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Das digitale Zeitungshaus

Auf dem Weg zum „Local Champion“

Von Meinolf Ellers


Der lokale Leserund Werbemarkt ist das Herzstück des regionalen Zeitungshauses. Um die Rolle eines „Local Champions“ gegen den wachsenden Druck der neuen digitalen Wettbewerber zu verteidigen, verändern Verlage in aller Welt nicht nur Prozesse, Strukturen und Produktangebote.

Viele stellen ihr Selbstverständnis infrage. Welche Rolle kann und soll Zeitung in einer lokalen Lebenswelt spielen, in der die starke Position von Print schwindet und die Menschen Zeit, Aufmerksamkeit und Budget vermehrt auf digitalen Plattformen investieren?

Für viele Verlage reicht es deshalb schon längst nicht mehr aus, nur Chronist zu sein. Sie begreifen sich zunehmend als aktive Gestalter lokaler Gemeinschaft und lokaler Märkte, deren starke Marke sie auch unabhängig vom gedruckten Papier zum ersten Ansprechpartner für die Welt „vor Ort“ macht. Dabei sehen sie sich im Bündnis mit jenen engagierten Bürgern und Institutionen, die das Leitbild von einer lokalen Lebenswelt als einem „better home“ teilen – einer lokalen Gemeinschaft, die immer noch ein bisschen lebenswerter und gerechter werden kann.

Der Weg dahin ist komplex. Er führt über eine intensivere Beziehung zum Kunden und eine neue Kultur der Nähe und Sichtbarkeit. Mancher regionale Verlag hat in den vergangenen Jahren seine lokale Präsenz im Vertrauen auf Printmonopole schrittweise reduziert. Nun geht es darum, den Menschen wieder möglichst viele „Touchpoints“ zur vertrauten und vertrauenswürdigen Zeitungsmarke zu bieten, auch wenn dies immer seltener über das Printprodukt geschieht.

Die Bedürfnisse des Kunden zu verstehen, ihm die richtige Lösung – egal ob publizistische Information, Service oder Werbeleistung – anbieten zu können, setzt professionelle Marktforschung und ein systematisches Kundenbeziehungsmanagement voraus. Anders als in vielen anderen Branchen ist das Identifizieren und Bearbeiten von Zielgruppen in regionalen Zeitungshäusern noch nicht Grundlage der Produktentwicklung. Aber nur so ist es möglich, die Beziehungen zu Stammkunden und -lesern auszubauen, Gelegenheitskunden stärker zu binden und Nichtkunden bis hin zu „Printverweigerern“ mit neuen werthaltigen Leistungen anzusprechen. Auf diesem Weg kann das Zeitungshaus zugleich überzeugende Werbeprodukte konzipieren, die bei möglichst niedrigen Streuverlusten Anbieter und Nachfrager zusammenbringen.

Mit einer Palette zielgruppenaffiner Publishing-Produkte, mit wirksamen Werbekonzepten und mit neuen Geschäftsmodellen wie etwa Direktmarketing oder Eventmanagement schaffen sich Verlage zugleich die Basis für eine breite und zukunftsfähige Erlösstruktur. Eine konsequent kundenzentrierte

Eine konsequent kundenzentrierte „ mission:local“-Strategie folgt dem Grundsatz „Local customer first“. Die mancherorts erbittert geführte Glaubensfrage „Online first vs. Print first“ wird damit zur Nebensache – der Kunde wird sie entscheiden.

„mission:local“-Strategie folgt dem Grundsatz „Local customer first“. Die mancherorts erbittert geführte Glaubensfrage „Online first vs. Print first“ wird damit zur Nebensache – der Kunde wird sie entscheiden.

Die Institution Tageszeitung ist über 400 Jahre alt. Das an einer umfassenden Aufklärung und Nachrichtenversorgung orientierte und bis heute gültige Modell des Generalanzeigers bringt es auf mehr als 150 Jahre. Über Generationen war ein engagiertes Leben vor Ort ohne die Informationen der lokalen Tageszeitung nicht möglich. Ihre Rolle als vertrauenswürdiger Chronist des Gemeinschaftslebens war ebenso wenig gefährdet wie die Position als Moderator von Angebot und Nachfrage im lokalen Werbeund Anzeigenmarkt. „Das Zeitungslesen des Morgens ist eine Art von realistischem Morgensegen“, notierte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Karl Kraus (1874–1936) nannte sie „die Konserve der Zeit“. Und selbst Mark Twain (1835–1910), sonst um keinen Seitenhieb auf die Schwächen seines journalistischen Berufsstandes verlegen, hielt mit Blick auf die Wächterfunktion der Tagespresse fest: „Der alte Spruch sagt ‚Wecke keine schlafenden Hunde‘. Stimmt. Aber wenn eine Menge auf dem Spiel steht, ist es besser, wenn sich die Tageszeitung der Sache annimmt.“

Doch das noch so junge digitale Zeitalter hat die bewährte und geachtete Mediengattung in wenig mehr als einem Jahrzehnt unter Rechtfertigungsdruck gebracht. Nie war die regionale Tageszeitung in ihrer traditionellen Form weiter vom Status der Unverzichtbarkeit entfernt. In der Sprache der Marketingstrategen ist sie vom unersetzlichen „Need“Produkt zu einem bloßen „Want“-Produkt geworden, das gegen immer neue Wettbewerber um die Aufmerksamkeit der Menschen und um seine Relevanz als Werbeträger kämpfen muss.

In allen westlichen Industriestaaten fallen die Auflagen und sinken die Erlöse im Print-Kerngeschäft. In der Generation der Digital Natives, die mit dem Internet aufgewachsen sind, ist die Tageszeitung kein selbstverständlicher Teil von Familie und Haushalt mehr. So wie in den USA erste Landstriche ohne eine tägliche gedruckte Lokalzeitung sind, so wird auch die Gruppe der jungen Erwachsenen, egal welcher Bildungsoder Einkommensschicht, zunehmend zu einem weißen Fleck auf der Zeitungslandkarte.„Junge Menschen rund um den Globus sind hungrig nach Nachrichten. Sie bevorzugen nur einfach nicht mehr unsere traditionellen Plattformen und Verpackungen“, fasste der Vorstandsvorsitzende der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP), Tom Curley, eine Studie zusammen, die 2007 die Mediennutzung junger Menschen in aller Welt untersucht hatte.

Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die Zeitung auf Papier angesichts der digitalen Konkurrenz von Internet, Smartphones und elektronischen Lesegeräten nicht vor einem ähnlichen Verdrängungsprozess steht wie einst das Segelschiff, das Pferde-Fuhrwerk, das Festnetz-Telefon oder die Vinyl-Schallplatte. Egal aber, ob und wann das Zeitalter des gedruckten Papiers endet – die eigentliche Funktion der Tageszeitung steht außer Frage. Junge Internetgründer, Stadtteil-Blogger oder globale Webkonzerne wie Google, eBay oder Facebook haben den Tageszeitungen ohne Zweifel wertvolle Teile ihres Geschäfts entrissen.

Aber keiner von ihnen hat es bislang verstanden, die zentrale Doppelrolle der Zeitung als verlässlicher Chronist des lokalen Lebens einerseits und als vertrauenswürdiger Moderator der Märkte vor Ort andererseits zu übernehmen. In diesen beiden Kernfunktionen, die zurückgehen auf das Zusammentreffen von Pressefreiheit und Gewerbefreiheit Mitte des 19. Jahrhunderts, steckt immer noch jene Substanz, die das Modell Lokalzeitung unverändert stark und zukunftsfähig macht.

Je virtueller und globaler die Märkte und die Medienwelten werden, desto größer wird zugleich die Sehnsucht der Menschen nach lokaler Verankerung und Orientierung. Die Welt vor Ort steht für gelebte Nähe, für gewachsene Beziehungen, für Vertrauen, Verlässlichkeit und Relevanz. Aber die lokale Lebenswelt ist ebenso im Umbruch wie die lokale Tageszeitung. Institutionen wie Kirchen, Parteien oder Vereine, die früher das Zusammenleben der lokalen Gemeinschaft bestimmten, verlieren vor allem in der westlichen Welt ihre traditionelle Bindungswirkung. Lokales Gewerbe und lokaler Handel verändern sich auch durch den Einfluss globaler und virtueller Wettbewerber. Google, eBay oder Amazon sind auch in den ländlichsten Regionen omnipräsent. Auch dort schafft das Web größere Auswahl und leichteren Zugang zur ganzen Fülle lieferbarer Produkte. Die großen Ladenund Handelsketten locken mit attraktiven Preisen ins Web oder in die Großmärkte und Outlet-Zentren am Stadtrand. Im Gegenzug aber wird das sichtbare Warenangebot vor Ort kleiner, selbstständige Ladenbesitzer geben auf, Dörfer und Innenstädte veröden.

Um eine dauerhafte Verarmung der lokalen Lebenswelt zu verhindern, sind Initiativen zur Neubelebung gefragt. Die Zeitung hat dabei in ihrer einzigartigen Doppelfunktion als Chronist und Erzähler am lokalen Lagerfeuer einerseits und als Vermittler von Angebot und Nachfrage im lokalen Markt andererseits immer noch eine herausragende Position. Klar ist aber auch, dass diese Bedeutung gelitten hat. Je größer vor

Kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die Zeitung auf Papier angesichts der digitalen Konkurrenz von Internet, Smartphones und elektronischen Lesegeräten nicht vor einem ähnlichen Verdrängungsprozess steht wie einst das Segelschiff, das Pferde-Fuhrwerk, das Festnetz-Telefon oder die Vinyl-Schallplatte.

allem in Europa und Nordamerika die Zeitungsgruppen wurden, desto geringer wurde vielerorts die lokale Präsenz. Dort, wo es die starke Marktstellung hergab, schöpfte mancher Verlag die sogenannten Monopolgewinne ab – oft auf Kosten einer verkleinerten Redaktion oder einer geschlossenen Geschäftsstelle.

Verlage, die auch in der digitalen Welt der Motor des Lokalen sein wollen, müssen diesen Trend umkehren und wieder die Nähe zu ihren Kunden suchen. Jeff Jarvis, JournalistikProfessor an der New Yorker City University und seit seinem Buch What would Google do? als Vordenker und Provokateur der Medienindustrie gefürchtet, meint auch die Verlage, wenn er feststellt: „Das Einzige, was künftig aus Sicht des Marktes zählt, ist Wert. Was ist Ihre Dienstleistung für die Öffentlichkeit wert? Wert wird durch Bedürfnisse bestimmt. Welche Probleme lösen Sie?

In der kundenzentrierten Organisation steht nicht mehr das eigene Produkt im Mittelpunkt, sondern der Anspruch, dem Endkunden oder dem Werbepartner mit der bestmöglichen Lösung den höchstmöglichen Wert zu schaffen. Print wird dabei zwischen allen zur Verfügung stehenden Kanälen und

Die Beziehungsplattform Facebook schafft es besser als jedes andere Massenangebot im Internet, hohe Potenziale in der Beziehungsökonomie mit langer Verweildauer der Nutzer, also einer starken Position in der Aufmerksamkeitsökonomie zu verbinden.

Plattformen noch sehr lange eine wichtige Rolle spielen, aber es ist keine Voraussetzung mehr. Das bedruckte Papier ist nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: für manche Kunden und deren Bedürfnisse nicht mehr unbedingt das effektivste.

Eine Zeitung, die als „Local Champion“ die Renaissance des Lokalen in der digitalen Welt organisiert, ist für die Menschen vor Ort zugleich Plattform und Netzwerk. Alle wesentlichen Wege führen zu ihr oder über sie, kaum einer an ihr vorbei. Dieses Konzept des kundenzentrierten „Local Champions“ verlangt eine neue Sicht auf die Kundenbeziehung als das wertvollste Gut im lokalen Markt. Modernes Customer Relationship Management (CRM) nimmt neben dem Stammkunden, egal ob Printabonnent oder Anzeigen-Key-Account, auch die Gelegenheitskunden und die Nichtkunden ins Visier.

Der „Local Champion“ muss immer auf den gesamten lokalen Markt zielen und wird sich nicht in Nischen abdrängen lassen. Dies kann aber nur dann gelingen, wenn sich Verlage das ausgefeilte Kundenmanagement und die zielgruppengerechte Produktentwicklung zu eigen machen, die in anderen Branchen längst Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit sind. Zwei Handlungsfelder bestimmen also zunehmend die Agenda des verlegerischen Unternehmers:

    Auf dem Feld der Beziehungsökonomie geht es darum, Kundenbeziehungen umfassend zu entwickeln und sie zur Grundlage aller Produktund Markenstrategien zu machen.

    In der Aufmerksamkeitsökonomie dagegen streiten die Medien mehr denn je um das knappe Zeitbudget der Menschen. Nur wer die sich permanent wandelnden Bedürfnisse der immer kleinteiligeren Zielgruppen frühzeitig erkennt und in maßgeschneiderten Produkten und Dienstleistungen anspricht, kann sich ein ausreichend großes Aufmerksamkeitsbudget in ausreichend lukrativen Zielgruppen sichern, um darauf tragfähige Geschäftsmodelle zu etablieren.


Nur eine professionelle Positionierung in der Beziehungsökonomie schafft dabei nach heutigem Erkenntnisstand eine Basis, um dauerhaft in der Aufmerksamkeitsökonomie bestehen zu können.

Diese Theorie erklärt übrigens auch die scheinbar irrationale Bewertung des Phänomens Facebook durch die Investoren. Die Beziehungsplattform Facebook schafft es besser als jedes andere Massenangebot im Internet, hohe Potenziale in der Beziehungsökonomie mit langer Verweildauer der Nutzer, also einer starken Position in der Aufmerksamkeitsökonomie, zu verbinden. Ausgerechnet Facebook-Gründer Marc Zuckerberg ist sicher, dass die digitale Welt die Verlage braucht.„Bring elegance to the web“, empfahl er den Publishern. Auch Zuckerberg weiß, dass weder Software noch der Schwarm der Nutzer in der Lage sind, aus Inhalten ein attraktives Programm zu machen oder relevante Kontexte herzustellen.

Die Chancen stehen gut. Aber werden die Verlage sie nutzen? Allein die Angst vor der Komplexität der neuen Welten schreckt viele ab. Manches Zeitungshaus konzentriert sich getreu dem Motto „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ lieber ganz auf das schrumpfende Kerngeschäft und die treue Stammkundschaft und reduziert Kosten und Strukturen. Ken Doctor sieht Parallelen zum Mannschaftssport und hält den Verlagen vor: „Ich sehe viele Aktivitäten in der Defensive, aber wo bleibt die Offensive?“

Die amerikanischen Medienmarktanalysten von AMR warnen deshalb vor falschen Hoffnungen und halbherzigen Entschlüssen: „Medienunternehmen müssen sich fragen, ob sie sich schnell genug und umfassend genug ändern können, um den sich ändernden Erwartungen ihrer traditionellen Nutzer und Werbekunden zu entsprechen.“

Dabei sind auch die Experten nicht sicher, was die idealen Strukturen für ein Zeitungshaus in der digitalen Welt sein werden. „Wir müssen uns fragen, ob die generellen Trendlinien für die großen nationalen und globalen Nachrichtenkonzerne wie die Financial times, das Wall Street Journal und die New York times die gleichen sein können wie für die regionalen Medien oder die kleinen lokalen Anbieter. Die regionalen Häuser könnten zum fünften Rad am Wagen werden, denn es sind Globalisierung und Hyperlokalität, die die größten neuen Potenziale in der neuen digitalen Leseund Werbewelt bieten“, schreibt Ken Doctor.

Der Schweizer Verleger der traditionsreichen Jungfrauzeitung Urs Gossweiler geht noch weiter, wenn er die regionalen Zeitungsverlage auffordert, seinem Beispiel zu folgen und ihre Blätter in viele hyperlokale Mikrozeitungen zu zerlegen. Nur in kleinen, eigenständigen Einheiten, so glaubt Gossweiler, ist Zeitung nah genug am Puls lokalen Lebens und lokaler Märkte, um die richtigen Antworten auf die Fragen von Lesern und Werbekunden zu haben.

Am Ende werden sich Strukturen und Organisationsformen am Selbstverständnis des neuen lokalen Zeitungshauses ausrichten. Der österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950), der den Unternehmer als einen „kreativen Zerstörer“ definierte, unterschied den echten Unternehmer, der für den Kapitalismus lebt und Werte schafft, von all denen, die als Händler und Finanziers nur vom Kapitalismus leben. Der Zeitungsverlag hat in den Zeiten des Generalanzeiger-Monopols gut von der lokalen Lebenswelt und dem lokalen Markt gelebt. Der „Local Champion“ des digitalen Zeitalters könnte es sich dagegen zum verlegerischen Auftrag machen, nicht zuerst von, sondern für diesen lokalen Raum zu wirken und so seine neue Wertschöpfung zu entwickeln.

Dabei kann die „mission: local“ nur dann gelingen, wenn sie als ganzheitliches Konzept verstanden und gelebt wird. Redaktionelle Unabhängigkeit und kommerzieller Erfolg waren im Modell Tageszeitung nie wirklich ein Gegensatz, sondern bedingten einander. Ein Zeitungsverlag, der seine Zukunft darin sieht, Motor des Lokalen zu sein, darf die redaktionelle Moderation lokaler Gemeinschaft und die kommerzielle Gestaltung lokaler Märkte nicht voneinander trennen. Beide gehören zusammen und befruchten einander. Entscheidend wird am Ende sein, ob der lokale Kunde der Marke Tageszeitung auf beiden Feldern vertraut und ihr zutraut, einen für ihn relevanten Wert zu stiften.


Meinolf Ellers unterstützt als Geschäftsführer der dpa-infocom Verlage in den Themen Crossmedia, mobiles Internet und E-Publishing. 2010 initiierte er mit weiteren Unterstützern das Projekt „goLocal“, in dem deutsche Verlage lokale Geschäftsmodelle entwickeln. www.dpa-infocom.de


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