Interview mit Prof. Dr. Ulrike Knobloch geführt von Lena Kronenbürger im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung
Lena Kronenbürger: Warum wird in unserer Gesellschaft, in der jeder Mensch auf Fürsorge und Zuwendung angewiesen ist – sei es als Kind oder als pflegebedürftiger Erwachsener –, die lebenswichtige Care-Arbeit oft als selbstverständlich betrachtet und nicht angemessen entlohnt?
Prof. Dr. Ulrike Knobloch: Der Mensch ist von Natur aus ein abhängiges Wesen. Dass wir alle von Fürsorge abhängig sind, wird oft ignoriert, vielleicht weil es so selbstverständlich ist. Die Ökonomie betrachtet den Menschen als unabhängiges, rationales Individuum und hat Schwierigkeiten, den Menschen als Teil einer Gemeinschaft, insbesondere eines Haushalts, zu verstehen. Seit 30 Jahren beschäftige ich mich damit, eine Ökonomie zu entwickeln, die von der Abhängigkeit des Menschen ausgeht, nicht von seiner Unabhängigkeit, was theoretisch wie praktisch eine große Herausforderung ist.
„In einer profitorientierten Gesellschaft gibt es keinerlei Anreiz,
unbezahlte Arbeit zu leisten“
LK: Welche gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren tragen zur Aufrechterhaltung der traditionellen Geschlechterrollen bei und verhindern eine gerechte Verteilung von Care-Arbeit zwischen Männern und Frauen?
UK: Jungen und Mädchen, Männer und Frauen sind gleichermaßen auf Fürsorge angewiesen. Die Abhängigkeit von Care-Arbeit ist bei beiden Geschlechtern gleich. Doch warum sind Männer in der Sorgearbeit so viel weniger vertreten? Zeitverwendungserhebungen zeigen, dass Frauen immer noch etwa zwei Drittel der unbezahlten Arbeit leisten, Männer nur etwa ein Drittel – mit schwerwiegenden Folgen. So erhalten Frauen im Rentenalter oft weniger Rente als Männer aufgrund ihrer größeren Beteiligung an der unbezahlten Arbeit und anderer wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben. Von Frauen werden immer noch bestimmte Dinge als selbstverständlich erwartet, zum Beispiel dass sie den Großteil der Kindererziehung übernehmen.
LK: In welchem Umfang sind Frauen heute tatsächlich noch dazu bereit, unbezahlte Care-Arbeit zu leisten?
UK: Immer weniger Frauen sind dazu bereit – und Männer ja auch nicht. Warum sollten sie auch? In einer profitorientierten Gesellschaft gibt es keinerlei Anreiz, unbezahlte Arbeit zu leisten. Deshalb ist es notwendig, sich als Gesellschaft darauf zu verständigen, wie lebensnotwendige Aufgaben in Zukunft gerecht verteilt werden sollen. Leider sind wir noch weit von diesem Punkt entfernt.
LK: Wie wirkt sich die Auslagerung von Care-Arbeit, wie beispielsweise die Kinderbetreuung zur Entlastung von Eltern, auf die Gesellschaft aus, und inwieweit ist diese Praxis eine nachhaltige Lösung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
UK: Als Gesellschaft haben wir in den letzten 50 Jahren viel Care-Arbeit ausgelagert, insbesondere weil Frauen vermehrt erwerbstätig geworden sind. Kindergärten, Ganztagsschulen, Fertiggerichte und Restaurantbesuche sind nur einige Beispiele dafür. Aber diese Auslagerung von früher unbezahlter Arbeit in die bezahlten Bereiche hat nicht dazu geführt, dass die Geschlechterthematik vom Tisch ist. Wenn wir überlegen, wer in Kitas zuständig ist, wer den Reinigungsdienst durchführt, wer im Haushalt putzt, wer zu Hause pflegt und in ambulanten Pflegediensten tätig ist, dann stellen wir fest, dass Frauen immer noch diese Aufgaben übernehmen. Dabei sind diese Jobs oft schlecht bezahlt und bieten nur geringe Aufstiegschancen.
„Als Gesellschaft ist es wichtig, dass wir endlich anerkennen, wie lebenswichtig die Betreuung von Kindern und die Pflege von älteren Menschen ist. Diese Aufgaben sollten nicht allein den Frauen zugeordnet werden“
Es muss betont werden, dass diese Auslagerung von Care-Arbeit eine gewisse Entlastung für Familien und insbesondere Frauen gebracht hat, aber gleichzeitig auch zur Prekarisierung bezahlter Arbeit beigetragen hat. Vieles von dem, was Frauen früher unbezahlt zu Hause gemacht haben, wurde in die bezahlten Bereiche ausgelagert. Aber jetzt werden diese Tätigkeiten von schlecht bezahlten Arbeitnehmerinnen übernommen. Es ist also wichtig, nicht nur die Auslagerung von Care-Arbeit zu betrachten, sondern auch die Arbeitsbedingungen in den bezahlten Bereichen zu verbessern, um ein faires und zukunftsfähiges System zu schaffen.
LK: Wie können wir als Gesellschaft die Bedeutung und Wertschätzung von Care-Arbeit stärken, um jenen, die diese wichtige Arbeit leisten, den gebührenden Respekt zu zollen?
UK: Als Gesellschaft ist es wichtig, dass wir endlich anerkennen, wie lebenswichtig die Betreuung von Kindern und die Pflege von älteren Menschen ist. Diese Aufgaben sollten nicht allein den Frauen zugeordnet werden. Wir müssen uns bewusst machen, dass dies grundlegende Tätigkeiten sind, auf die wir alle angewiesen sind, um gut versorgt zu sein und zu bleiben. Doch stattdessen konzentrieren wir uns oft auf finanzielle Investitionen und vernachlässigen dabei die sozialen Dienste, die für eine funktionierende Gemeinschaft so essenziell sind. Statt soziale Dienstleistungen abzubauen, müssen wir sie stärken und verbessern. Denn was nützt uns am Ende ein toller Job, wenn später keine angemessene Pflege verfügbar ist?
Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig ein starkes soziales Netzwerk ist. Wir brauchen eine Gemeinschaft, die uns unterstützt und auf die wir uns verlassen können, vor allem, aber nicht nur dann, wenn wir selbst nicht mehr alles schaffen. Deshalb sollten wir uns wieder darauf besinnen, dass es nicht allein die Verantwortung der Familie ist, Kinder zu erziehen oder ältere Menschen zu betreuen. Wir brauchen mehr Solidarität und Unterstützung von allen in der Gesellschaft, damit wir uns gegenseitig helfen können. Denn, wie das berühmte afrikanische Sprichwort sagt: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“
LK: Wie könnte dieser „Dorfgedanke“ konkret umgesetzt werden und inwiefern braucht es dazu politische Unterstützung?
UK: Wir müssen Strukturen schaffen und gestalten, die ein gemeinschaftliches Miteinander ermöglichen. Es gibt bereits einige Projekte, die als "Caring Commons" bezeichnet werden können. Elinor Ostrom, die erste Frau, die den Nobelpreis erhalten hat, hat deutlich gemacht hat, wie stark unsere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme auf dem Privateigentum basieren und was es bräuchte, um funktionierende Commons-Strukturen aufrechtzuerhalten. In den Wirtschaftswissenschaften ist noch immer das Konzept der "Tragedy of the Commons" verbreitet. Das bedeutet, wenn jeder auf ein Gemeingut zugreift, ist es schnell erschöpft oder nicht mehr funktionsfähig. Doch Elinor Ostrom hat gezeigt, wie es möglich ist, Gemeingüter aufrechtzuerhalten.
LK: Wenn wir von Care-Arbeit sprechen, reden wir häufig auch von Hausarbeit, die erledigt werden muss. Doch was bedeutet der Begriff "Haushalt" in der Ökonomie, und wie ist er im Kontext der Sorgearbeit zu verstehen?
UK: Als Wirtschaftswissenschaftlerin betrachte ich den Haushalt als wichtige Institution im Wirtschaftssystem, die oft vernachlässigt wird. Dabei schaue ich mir vor allem die unbezahlte Versorgungsarbeit an, die im Haushalt geleistet wird, um das Überleben und ein gutes Leben zu sichern. Im Haushalt wird aber auch bezahlte Arbeit geleistet, wie zum Beispiel die Pflege älterer Menschen durch ausländische Arbeitskräfte. Dadurch wird der private Haushalt zu einer globalen Institution, die nicht nur auf nationaler Ebene betrachtet werden kann.
Der Haushalt ist die Basis des Wirtschaftens. Das haben von der Antike bis ins Mittelalter hinein eigentlich alle, die sich mit ökonomischen Fragen beschäftigt hatten, auch immer so gesehen. Erst mit der Industriellen Revolution und den Klassischen Ökonomen seit Adam Smith fällt der Haushalt als ökonomische Institution aus der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung heraus. Aber der Haushalt ist eine zentrale ökonomische Institution. Meinen Studierenden sage ich deshalb immer: Der Haushalt ist genauso wichtig wie Unternehmen, Staat und Nonprofit-Organisationen. Dann wundern sie sich, weil der Haushalt in der ökonomischen Lehre keinen großen Platz mehr einnimmt.
"Eine Stunde ist eine Stunde, egal ob ich sie bezahlt oder unbezahlt für Arbeit aufwende."
LK: Wie sehen Ihrer Meinung nach die geeigneten Maßnahmen in Wissenschaft und Politik aus, um die Bedeutung von unbezahlter Arbeit anzuerkennen?
UK: Meine Hauptforderung wäre, in den Wirtschaftswissenschaften ganz selbstverständlich die Geschlechterforschung zu integrieren. Die Politik betreffend sind es dann daraus hergeleitete Punkte. Da fordere ich eine gerechte Entlohnung für die bezahlte Sorgearbeit und mehr Anerkennung für die unbezahlten Tätigkeiten im Haushalt. Eine Stunde ist eine Stunde, egal ob ich sie bezahlt oder unbezahlt für Arbeit aufwende. Auch an der Frauenarmut, die vor allem im Alter immer noch viel höher ist als bei Männern, muss sich dringend etwas ändern.
Im letzten Jahr wurde ein Gesetz verabschiedet, das alle zehn Jahre eine Erhebung der Zeitverwendung festschreibt. Das ist zwar ein guter Anfang, aber wenn wir bedenken, dass die unbezahlte Arbeit genauso wichtig ist und in der Summe mehr Stunden erfordert als die bezahlte Arbeit, müssen die Daten zur unbezahlten Arbeit viel öfter erhoben werden. Wie bei der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sollten diese Daten zumindest jährlich erhoben werden, um die Veränderungen und Verschiebungen in der Arbeitsbelastung festzuhalten. Obwohl es teuer und aufwendig ist, ist es notwendig, um die Bedeutung der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit im Wirtschaftssystem angemessen berücksichtigen zu können.
LK: Inwiefern hilft es den Unternehmen und dem gesellschaftlichen Wohlstand, wenn Care-Arbeit Privatsache ist?
UK: Die Sorgearbeit ist zum einen der Rückhalt für Wirtschaft und Gesellschaft und zum anderen werden im Bereich sozialer Dienstleistungen immer noch viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Die Automobilindustrie benötigt heute viel weniger menschliche Arbeitskraft, während wir in der Pflege immer mehr Personal brauchen. Leider sind die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich oft schlecht und die Bezahlung niedrig. Das führt dazu, dass viele Mitarbeitende kündigen und in andere Bereiche wechseln. Doch höhere Löhne für soziale Dienstleistungen zu zahlen, hätte Konsequenzen, die wir uns klar machen müssen. Zum Beispiel könnten durch eine bessere Bezahlung von Kita-Beschäftigen die Elternbeiträge steigen. Eine andere Lösung wäre es, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, indem beispielsweise die Arbeitszeitpläne besser an die Wünsche und Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege angepasst werden.
LK: Der Begriff "Care-Arbeit" lädt aktuell geradezu dazu ein, das zu tun, was wir in diesem Interview getan haben, nämlich über Geschlechtergerechtigkeit zu sprechen. Wofür steht Sorgearbeit in Ihren Augen noch?
UK: Das Sorgen für sich und andere ist etwas, was zutiefst mit unserem Menschsein zu tun hat. Die Sorgearbeit macht uns die Abhängigkeit aller Menschen bewusst. Ohne Sorgearbeit würden wir unser Menschsein verlieren.