe in einer Zivilgesellschaft ist in diesem Entwicklungsprozess die Zeit der frühen Kindheit bis zum Ende der Pubertät. Gleichzeitig ist dies die Zeit, in der der Medienkonsum die Entwicklung eines Menschen für sein Leben prägen kann.Prof. Dr. Dieter F. Braus, Direktor der Klinik für Psychiatrie an den Dr. Horst Schmidt Kliniken (HSK) in Wiesbaden, erklärt, wie wir lernen, die virtuelle von der realen Welt zu unterscheiden, und warum Kinder wissbegierig sind.
Welchen Einfluss haben die Informationen unserer Umgebung auf die Entwicklung unseres Gehirns?Der Einfluss digitaler Medien auf die kindliche Entwicklung ist anders als bei Senioren. Das zweijährige Kind hat noch keinen funktionierenden kognitiven Kontrollapparat. Bei ihm fluten die Informationen ungefiltert ins Gehirn. Erst in der Pubertät, die bis zum 26. Lebensjahr andauert, entwickeln wir nach und nach unseren kognitiven Apparat. Dieser hilft uns zum Beispiel, die virtuelle Realität als solche besser zu bewerten. Kleine Kinder sind dagegen emotional gesteuert, ihnen fehlt weitgehend diese Kontrollfunktion des Frontalhirns. Ein zehnjähriges Kind hat deshalb noch große Schwierigkeiten, eine virtuelle Welt von der eigenen zu unterscheiden.Was passiert, wenn Kinder unkontrolliert digitale Medien konsumieren?Untersuchungen zeigen: Wenn Kinder, die jünger sind als zwei Jahre, Fernsehen schauen, verzögert sich die Entwicklung ihrer Sprache, während ihre Impulsivität und Aggressivität steigen. Die Vielfalt von Informationen bindet zwar die Aufmerksamkeit des Kindes, es kann dabei aber nichts lernen, weil das Hirn nicht dafür ausgestattet ist, diese virtuelle Welt zu verarbeiten.Ist das Gehirn des Kindes also durch die Informationen überfordert?Ein Kind lernt in den ersten Lebensjahren vorrangig durch soziale Interaktion und am Modell. In einem Experiment wurde eine Frau beim Vorlesen eines chinesischen Kinderbuches gefilmt. Anschließend spielte man einem Kind diese Aufzeichnungen vor. Es hat dabei nichts gelernt. Las die gleiche Frau dem Kind das Buch aber real vor, lernte es chinesische Wörter. Kleine Kinder sind mit einer biologischen Lernmaschine vergleichbar, darauf ausgelegt, den ganzen Tag zu lernen. Die Zeit, die das wache kleine Kind mit Medien verbringt, hat dagegen keinen relevanten Lerneffekt.Kinder, die viel fernsehen, haben außerdem eine schlechtere Prognose im Hinblick auf sogenannte Exekutivfunktionen. Der Mensch muss lernen, Regeln zu verstehen, Regelwechsel zu beachten und sich kontrolliert in eine soziale Gemeinschaft einzubringen. Das nennt man Exekutivfunktion und Selbstkontrolle, deren Entwicklung mit dem Frontalhirn zusammenhängt. Das Frontalhirn wird aber nicht gefördert, wenn ein Kind drei Stunden pro Tag mit Medien verbringt. Als Ergebnis hat das Kind dann mit 28 Jahren eine wesentlich geringere Chance, einen Hochschulabschluss zu schaffen, sowie eine wesentlich geringere Wahrscheinlichkeit, zufrieden und erfolgreich zu leben.In dieser Publikation schreibt die Bundestagsabgeordnete Aydan Özoguz über Medienkompetenz aus Sicht der Gesellschaft und der Politik. Wie würden Sie Medienkompetenz aus neurologischer Sicht definieren?Medienkompetenz beginnt schon im Kindesalter beim Modelllernen, wenn ich erfahre: Multitasking ist Unsinn, denn ich habe nur zwei Gehirnhälften. Ich kann nur zwei Dinge, die gleich wichtig sind, gleichzeitig gut tun. Ein wesentliches Element von Medienkompetenz ist es, Begrenzung zu lernen. Außerdem gehört dazu, einen Anfang und ein Ende zu erfahren und zu respektieren. Wir sind nicht darauf optimiert, multisensorisch stundenlang mit Medien umzugehen, die nichts weiter sind als die Weiterentwicklung von antikem Drama und Tragödie, also eine Aktivität, die Menschen verbindet, Emotionen induziert und verändert.Die vulnerable Phase für das Gehirn ist die Zeit bis zum Ende der Pubertät, ganz besonders bis zum 17. Lebensjahr. In diesen Entwicklungszeitraum müssen wir als Gesellschaft unsere Energie stecken. Wir müssen den Eltern klarmachen, dass Medien in Abhängigkeit vom Lebensalter einen vollkommen anderen Effekt auf Kinder haben, der sich sogar auf das Ernährungsverhalten auswirken kann. So wissen wir zum Beispiel, dass Multiuser von Videospielen kontinuierlich an Gewicht zunehmen.Woran liegt das?Zum einen stören sie durch tagelanges Computerspielen ihren Schlaf-wach-Rhythmus. Damit verändern sich ihr Energieverbrauch und ihre Energiezufuhr. Gleichzeitig ist der Mensch darauf optimiert, zu überleben. Wenn er Nahrung angeboten bekommt, nimmt er diese auf. Normalerweise hören wir auf zu essen, wenn wir satt sind. Diese Bremse wird aber abgeschwächt, wenn man parallel Medien konsumiert. Wir können nicht essen und gleichzeitig etwas tun, was eine große Aufmerksamkeit fordert. Die Multiuser nehmen also auch an Gewicht zu, weil sie keine Kontrolle darüber haben, wie viel sie während des Spielens essen.Haben aus neurowissenschaftlicher Sicht analoge und digitale Medien einen unterschiedlichen Effekt auf die veränderte Energiezufuhr?Bücher haben diesen Effekt nicht. Wenn sie das Buch aufschlagen, gibt es dort nur schwarze Zeichen. Das ist eine extreme Reizreduktion für das Hirn. Videospiele sind dagegen eine Reizvermehrung. Wenn sie Fernsehen kombinieren mit Aktivität, wie es bei Videospielen der Fall ist, hat das einen großen Effekt auf das Belohnungssystem im Hirn – was schon lange bekannt ist.Welche Funktion hat dieser Belohnungseffekt?Wir haben in uns ein Belohnungssystem, das für Spaß und positive Emotionen zuständig ist. Motorik und Lust sind über das gleiche Neurotransmissionssystem, den Stoff Dopamin, gesteuert. Dieses Belohnungssystem ist enorm wichtig für unsere Motivation und unsere Entwicklung. Es reagiert auf seltene Überraschungen.Hier setzen Videospiele an, indem sie Motorik mit unerwarteten Reizen und Belohnung kombinieren. Das System ist jedoch nicht darauf ausgelegt, alle zwei Minuten belohnt zu werden, sondern überraschende, nicht erwartete Ereignisse zu verarbeiten, sonst wird es desensitiviert. Leben wir als Menschen im Überfluss, können wir unser Belohnungssystem nicht mehr aktivieren, weil uns nichts mehr überrascht.Warum freue ich mich dann immer wieder, wenn ich einen Blumenstrauß von meinem Mann bekomme?Wenn er ihnen den Blumenstrauß immer freitags gibt, dann freuen sie sich immer weniger. Auch nicht, wenn Ihr Mann Ihnen immer mal wieder zehn Euro für einen Blumenstrauß schenken würde. Erhalten Sie den Blumenstrauß aber unregelmäßig, freuen Sie sich. Wahrscheinlich verändert der Blumenstrauß über das Jahr auch seine Zusammenstellung und Farbe. Der Blumenstrauß oder ein Lächeln sind primäre Verstärker, während Geld ein sekundärer Verstärker ist. Unser Nervensystem passt sich rasch an sekundäre, nicht an primäre Verstärker an. Medien gehören in der Regel zu den sekundären Verstärkern.Wenn wir die Auswirkungen der Neuen Medien auf unsere Zivilgesellschaft betrachten, würde es einen Unterschied machen, ob wir uns im Internet an einer Kampagne beteiligen, anstatt auf die Straße zu gehen?Wenn ich zu jeder beliebigen Zeit im Internet ein Buch bestellen kann, ist das ein anderer Fall, als wenn ich zu einer bestimmten Zeit aus dem Haus gehen muss, mir im Buchladen ein Buch ansehe, mit anderen Menschen interagiere und dort entscheide, ob ich es kaufe oder nicht. Menschen können sich im Internet anonym und ganz schnell an etwas beteiligen. Sie haben aber größere Hürden zuüberwinden, wenn sie bei einer Montagsdemonstration in Leipzig oder Stuttgart mitgehen.Verursacht diese größere Hürde ein tiefer liegendes, intensiveres Engagement?Von Natur aus sind wir alle Angsthasen. In der Anonymität sind wir mutig, aber in der Öffentlichkeit sind wir eher scheu. Wenn Menschen für etwas auf die Straße gehen, muss etwas passieren, das sie dazu emotional bewegt.Das sehen wir auch in Syrien, wo Menschen trotz gefährlicher Bedingungen auf die Straße gehen.Wenn ein Mensch das tut, dann ist der innere Druck sehr groß und damit hat auch das Engagement eine andere Nachhaltigkeit.Welchen Einfluss haben soziale Netzwerke auf unser Verhalten?Die sozialen Netzwerke bedienen unsere archaischen Strukturen. Welche langfristigen Auswirkungen sie haben, weiß bisher niemand. Es gibt keine Studien dazu. Wir wissen erst heute, nach 20 Jahren, welchen Effekt der Besitz eines Videospiels auf Schulkinder hat. So lange ist diese Studie gelaufen. (1) Wenn acht bis zehn Jahre alte Kinder ein Videospiel geschenkt bekommen und es regelmäßig spielen, werden innerhalb von drei Monaten ihre Leistungen in der Schule in Schreiben und Lesen signifikant schlechter, während ihre Mathematikleistungen und ihre Aufmerksamkeit gleich bleiben oder etwas besser werden. Wir haben aber noch keine Ahnung, welchen langfristigen Effekt soziale Netzwerke auf Menschen haben.Bitte erklären Sie noch einmal, warum die sozialen Netzwerke unsere archaischen Strukturen bedienen.Jeder Mensch hat Grundbedürfnisse. Die primären Grundbedürfnisse sind Essen, Trinken, Schlafen. Außerdem besitzen wir sekundäre, zum Beispiel Sicherheit, Ordnung, Sinn, und soziale Grundbedürfnisse, wie die soziale Bindung oder den sozialen Vergleich. In sozialen Netzwerken haben sie „Freunde“, mit denen sie digital interagieren. Dadurch entsteht eine soziale Bindung. Das ist herausfordernd, sie wollen immer mehr „Freunde“, wollen gesehen werden auf Bildern und schauen, was die anderen machen. Soziale Netzwerke bedienen das uralte Bedürfnis der Menschen nach Tratsch und Klatsch, der unsere Aufmerksamkeit lenkt, aber auch schützen kann und verbindet.Sie haben in einer Präsentation eine Studie zitiert mit dem Satz: „Die Weisheit einer Menschenmenge nimmt ab, je mehr die Individuen der Menge voneinander wissen.“ Könnten sie dieses Zitat im Hinblick auf die Wissensgesellschaft und die Idee von Wikipedia erläutern?Dieses Zitat stammt aus einer Studie. Dabei spielt man zum Beispiel einer Menschengruppe einen Sänger vor und möchte wissen, ob sie diesen gut oder schlecht findet. Wenn diese Menschen nicht wissen, was die anderen denken, dann ist die Beurteilung der Gruppe im Vergleich zu Experten relativ gut. Das ist der Grund, warum bei „Wer wird Millionär?“ das Ergebnis der Publikumsfrage in der Regel richtig ist. Sage ich den Menschen aber, bevor sie ihr Urteil abgeben, was andere über den Sänger denken, verändert sich das Urteilsvermögen, der archaische Herdentrieb kommt durch, die Urteilskraft wird manipuliert und in der Regel schlechter. (2)(1) Weis,R./Cerankosky,B.C.: Effects of video-game ownership on young boys‘ academic and behavioral functioning: a randomized, controlled study. In: Psychological Science, April 2010, 21 (4), S. 463–470.(2) Salganik, M. J. / Dodds, P. S. / Watts, D. J.: Experimental study of inequality and unpredictability in an artificial cultural market. In: Science, 10.02.2006, 311 (5762), S. 854–856.
Prof. Dr. Dieter F. Braus ist seit 2006 Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie an der HSK in Wiesbaden und lehrt an der Universitätsklinik Mainz. Zuvor forschte Braus u.a. an der Harvard Medical School Boston zum Thema „Funktionelle Bildgebung“. www.hsk-wiesbaden.de
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