Noch bevor die Parteien in Deutschland in den Wahlkampf starteten, wurde die Europawahl 2019 bereits als „Schicksalswahl“ bezeichnet. Viele alte Gewissheiten schienen auf dem Spiel zu stehen: Nach Jahrzehnten der EU-Erweiterung und einer immer engeren Zusammenarbeit, führte der Brexit die konkrete Gefahr einer Desintegration der EU vor Augen. Zunehmende Spannungen zwischen der EU und den USA über Freihandel, Zölle und Militärausgaben, sowie die Auswirkungen des Handelskrieges zwischen den USA und China zeigten die Verletzbarkeit der EU gegenüber äußeren Einflüssen.
Für jene Wähler, die den allgemeinen pro-europäischen Konsens in Deutschland teilen, stellt der Aufschwung von Parteien und Regierungen in der EU, die das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit herausfordern, eine große Bedrohung dar. Wie eine Umfrage vor der Europawahl zeigte, sind 88 Prozent der Wähler der Meinung, dass es wichtig ist, zur Wahl zu gehen, um damit den Einfluss von Rechtspopulisten im Europäischen Parlament einzudämmen. Angst vor dem Auseinanderfallen der EU hatte eine mobilisierende Wirkung auf die meisten moderaten Wähler.
Auf der anderen Seite fühlt sich ein kleiner, aber wachsender Teil europakritischer Wähler bedroht von der Idee einer Regierungsform jenseits des Nationalstaats und assoziieren die EU mit unkontrollierter Einwanderung.
Der größte Gewinner der Europawahl in Deutschland sind Die Grünen, die ihr Ergebnis um 9,8 Prozent gegenüber der Wahl 2014 verbessern konnten und sich auf einem Höchststand von 20,5 Prozent befinden. Da die Sozialdemokraten niedagewesene Verluste von 11,4 Prozent erlitten und nur 15,8 Prozent der Stimmen gewannen, kamen die Grünen an zweiter Stelle nach der CDU/CSU (28,9 Prozent). Das ist das erste Mal, dass die SPD bei einer bundesweiten Wahl an dritter Stelle nach den Grünen steht. Die CDU/CSU (28,9 Prozent) entsendet zwar immer noch die größte Delegation ins Europaparlament, jedoch mit erheblichen Verlusten, besonders unter jungen Wählern. Im Vergleich zu den Europäischen Wahlen von 2014, konnte die europakritische AfD (11 Prozent) ihr Ergebnis um 3,9 Prozent verbessern, schnitt jedoch schlechter ab als bei der letzten Bundestagswahl (12,8 Prozent). Die liberale FDP konnte ihr Ergebnis um 2,1 Prozent (5,4) verbessern und steht damit fast gleichauf mit der Linksaußen-Partei Die Linke (5,5), die 1,9 Prozent der Stimmen im Vergleich zu 2014 verloren hat.
Größere Polarisierung, begrenzte Fragmentierung des Parteiensystems
Die Wahlergebnisse in Deutschland sprechen für eine stärkere Polarisierung in der kulturellen Dimension, wie die Zuwächse von Grünen (sozial progressiv, pro-EU) und AfD (autoritär, anti-EU) zeigen. Die großen Verluste für die zwei Volksparteien SPD und CDU/CSU, vor allem bei Wählern unter 60, weisen darauf hin, dass sich Deutschland zu einem multipolaren Parteiensystem entwickelt, mit komplexen Optionen für Regierungskoalitionen.
Anders als bei bundesweiten Wahlen, gibt es in Deutschland keine Prozenthürde bei Europawahlen. Trotz hoher Gewinne für kleinere Parteien (der Anteil von Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, stieg gegenüber 2014 um 4,1 Prozent auf 12,9 Prozent), gibt es wenig Anzeichen für eine langfristige Fragmentierung des Parteiensystems – wie beispielsweise in den Niederlanden.
Wachsendes Interesse an europäischer Politik
Die Wahlbeteiligung in Deutschland (61,4 Prozent) lag um einiges höher als die durchschnittliche Wahlbeteiligung in der Europäischen Union (50,6) und erreichte den höchsten Wert bei einer Europawahl seit der Wiedervereinigung. Die Wahlen zum Europaparlament wurden in den vergangenen Jahrzehnten als Nebenwahlen angesehen, als weniger wichtig im Vergleich zu Bundestagswahlen und eine Gelegenheit für „Protestwähler“. Einiges spricht dafür, dass die Europawahlen 2019 diesen Trend aufhalten konnten.
Auf die Frage, ob ihre Wahlentscheidung in der Europawahl stärker von der Politik auf der Bundes- oder der Europäischen Ebene beeinflusst wird, würden deutsche Wähler gewöhnlich die Bundespolitik als wichtiger ansehen. In dieser Europawahl bezeichnete jedoch erstmals eine Mehrheit von 57 Prozent die Europäische Ebene als wichtiger für ihre Wahlentscheidung. Heute hält eine große Mehrheit die Entscheidungen des Europäischen Parlaments für wichtig - 71 Prozent im Vergleich zu 56 Prozent 2014 (Forschungsgruppe Wahlen).
Die politische Situation und Debatten im Vorfeld der Wahlen
Auf Bundesebene wurde die politische Situation vor den Europawahlen geprägt von schwierigen und ungewöhnlich langen Koalitionsverhandlungen nach den Bundestagswahlen 2017 und einer instabilen Regierungskoalition. Nachdem Koalitionsgespräche zwischen der CDU/CSU, den Grünen und der FDP gescheitert waren, konnte eine neue Regierung nur durch eine erneute Große Koalition von CDU/CSU und SPD gebildet werden – 171 Tage nach dem Wahltag.
Seit ihrer Zusammensetzung im März 2018, war diese Koalition großem Druck ausgesetzt, da die Sozialdemokraten (und in geringerem Ausmaß die bayrische CSU) sich der Gefahr ausgesetzt sahen, in diesem Arrangement mit der CDU ihr Profil und Wählerstimmen zu verlieren. Den Eintritt in eine neue Große Koalition hatten die Sozialdemokraten von einem Mitgliederentscheid abhängig gemacht, bei dem Zweidrittel der Mitglieder die Entscheidung für eine erneute Koalition unter Führung der CDU/CSU unterstützten. Nichtsdestotrotz drängt ein nicht unerheblicher Teil der SPD-Mitglieder die Parteiführung dazu, die Koalition zu verlassen.
Klimaschutz hat hohe Priorität unter Wählern
Von Januar bis Mai 2019 verdrängte Klimaschutz das Thema Einwanderung vom ersten Platz der wahlentscheidenden Themen. Auf die Frage, welches die wichtigsten Probleme sind, vor denen Deutschland steht, stand „Einwanderung“ seit 2016 kontinuierlich auf Platz eins. Bei den Umfragen im Januar 2019 war dies immer noch der Fall und 39 Prozent identifizierten Einwanderung als großes Problem. Anfang Mai jedoch hatte die Bedeutung von „Umwelt und Energie“ zugenommen und wurde von 30 Prozent der Befragten als größtes Problem wahrgenommen (Forschungsgruppe Wahlen).
Im Kontext der andauernden Proteste der Bewegung Fridays for Future, einer breiten medialen Debatte über Dieselabgase und über den Kohleausstieg, stieg Klimapolitik in der Priorität der Wähler auf den ersten Platz. Zehn Tage vor dem Wahltag in Deutschland sahen fast die Hälfte der Wähler (48 Prozent) Klimaschutz als ein wahlentscheidendes Thema an, gefolgt von sozialer Sicherheit (43 Prozent), Bewahrung des Friedens (35 Prozent), Einwanderung (25 Prozent) und wirtschaftlichem Wachstum (19 Prozent) (Infratest dimap). Mieten und der Wohnungsmarkt erschienen ebenso als ein hervorstechendes Thema, das im April 2019 von 17 Prozent und im Mai von 11 Prozent der Befragten als großes Problem identifiziert wurde (Forschungsgruppe Wahlen).
Faktoren für Erfolg und Niederlage beim Abschneiden der Parteien
Von der gestiegenen Bedeutung von Fragen des Umweltschutzes und der Energiegewinnung profitierten Die Grünen, da sie beim Wähler klar mit diesen Themen in Verbindung gebracht werden. Außerdem wird der Partei die größte Kompetenz im Feld Klimaschutz zugetraut (59 Prozent), gefolgt mit einigem Abstand von der CDU/CSU (10 Prozent).
Die Tatsache, dass die CDU/CSU als kompetenteste Partei in den wichtigsten Politikfeldern angesehen wird, wie zum Beispiel der Wirtschaft (37 Prozent), der Europapolitik als solche (28 Prozent), beim Thema Flüchtlinge und Migration (27 Prozent), schlug sich nicht in besseren Wahlergebnissen nieder. Die SPD steht in den meisten Kompetenzbereichen auf dem zweiten Platz und bei sozialer Gerechtigkeit auf dem ersten Platz (24 Prozent), aber nur 4 Prozent sehen die SPD als die kompetenteste Partei im Bereich Klimaschutz. Da soziale Gerechtigkeit als ein Thema angesehen wird, das auf der Bundesebene verhandelt wird, ist es unwahrscheinlich, dass die SPD mit ihrer Kompetenz in diesem Bereich bei Europawahlen punktet.
Wie die Heatmaps der SPD (siehe unten) zeigen, haben die Sozialdemokraten immer noch ein großes Feld an Sympathisanten, konnten diese jedoch nicht mobilisieren. Wähler der Mitte sahen in der CDU/CSU, der FDP oder den Grünen glaubwürdigere Optionen, während links-progressive Wähler sich vor allem für Die Grünen als Stimme für Veränderung auf der europäischen Ebene entschieden. Der SPD gelang es nicht, Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf die europapolitische Agenda zu setzen.
Während die Parteiführung nicht erfolgreich darin war, die Debatte in Richtung sozialer Gerechtigkeit zu verschieben, wurden Stimmen in der SPD Jugendorganisation, Jusos zugunsten einer Enteignung großer Konzerne, zum Beispiel im Immobiliensektor, breit medial diskutiert, aber von zentristischen Wählern nicht gut aufgenommen.
Die Grünen konnten dagegen sowohl wirtschaftlich links als auch rechts stehende Wähler anziehen, wie die große Varianz auf der Links-Rechts-Achse zeigt. Teil ihres Erfolgs war, dass die Grünen nach außen geschlossen auftraten, ohne größere Konflikte zwischen dem traditionellen linken Flügel (Fundis) und den eher rechts stehenden Realos. Dementsprechend wurde die Partei von 52 Prozent der Wähler als Vertreter einer „modernen bürgerlichen Politik“ wahrgenommen (Infratest dimap). Die Aussicht auf eine Koalition zwischen CDU/CSU und den Grünen genießt momentan die größte Unterstützung seit Langem.
Die europaskeptische AfD hatte Schwierigkeiten, zwischen der konsequenten Ablehnung der EU und Angeboten an moderate Europakritiker zu navigieren. Die AfD genießt jedoch nach wie vor die Unterstützung von Wählern, die Einwanderung und die Verbreitung des politischen Islam als bedeutende Themen ansehen. Außerdem konnte die AfD erfolgreich Bürger erreichen, die nicht mit den Politikzielen der Partei übereinstimmen, jedoch ihre Abstimmung als Protestwahl ansahen.
Europawahlen sind für Die Linke traditionell ein schwieriger Wettbewerb. Obwohl die Partei einen internen Kompromiss finden konnte und Wahlkampf eher für als gegen die EU machte, wurde die Partei offensichtlich von pro-europäischen, linken Wählern nicht als überzeugende Wahloption angesehen. In Bezug auf europaskeptische Wähler mit wirtschaftlich linken Präferenzen konkurriert Die Linke mit der AfD, vor allem in Ostdeutschland.
Die FDP versuchte, auf ihrem Ruf als Anwalt für Bürgerrechte und Innovationen auf der europäischen Ebene aufzubauen. Während einige Wähler die Ablehnung der FDP gegenüber der Einführung von „Upload-Filtern“ auf Internet-Plattformen begrüßten, schnitt die FDP nicht so gut unter pro-europäischen Wählern ab wie Die Grünen. Schlussendlich gibt es nur einen kleinen Anteil, der den entschieden wirtschaftsliberalen Standpunkt der FDP teilt.