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Der adaptive Staat

Philipp Staab

Pandemie, Inflation, Krieg, Klimawandel und die Notwendigkeit ökologischer Modernisierung – diverse Krisen und Einflüsse fordern schnelle und direkte Reaktionen der Regierung. Anpassung ist laut Philipp Staab das neue Leitmotiv staatlichen Handelns.

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„Heute leben wir in einer anderen Wirklichkeit und wir passen uns schnell an“, so Olaf Scholz im Angesicht von Krieg und Energiekrise im Jahr 2022. Ähnlich zur Weltfinanz- und Euro-Schuldenkrise der späten 2000er Jahre, der Covid-19-Pandemie oder den immer häufiger auftretenden Extremwetterlagen haben wir es auch beim russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit einem Ereignis zu tun, das – auch wenn es manche rückblickend schlüssig erklären zu können glauben – in vollkommen unerwarteter Weise über die Gesellschaften des transatlantischen Westens hereingebrochen ist. Das Zitat des Kanzlers verdeutlicht, was in Situationen dieser Art gefragt ist: Anpassung, bestenfalls als schnelle, flexible und politisch koordinierte Reaktion auf Umstände, die nicht mehr verhindert werden können, wird zum Leitmotiv staatlichen Handelns.

Vieles spricht dafür, dass wir es bei einem erzwungenermaßen adaptiv agierenden Staat nicht mit einer Momentaufnahme zu tun haben. Pandemie, Inflation, Krieg, Klimawandel und die Notwendigkeit ökologischer Modernisierung sind keine unglückliche Verkettung von Zufällen, die schon wieder vergehen wird. Im Zeichen multipler und planetarer Krisenkonstellationen ist vielmehr zu erwarten, dass Politiken der Anpassung – also politische Maßnahmen zur Stabilisierung von Gesellschaft in Reaktion auf eingetretene oder erwartete Probleme – die dominanten Praktiken der Bewirtschaftung politischer Legitimität im 21. Jahrhundert sein werden.
 

Strukturlogik der Anpassung


Einer der zentralen Gründe für den Aufstieg von Anpassung als Leitmotiv staatlichen Handelns ist, dass die gegenwärtigen Krisen sich gegenseitig verstärken, wie sich etwa an den Zusammenhängen zwischen Klimawandel, Energiekrise, Pandemie, staatlicher Fiskalkrise, Inflation und sozialer Ungleichheit zeigt. Aufgrund dieser Interdependenz ergeben sich immer neue Notwendigkeiten zur adaptiven Stabilisierung der Gesellschaft.

Marktzentrierte Ansätze bilden dabei nach wie vor das Default-Setting der präventiven Reaktionen auf Krisen, insbesondere im Kontext des Klimawandels. Unabhängig von ihrem Erfolg oder Nicht-Erfolg sind sie allerdings nicht in der Lage, Selbsterhaltungsängste in der Bevölkerung zu zerstreuen und so politische Legitimität zu erzeugen. Die dominanten Anpassungsstrategien tilgen also den krisenbedingten gesellschaftlichen Druck in privaten Lebenswelten nicht, sondern verstärken ihn mithin sogar, wie sich beispielhaft am Heizungsgesetz zeigt. Ein relevanter Teil der der deutschen Immobilienbesitzer (!)betrachtet dieses offenbar als akute Gefährdung der eigenen Lebensmodelle. Schon der Gesetzentwurf selbst verrät: Präventive Anpassungsmaßnahmen (in diesem Fall im Dienst deutscher Klimaziele) müssen in immer stärkerem Ausmaß sozial flankiert werden, um Ängste in der Bevölkerung zu zerstreuen. Allerdings werden in einer Bevölkerung, die von immer neuen Krisen erschöpft ist und deren Vertrauen in die staatliche Steuerungsfähigkeit nicht zuletzt in der Pandemie massiv erschüttert wurde, bereits vergleichsweise milde Mitigationsmaßnahmen als immense Anpassungsanstrengungen empfunden, die entsprechend Bedarf nach politischer Entlastung aufrufen. Der Ruf nach u.a. materieller Entlastung wird die Logik der Ressourcenallokation in Gesellschaften unserer Art in Zukunft noch stärker prägen. Dies gilt nicht nur in Bezug auf soziale Härten, die sich aus politischen Maßnahmenprogrammen etwa zur ökologischen Modernisierung ergeben (Heizungen, Energiesysteme, Elektromobilität, …), sondern insbesondere aufgrund der politischen Notwendigkeit, immer neu auftretende akute Krisen abzufedern – insbesondere im Kontext klimainduzierter Schäden – und dabei das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates nicht vollends zu verspielen.

Weitere Gründe für die zunehmend adaptive Ausrichtung staatlichen Handelns liegen in der zeitlichen Struktur und Selbstbindungslogik demokratischer Politik, die das Unterlassen einer Reaktion auf erwartete und eingetretene Krisen im Grunde unmöglich machen: Selbstbindung betrifft institutionelle Anpassungsmechanismen, die bereits in Gang sind, wie etwa die deutschen Klimaziele. In einem verwaltungsmäßig organisierten Staat lassen sich ‚Zumutungen‘ durch Mitigation oder ökologische Modernisierung nicht einfach wieder abstellen. Selbst, wenn man wollte, könnte man der Gesellschaft diesen Anpassungsdruck nur um den Preis eines post-liberalen Systemwandels ersparen. Die zeitliche Struktur demokratischer Politik wiederum macht es gleichzeitig unmöglich, auf akute Katastrophen nicht zu reagieren, weil konstant politische Legitimität gesichert werden muss. Wer im Ahrtal oder der sächsischen Schweiz nicht zumindest rhetorisch auf „Whatever it takes“ setzt, wird nicht wiedergewählt.
 

Von Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung


Mit dem Aufstieg der Gesellschaft der Anpassung im 21. Jahrhundert verändern sich basale Parameter demokratischer, d.h. legitimationsbedürftiger Politik fundamental. Die legitimationsstiftenden Leitbegriffe der liberalen Konstellation des 20. Jahrhundert waren Fortschritt, Demokratisierung und Emanzipation. Letztlich ging es um die Erweiterung von Spielräumen individueller Selbstentfaltung in einer Welt, die man sich im Grunde genommen wie ein weißes Blatt Papier vorstellte: zu beschreiben von unternehmerischen Einzelnen, deren Freiheiten der liberale Staat zu sichern hatte.

Die nach-moderne Gesellschaft der Anpassung ist dagegen eine, in die die Welt ständig und unerwartet einbricht, was Politik zu adaptiven Reaktionen zwingt. Wir haben es nicht mehr in erster Linie mit der demokratischen Verteilung individueller Optionen[1] zu tun; der Konflikt um die relative Verteilung von Selbstentfaltungschancen[2] verliert an Bedeutung. Vielmehr setzen zuvorderst der Klimawandel, aber auch Pandemien, soziale Ungleichheit oder subjektive Überforderungen der Einzelnen, Probleme der Selbsterhaltung auf die gesellschaftliche Agenda, wodurch der Kern politischer Legitimität in der liberalen Konstellation berührt wird.

Gezwungen, auf Probleme dieser Art zu reagieren, ist der liberale Staat schon aus Interesse an der eigenen Selbsterhaltung, denn die erfolgreiche Stilllegung akuter Überlebensrisiken bildet sein Ursprungsmotiv: Die Auflösung von Selbsterhaltungsrisiken ist etwa bei Hobbes die erste und grundsätzlichste Aufgabe und daher Legitimitätsbedingung des liberalen Staates. Alle anderen liberalen Freiheits- und Gleichheitsrechte bauen hierauf auf.

Insbesondere die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine der immer erfolgreicheren institutionellen Entpolitisierung von Selbsterhaltungsfragen. Ihr prominentestes Aushängeschild ist der Wohlfahrtsstaat. Auch heute noch strukturiert die Entpolitisierung von Selbsterhaltungsfragen durch den liberalen Staat die legitimen Erwartungen der Bevölkerung. Dabei geht die Bearbeitung grundsätzlicher Stabilisierungsrisiken nicht nur historisch der Expansion von Selbstentfaltungschancen voraus. Auch kategorial haben Selbsterhaltungsfragen Priorität: Nur wer lebt, kann auch Rechte geltend machen. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass bei akut empfundenen Selbsterhaltungskrisen – sei es aus Angst vor Krieg, wegen konkreter klimainduzierter Katastrophen (Ahrtal, Brände, …) oder aufgrund von Wohnungsnot in der Immobilienkrise – genau jene Sehnsucht nach ihrer Entpolitisierung dominiert, die das grundlegendste Versprechen des liberalen Staates bildet. Die Hoffnungen einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft richten sich dabei insbesondere auf Wissenschaft und Technik: Zu Hochzeiten der Pandemie sind etwa Virologen die populärsten Politiker, in Bezug auf den Klimawandel wird „listen to the science“ zur Hauptforderung, die ökologische Modernisierung braucht vor allem Ingenieure.
 

Technokratische Sehnsucht und Sozialdemokratie


Wie kann die Sozialdemokratie auf diese technokratische Sehnsucht reagieren?

Die naheliegendste Antwort besteht in der Entwicklung eines erweiterten Begriffs der Daseinsvorsorge bzw. in der Entwicklung eines in Bezug auf neue Selbsterhaltungsrisiken erweiterten, dann auch: ökologischen Wohlfahrtsstaates. Es gilt mit einer Logik quasi-gaudilistischer Anpassungspolitik zu brechen, der zu jeder Krise nur einfällt, immer neue Entlastungspakete zu schnüren.

Entlastung muss selbstverständlich sein, sollte aber stärker vorbeugend organisiert werden. Es muss deutlich werden, dass zum einen neue Krisen zu erwarten sind (das wissen ohnehin alle, es wäre also ein Akt wechselseitiger Ehrlichkeit) und zum anderen, dass sich der Staat bestmöglich auf diese vorbereitet.

Dabei geht es um das explizite und systematische Ausflaggen einer an gelingender Anpassung orientierten Politik (d.h.: Entpolitisierung von Selbsterhaltungsfragen). Eine solche Politik würde unter anderem folgende Aspekte bearbeiten:

  • Die technischen Mittel der Gegenwart sind kreativ im Dienste der Anpassung einzusetzen, anstatt diese nur für die Bestandsnovellierung (Digitalisierung der Verwaltung etc.) zu nutzen. Man denke beispielhaft an eine öffentliche Plattform, auf der automatisch alle arbeitenden Bürger*innen mit ihren professionellen Fähigkeiten geführt werden. Diese würde es ermöglichen, Menschen im Krisenfall direkt anzusprechen und in Anerkennung ihrer Fähigkeiten für das Gemeinwohl zu mobilisieren. Die im akuten Krisenfall immer wieder beobachtbare Stärke der Zivilgesellschaft könnte so gebündelt und koordiniert werden.
  • Es müssen neue Wege der Mobilisierung von Arbeitskraft in unserer Gesellschaft gefunden werden, sowohl für präventive Anpassung als auch für die Abfederung konkreter Krisen. Das von Bundespräsidialamt vorgeschlagene Pflichtjahr ist ein mögliches Instrument, wobei sich die öffentliche Kommunikation stärker auf die tatsächlichen Bedarfe, als die erhofften Sekundäreffekte (soziale Integration etc.) richten sollte. Eine andere Option wäre etwa der massive Ausbau des Technischen Hilfswerks, seine engere Verzahnung mit Freiwilligeninstitutionen wie den freiwilligen Feuerwehren und gegebenenfalls Steuervorteile für ein Engagement in solchen Bereichen, um Anreize für die Beteiligung zu etablieren.

Solche Logiken der Mobilisierung und Koordination gilt es im adaptiven Staat zu entwickeln, nicht nur weil eine Politik allein finanzieller Entlastung irgendwann an fiskalische Grenzen stößt, sondern vor allem, weil sie nicht in der Lage ist, langfristig Legitimität zu sichern. Entlastung ist wichtig, leistet aber letztlich der fortlaufenden Verdrängung von Anpassungszwängen Vorschub. Es wird suggeriert, alle Systemrisiken könnten von der Lebenswelt der Menschen ferngehalten werden. Für eine Bevölkerung, die daran  ohnehin nicht glaubt und deren Lebenswelten längst unter erheblichem Druck stehen, wird Politik so unglaubwürdig. Stattdessen müssen Wege gefunden werden, die Menschen an ihrer eigenen und der kollektiven Stabilisierung der Gesellschaft zu beteiligen, ohne neoliberale Strategien der Überweisung staatlicher Verantwortung an das Individuum zu wiederholen. Vielmehr gilt es, die Fähigkeiten der Einzelnen in einem adaptiven Staat zur Geltung zu bringen und so die vornehmste Zielsetzung sozialdemokratischer Politik zu erneuern: Die Gewährleistung von Sicherheit zur Ermöglichung von Freiheit.

[1] Lebenschancen im Sinne Dahrendorfs

[2] etwa über das Bildungssystem, die Tarifpolitik, gruppenspezifische Förderprogramme usw.

Prof. Dr. Philipp Staab ist Professor für die „Soziologie der Zukunft der Arbeit“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Board of Directors des Einstein Center Digital Future

Dieses Thesenpapier wurde für den Workshop „Kontroversen zum Staatsverständnis in der Transformation“ verfasst, welcher am 29. September 2023, veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung, in Berlin stattgefunden hat.

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