Konvergenz und Kontinuität – Irans Regionalpolitik unter Präsident Raissi

In der Regionalpolitik dominieren die Hardliner schon jetzt die Strategie und deren Umsetzung. Substanzielle Änderungen sind unter dem nächsten Präsidenten nicht zu erwarten.

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Hamidreza Azizi

 

 

Wer als Wahlsieger in der Abstimmung über die Nachfolge des moderaten iranischen Präsidenten Hassan Rohani hervorgehen würde, stand quasi fest. Der Ausschluss der reformorientierten und gemäßigten Kandidierenden veranlasste über die Hälfte der Wahlberechtigten, am 18. Juni zuhause zu bleiben. So war es keine Überraschung, dass der konservative Kleriker und Justizchef Ebrahim Raissi das Rennen um die Präsidentschaft mit überwältigender Mehrheit gewann.

Beobachter*innen gehen zu Recht davon aus, dass die Wahl Raissis und der vollständige Ausschluss der Moderaten aus wichtigen Regierungsinstitutionen den Beginn bedeutender Veränderungen in der iranischen Politik markieren. Die iranische Außenpolitik und insbesondere die Nahoststrategie des Landes dürften hiervon jedoch ausgenommen sein und weder eine substanzielle Neuorientierung noch fundamentalen Richtungswechsel erfahren.

Rohanis achtjährige Präsidentschaft war geprägt von deutlich unterschiedlichen Ansätzen in der Regionalpolitik von Regierung und Außenministerium einerseits und den Hardlinern, insbesondere der Revolutionsgarde und ihrer Verbündeten, andererseits. Überzeugt, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen nationalen Interessen und der Sicherheit Irans und seiner Nachbarn besteht, verfolgten die Gemäßigten einen grundsätzlich liberalen, auf Dialog und Diplomatie basierenden Kurs. Außenminister Mohammad Javad Zarif und andere hohe Beamte der Regierung Rohani verwiesen nicht zuletzt deshalb immer wieder auf die Idee eines kollektiven Sicherheitssystems in der Region und schlugen Initiativen wie das Hormuz Peace Endeavor (HOPE) oder ein „Persian Gulf Security Forum“ vor.

Im Gegensatz dazu verfolgen die Hardliner in ihrer Nahostpolitik einen realpolitischen Ansatz und sind überzeugt, der Ausbau der eigenen Stärke sei das wichtigste Instrument zur Garantie maximaler nationaler Sicherheit. Zwar schließen sie den Dialog mit anderen Staaten in der Region nicht aus, glauben jedoch, dass dieser nur aus einer Machtposition heraus zu führen ist. Ihr Ansatz impliziert überdies eine unbeugsame und kompromisslose Haltung gegenüber den USA.

Zu Beginn seiner Präsidentschaft verfolgte Rohani die beschriebene moderate Variante der Regionalpolitik. Die Hardliner durchkreuzten seine Bemühungen jedoch im Januar 2016 mit dem Sturm auf die saudi-arabische Botschaft in Teheran und das saudische Konsulat in Mashhad. Der darauf folgende Rückzug der USA aus dem 2015 vereinbarten Atomabkommen JCPOA – Rohanis wichtigste politische Errungenschaft – sorgte für eine weitere Schwächung der Position der gemäßigten Fraktion in der iranischen Außenpolitik, insbesondere in der Region. Im Januar 2021 erklärte Zarif in einem Interview, dass das Außenministerium in der Politik Irans in der Region „quasi keine Rolle“ spiele. In einer polarisierenden Äußerung, die im April an die Medien durchsickerte, konstatierte er überdies, dass sein Amt durch die Revolutionsgarde regionalpolitisch völlig ins Abseits gedrängt worden sei.

Die Hardliner dominierten also bereits lange vor den Wahlen vom 18. Juni die Gestaltung und Umsetzung der iranischen Politik in der Region. Wer diesbezüglich noch Zweifel hatte, wurden von Ayatollah Seyyed Ali Chamenei selbst eines Besseren belehrt: In einer Rede sagte der Oberste Führer mit aller Deutlichkeit, dass Irans Außenpolitik nicht vom Außenministerium sondern auf höherer Ebene bestimmt werde.

Ebrahim Raissi und die ihm nahestehenden Politiker*innen – einschließlich der beiden Hardliner, die ihre Kandidaturen im Rennen um die Präsidentschaft zurückzogen, um ihn zu unterstützen – sind überzeugte Anhänger*innen der realpolitischen Version der iranischen Regionalpolitik. Der neu gewählte Präsident verteidigt explizit den Einfluss und das Engagement Irans in der Region, die er als relevante Machtfaktoren begreift. „Irans regionale Macht ist wichtiger als die Verteidigungs- und Raketenkapazitäten des Landes“, sagt er und fügt hinzu: „Amerika und Israel wissen, dass Iran große operative Kapazitäten und eine Vormachtstellung [in der Region] hat.“ Selbstbewusst erklärt er weiter: „In der Region ist ohne die Zustimmung der Islamischen Republik kein Gleichgewicht möglich.“ Saeed Jalili und Hossein Amir-Abdollahian, zwei Hardliner-Politiker, die als potenzielle Außenminister in Raissis Kabinett gehandelt werden, vertreten eine noch radikalere Haltung.

Gewiss lässt sich das sogenannte Lager der Hardliner in der iranischen Politik nicht über einen Kamm scheren. In vielen Fragen herrschen deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen und Vertreter*innen dieser Strömung. Doch in der Außenpolitik scheint man sich in den beschriebenen realistischen Grundprinzipien einig zu sein. Insofern wird Ebrahim Raissis Wahlsieg vermutlich zu mehr außenpolitischer Homogenität zwischen Regierung und jenen staatlichen Institutionen führen, die bereits vor seiner Wahl von der Hardliner-Fraktion und vor allem von der Revolutionsgarde gesteuert wurden. Da sich Regierung und Außenministerium schon in der Vergangenheit auf die Umsetzung der auf einer höheren Ebene geplanten Politik beschränkt haben, wird es Kontinuität in der allgemeinen außenpolitischen Ausrichtung und den Strategien in der Region geben. Gleichzeitig wird dieser Grundkonsens bei der Implementierung bestimmter regionaler Politik das Vertrauen der nicht gewählten staatlichen Institutionen – insbesondere des Obersten Nationalen Sicherheitsrats (SNSC) und der Revolutionsgarde – in das Außenministerium stärken.

Damit reduziert sich das Potenzial für Spannungen zwischen der Regierung und den genannten Institutionen. Es ist gleichermaßen zu erwarten, dass von der Regierung vorgeschlagene Initiativen nicht unmittelbar von den Hardlinern behindert oder sabotiert werden, wie es 2016 im Fall der geplanten Annäherung an Saudi-Arabien geschah.

Dieser neue Trend wird sich auch praktisch in verschiedener Hinsicht auswirken. Erstens wird Teheran angesichts der Tatsache, dass die Hardliner-Fraktion das regionale Engagement als Schlüsselelement von Irans nationaler Macht betrachtet, weiterhin aktiv die Regierung des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad sowie die verbündeten und „Proxy-“Gruppen der Islamischen Republik im Irak, Jemen, Libanon und Syrien unterstützen. Aus diesem Grund wird Teheran auch keinesfalls bereit sein, die Rückkehr zum JCPOA durch ein regionales Abkommen mit Washington zu ergänzen.

Vielmehr wird Iran die Nuklear- und die Regionalfrage weiterhin als zwei separate Dossiers betrachten: Während die Atomfrage eine Angelegenheit von Iran und den USA ist, bei der die Staaten der Region – entgegen ihrem erklärten Wunsch – auch weiterhin keine Rolle spielen, müssen Fragen der Regionalpolitik in direkten Gesprächen zwischen Teheran und den Nachbarn geregelt werden.

Tatsächlich nimmt der regionale Dialog bereits Fahrt auf. Vor einigen Monaten begann ein Prozess der Annäherung zwischen Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). VAE-Vizepräsident und Premierminister Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum gehört zu den ersten hochrangigen Persönlichkeiten der Region, die Raissi zum Wahlsieg gratulierten. Gleichzeitig wird erwartet, dass die vom Irak vermittelten Gespräche zwischen Iran und Saudi-Arabien unter Raissi fortgesetzt werden. Laut Zarif wollten saudische Offizielle den Ausgang der iranischen Wahl abwarten, bevor sie die Verhandlungen fortsetzen würden, doch man versicherte ihnen bereits vor dem 18. Juni, dass auch die nächste Regierung in Teheran die Spannungen mit Riad entschärfen wolle. Das ist nachvollziehbar, denn schließlich führte nicht das Außenministerium die Verhandlungen mit den Saudis, sondern von Anfang an der SNSC.

Zu bedenken ist gleichwohl, dass in der Logik der Hardliner Verhandlungen nur aus einer Position der Macht heraus sinnvoll sind. Dass Iran in jüngerer Zeit Interesse an einer Deeskalation der Spannungen mit Saudi-Arabien demonstrierte, rührt daher, dass Riad zunehmend von Teheran und seinen jemenitischen Huthi-Verbündeten unter Druck gesetzt wird und letztlich keine andere Wahl hat, als sich mit der Islamischen Republik zu einigen. Infolgedessen könnte jede mögliche zukünftige Verschiebung des regionalen Kräfteverhältnisses zu Ungunsten Irans beide Seiten in die Ära der Spannungen zurück katapultieren, obwohl Teheran sich durchaus ernsthaft für eine diplomatische Lösung engagiert.

Raissis Regionalpolitik wird eine Kombination aus fortgesetzten Bemühungen um eine Ausweitung des regionalen Einflusses und dem Wunsch nach einer Entschärfung der Spannungen mit den arabischen Nachbarn sein. Der diesem Ansatz innewohnende Widerspruch zwischen Sicherheitslogik und diplomatischem Vorgehen könnte die iranische Strategie in der Praxis jedoch scheitern lassen.

 

 

Dr. Hamidreza Azizi ist Alexander von Humboldt-Stipendiat der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Auf Twitter: @HamidRezaAz

 

 


Über diesen Blog

Unser Blog möchte eine vielschichtige Debatte zu den iranischen Präsidentschaftswahlen am 18. Juni bieten. Hierzu wirft er Schlaglichter auf Aspekte, die für Iraner*innen im Kontext der Wahlen wichtig sind, ebenso wie auf Grundsätzliches, etwa der Frage nach der Bedeutung von Wahlen in einem autokratischen System. Beachtung finden auch die Perspektiven ausgewählter Regionalakteur*innen.

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David Jalilvand ist Analyst und leitet die Berliner Research Consultancy Orient Matters

Achim Vogt verantwortet das FES-Projekt Frieden und Sicherheit in der MENA-Region.

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