Veränderung des Status quo und Ende der Nachkriegsordnung
Der Status quo beider Länder und des europäischen Kontinents hat sich auf bedeutende Weise geändert: Die Ukraine und Russland befinden sich im Krieg miteinander. Zwar wurde in Teilen der Ukraine bereits seit 2014 ein bewaffneter Konflikt mitsamt einer maßgeblichen russischen Beteiligung ausgetragen, der aufgrund des substanziellen Eingreifens Russlands auch als Krieg bezeichnet wird. (6) Dieser beschränkte sich jedoch überwiegend auf den Osten des Landes und die von Separatist_innen ausgerufenen, international nicht anerkannten pro-russischen Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Außerdem war dieser in seiner Intensität nicht mit dem aktuellen Krieg vergleichbar. Am 24.02.2023 griffen russische Streitkräfte die Ukraine von Osten, Norden und Süden in einer groß angelegten Invasion an (7) und attackierten in den darauffolgenden Wochen und Monaten Ziele auf dem gesamten ukrainischen Staatsgebiet. (8)
Dass ein Land in Europa sein Nachbarland angreift, ist eine bedeutende Veränderung der europäischen Nachkriegsordnung (9) sowie eine Missachtung der Schlussakte von Helsinki und ihrer Friedensordnung. Dieses Abkommen war das Ergebnis der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1973. 35 Staaten beider Seiten der im Nachkriegseuropa vorherrschenden Blöcke – inklusive der Sowjetunion – verpflichteten sich mit der Unterzeichnung der Schlussakte unter anderem zu folgenden Prinzipien in ihren Beziehungen zueinander (10):
- Verzicht auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt
- Unverletzlichkeit von Grenzen
- Achtung der territorialen Integrität der teilnehmenden Staaten
- Friedliche Lösung von Konflikten
Die KSZE sollte so Vertrauen zwischen den Ländern schaffen und als eine Friedensordnung für Sicherheit in Europa sorgen. Nach dem Ende des Kalten Krieges ordnete sich Europa wiederum neu: Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 sowie der Zerfall der Sowjetunion 1991 hatten die Auflösung alter und die Bildung neuer Staaten zur Folge. Die Aufteilung Europas in einen Ost- und einen Westblock zerfiel. An die Stelle von hohen Rüstungsausgaben zur Sicherung von Frieden sollten enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Ländern Europas treten – mit dem Ziel, den friedlichen Status quo aufrechtzuerhalten. Insbesondere mit Russland wurden die Handelsbeziehungen intensiviert: Neben dem Export begehrter Güter importierten viele westeuropäische Staaten große Mengen Energie aus Russland. Solche gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten sollten Vertrauen schaffen. (11)
Neben der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg bezeichnet der Begriff Nachkriegsordnung daher auch das Bestreben, nachhaltigen Frieden zu schaffen und sich von Krieg als Instrument der Durchsetzung eigener Interessen abzuwenden. (12) Dass dies nicht überall gelang, zeigen die vorwiegend in Südosteuropa seit den 1990ern ausgetragenen Kriege und bewaffneten Konflikte. (13) Dennoch stellt der Krieg gegen die Ukraine im Vergleich einen besonderen Einschnitt dar: Der Angriffskrieg dieser Dimensionen inmitten Europas und in direkter Nachbarschaft zur EU beendet die zuvor bestehende Nachkriegsordnung und das Vertrauen darauf, Konflikte durch Handel und Kooperation friedlich lösen beziehungsweise verhindern zu können. (14)
Welch großen Einfluss der russische Angriffskrieg auf die Sicherheitspolitik in Europa genommen hat, zeigen auch die Beispiele Schwedens und Finnlands: Die beiden nordischen Länder verfolgten jahrzehntelang eine Politik der militärischen Bündnisfreiheit. Angesichts des Krieges in der Ukraine haben sie diese innerhalb kürzester Zeit revidiert und einen NATO Beitritt forciert. (15) Eine historische Entscheidung, die für sich genommen bereits eine Zeitenwende darstellt. (16)