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Fritz Naphtali (1888-1961), bedeutender Theoretiker der Wirtschaftsdemokratie, prägte das Konzept der Demokratisierung der Wirtschaft in der Weimarer Republik und wirkte später als Politiker und Wissenschaftler in Israel. Als Sozialdemokrat und Zionist engagierte er sich für sozialistische Reformen und die Mitbestimmung in der Wirtschaft. Naphtalis Arbeit beeinflusste nachhaltig die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Bewegung, sowohl in Deutschland als auch in Israel, wo er sich für den Aufbau einer gerechten Gesellschaft einsetzte.
Hören Sie den Eintrag zu Fritz (Perez) Naphtali auch als Hörbuch. (Hörzeit 11:44 Minuten)
Der Name Fritz Naphtali ist eng verbunden mit dem in der Weimarer Republik durch den sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband (ADGB) präsentierten Konzept der »Wirtschaftsdemokratie«. Mit diesem Werk, in dem das Prinzip der Demokratie auch auf die wirtschaftliche Sphäre angewandt wird, hat sich Naphtali einen Platz im Olymp der gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Reformer erworben. Zugleich verkörpert seine Biografie weitaus mehr: Er war praktischer Politiker und Intellektueller, Journalist und Sozialwissenschaftler, Berater der Gewerkschaften, der Genossenschaften und der Sozialdemokratie, er war Reformsozialist und Zionist. Schließlich war er erfolgreich in der Weimarer Republik und im 1948 neu geschaffenen Staat Israel. Ein Meisterdenker der Weimarer Republik und zugleich ein wichtiger politischer Funktionär und sogar Minister in Israel, die Biografie Naphtalis weist einen beeindruckenden Facettenreichtum auf.
Geboren wurde Naphtali (* 29.3.1888 · † 30.4.1961) in Berlin, wo seine Eltern der jüdischen Reformgemeinde nahestanden. Nach einer kaufmännischen Lehre ging er auf die Berliner Handelshochschule, wo er 1909 das Examen als Diplomkaufmann ablegte. Im Alter von 23 Jahren trat Naphtali in die SPD ein, mit deren revisionistischem Flügel er sympathisierte.
Sein beruflicher Werdegang nach dem Besuch der Handelshochschule war sehr abwechslungsreich und bunt. Von 1910 bis 1912 arbeitete er als kaufmännischer Angestellter bei der Deutschen Gasglühlicht AG, doch schon 1913 folgte der Wechsel in den Wirtschaftsjournalismus: Er schrieb als Wirtschaftsredakteur für die »Berliner Morgenpost« und die »Vossische Zeitung«. Nach einer Teilnahme am Ersten Weltkrieg setzte Naphtali. 1919 seine journalistische Tätigkeit fort. Zwischen 1921 und 1926 arbeitete er in der Wirtschaftsredaktion der »Frankfurter Zeitung«. Gleichzeitig gab er die Zeitschrift »Die Wirtschaftskurve« heraus. Von 1927 bis 1931 leitete er die Berliner »Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik«, die der SPD und dem ADGB nahestand. Seine Beiträge zur Demokratisierung der Wirtschaft führten zu einer Einbeziehung in politische Beratungsgremien wie dem Vorläufigen Reichswirtschaftsrat (1928–1933). Er war auch Direktoriumsmitglied der dem ADGB gehörenden »Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten«.
Neben seiner wissenschaftlich-journalistischen und beratenden Arbeit prägte er die reformsozialistischen Debatten auch als Dozent an der Freien Sozialistischen Hochschule in Berlin sowie als Vortragsredner und Fachschriftsteller. Auf dem Hamburger Kongress des ADGB hielt er 1928 das viel beachtete Grundsatzreferat »Die Verwirklichung der Wirtschaftsdemokratie.« Hierin warb er für eine Milderung und Verhütung ökonomischer Krisen, da die Interessen der Beschäftigten nur in Zeiten guter Konjunktur vorangebracht werden könnten. In diesem Sinne sah er den wachsenden Erfolg der NS-Bewegung auch als eine Reaktion auf die inneren Krisen der sozialistischen Bewegungen. Insbesondere deren orthodoxe Flügel hätten dazu beigetragen, die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit und den Sinn für vernünftige Reformen zu ignorieren.
Zu Naphtalis Biografie zählt aber auch sein dezidiertes Engagement in der zionistischen Bewegung. 1925 knüpfte er Kontakte zu erez-israelischen Arbeiterführern in Palästina und wurde 1928 zum Vorsitzenden der »Liga für das arbeitende Palästina« gewählt; 1930 nahm er am zionistischen Weltkongress teil. Nachdem er im Juli 1933 kurzzeitig von den Nazis inhaftiert worden war, verließ er Deutschland endgültig und emigrierte nach Palästina. Er lehrte Nationalökonomie in Haifa und Tel Aviv und leitete von 1938–49 als Generaldirektor die Arbeiterbank (»Hapoalim«) in Tel Aviv. Parallel dazu begann seine Laufbahn als Politiker in Palästina: Zunächst Stadtverordneter in Tel Aviv, war er 1949–59 Abgeordneter der Knesseth für die Arbeiterpartei (»Mapai«) und 1948/49 Vorsitzender des Wirtschaftsberatungsausschusses im Amt des Ministerpräsidenten. In den 50er-Jahren hatte Naphtali in den Kabinetten von Ben Gurion und Scharet verschiedene Ministerposten inne. Trotz seiner Schwerpunktsetzung zugunsten der Politik blieb er den israelischen Gewerkschaften bis an sein Lebensende eng verbunden: So wirkte er seit 1937 als Mitglied des Zentralausschusses der Gewerkschaft »Histadrut« und blieb auch einflussreicher Berater der israelischen Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung.
Auf der Suche nach einem Leitkonzept wählte der ADGB auf seinem Reichskongress in Breslau (1925) das Programmwort der Wirtschaftsdemokratie. Zu diesem Zweck setzte er eine Kommission ein, der neben Naphtali u. a. Hugo Sinzheimer (S. 324-329) und Rudolf Hilferding (S. 152-158) angehörten. Diese Kommission legte 1928 unter Naphtalis Namen einen programmatischen Text zur »Wirtschaftsdemokratie« vor. Beachtenswert war dies deshalb, weil sich Gewerkschaften ansonsten weniger als programmatische, sondern mehr als pragmatische Organisationen verstanden. Doch mit dem Konzept von Naphtali wollten sie auf Augenhöhe mit der SPD einen eigenen konzeptionellen Ansatz auf dem Weg zum Sozialismus vertreten. In der Wirtschaftsdemokratie sollte sich das sozialdemokratische Leitbild einer gemeinwirtschaftlichen Ordnung, die von lebendigen Selbstverwaltungskörpern getragen wird, widerspiegeln. Der Historiker Hans Mommsen sah darin im internationalen Vergleich »das modernste europäische Gewerkschaftsprogramm« (Mommsen 1978: 25).
In Naphtalis Denken war eine Transformation der ökonomischen Strukturen nur auf einer demokratischen und politischen Basis möglich. Insofern lehnte er vor allem den »Irrweg« der kommunistischen Strategie des ökonomischen Umsturzes ab. Doch auch Vorstellungen einer »bürgerlichen Demokratie«, die sich bloß auf politische Verfahrensfragen konzentrierte, kritisierte er. Die Arbeiterschaft müsse es deshalb lernen, »die Demokratie in ihrem Interesse zu gebrauchen und die bloß politische Demokratie zur sozialen auszugestalten« (Naphtali 1928: 16).
Neben der Demokratie war der Sozialismus der zweite zentrale ideenpolitische Bezugspunkt. Damit sollte zugleich signalisiert werden, dass die sozialistischen Gewerkschaften sich nicht mit dem betrieblichen Alltagskampf begnügen können:
»Wenn die deutschen Gewerkschaften die Forderung der Wirtschaftsdemokratie aufstellen, so bedeutet das für sie keinen Verzicht auf das sozialistische Ziel und keinen Ersatz für den Sozialismus, sondern es bedeutet eine Ergänzung der sozialistischen Idee in der Richtung der Klärung des Weges zur Verwirklichung. Sozialismus und Wirtschaftsdemokratie sind als Endziel untrennbar miteinander verknüpft.« (ebd.: 16)
Der Weg zum Sozialismus führe über den mühsamen Weg der ständigen Demokratisierung der Wirtschaft. An dieser Stelle knüpft Naphtali an Hilferdings (S. 152-158) Überlegungen zum organisierten Kapitalismus an. Durch den Strukturwandel des Kapitalismus seien Arbeitnehmer und Konsumenten gleichermaßen einer »wirtschaftlichen Autokratie« (ebd.: 17) wie einer neuen »kapitalistischen Despotie ausgeliefert« (ebd.: 17). Der »ununterbrochene Vormarsch der öffentlichen Wirtschaft« (ebd.: 18) zeige jedoch, »dass die Struktur des Kapitalismus selbst veränderlich ist und dass der Kapitalismus, bevor er gebrochen wird, auch gebogen werden kann«. Hinzu kam die Erfahrung, dass man mit der Arbeitszeitpolitik und in der Arbeitsrechtsprechung schon erste Erfolge bei der Einschränkung der »kapitalistischen Despotie« vorzuweisen hatte. (ebd.: 19)
Im Kern gründet die Wirtschaftsdemokratie auf zwei argumentativen Ausgangspunkten: erstens auf der Unzulänglichkeit der politischen Demokratie und zweitens auf der Kritik der wirtschaftlichen Autokratie (ebd.: 21). Aus dieser Analyse resultiert die Forderung nach einem »Ausbau der politischen Demokratie durch die Demokratisierung der wirtschaftlichen Beziehungen« (ebd.: 21). Als entscheidendes Instrument dieser Strategie der Demokratisierung wird die Mitbestimmung »durch alle Wirtschaftsgenossen« identifiziert und damit die Wirtschaftsdemokratie mit einer Gemeinwirtschaft gleichgesetzt. (ebd.: 22) Daneben behielt auch die betriebliche Mitbestimmung in Naphtalis Denken einen hohen Stellenwert. In diesem Sinne tragen auch Tarifverträge, die Arbeitslosenversicherung und nicht zuletzt die Verrechtlichung der Arbeitsverhältnisse dazu bei, die wirtschaftlichen Prozesse dem Interesse der Allgemeinheit unterzuordnen.
Auf dem Weg zur Wirtschaftsdemokratie kommt dem Staat eine zentrale Rolle zu: So sollen die marktbeherrschenden Unternehmen durch den Staat kontrolliert werden, indem ihre Aktivitäten öffentlich gemacht werden (ebd.: 39) und indem die Arbeitnehmer in der Geschäftsführung der Unternehmensorganisation vertreten sind, um die »Interessen der Gesamtwirtschaft in der Geschäftsführung zum Ausdruck zu bringen« (ebd.: 41). Damit definiert Naphtali die unternehmerische Führung nicht durch Besitz, sondern durch den Bezug aufs Gemeinwohl.
Anknüpfend an die Weimarer Reichsverfassung wird die Selbstverwaltung in der Wirtschaft zum Vehikel, um die Verantwortung der Wirtschaft für das Allgemeinwohl sicherzustellen. Die Selbstverwaltungskörper sollen eine arbeiterliche Führungselite ermöglichen und zugleich die privaten Monopolinteressen zügeln. (ebd.: 60)
Neben die öffentlichen Betriebe gesellen sich genossenschaftliche und gewerkschaftliche Eigenbetriebe. In diesen wirtschaftlichen Einheiten solle es vorrangig um Bedarf und Versorgung und um Produzenten- und Konsumenteninteressen gehen (ebd.: 78), wobei Konsumenten den Rang transformatorischen Kapitals für eine neue »Bedarfsdeckungswirtschaft« (ebd.: 89) einnehmen.
Nach 1945 haben sich sowohl SPD als auch Gewerkschaften an Naphtalis Vorstellungen von einer »Wirtschaftsdemokratie« orientiert. Auch wenn in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik alle Versuche scheiterten, das Programm der Wirtschaftsdemokratie zu verwirklichen, so blieb dieses Konzept für die Gewerkschaften programmatisch und mental lange leitend. Gewerkschaften erscheinen in diesem Modell als Sachwalter von Beschäftigteninteressen wie auch des öffentlichen Interesses. An dieses selbstbewusste Selbstverständnis haben die Gewerkschaften nach 1945, vor allem in der Tarif- und Mitbestimmungspolitik, angeknüpft.