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Der Staat – mehr als nur Krisenmanager?

Moritz Baumann

Über den Vertrauensverlust in staatliche Institutionen, die Angst vor vermeintlicher Verbotspolitik und Zweifel an einer Fortschrittserzählung: Moritz Baumann fasst die Ergebnisse des Workshops zusammen.

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Es ist paradox. Die Erfolge der Neuen Rechten legen offen, wie das demokratische Staatswesen, nicht nur in Deutschland, schleichend erodiert. Bürger_innen verlieren das Vertrauen in die staatlichen Institutionen, wie die jüngst erschienene Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gezeigt hat. Rathäuser, Landesparlamente, Kanzleramt: Nur noch knapp über 50 Prozent der Bürger_innen vertrauenden staatlichen Institutionen – ein Rückgang von zehn Prozent binnen zwei Jahren. Ein Gefühl politischer Ohnmacht breitet sich aus; „a rising sense of disempowerment“, wie es der US-Philosoph Michael Sandel formuliert.
 

Worin besteht nun aber die Paradoxie?  


Während das Vertrauen erodiert, waren Staat und Verwaltung in den vergangenen drei Jahren massiv gefordert. Im Akkord erließen Bund und Länder Corona-Verordnungen, schnürten Hilfspakete. Der Angriffskrieg Russlands zertrümmerte die europäische Sicherheitsordnung. Der Staat – als Garant der Sicherheit – reagierte, brach mit dem Tabu deutscher Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Als Russland seine Gaslieferungen aussetzte, organisierte die Bundesregierung das Krisenmanagement. Terminals für Flüssiggas durchliefen im Eiltempo die nötigen Genehmigungsverfahren, während Gas- und Strompreisbremsen finanzielle Härten abfederten. Der Staat war wieder da: als oberster Krisenmanager, der Verbote erlässt, Unternehmen rettet, Preise reguliert.
 

„Der Neoliberalismus ist tot“


Viele Bürger_innen fordern genau diese aktive, gestaltende Rolle. Gleichwohl breitet sich Misstrauen aus, während sie weiter auf das staatliche Sicherheitsnetz vertrauen.  Nach Jahrzehnten, in denen Regierungschefs, angefangen mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher, einen schlanken, ja beinahe unsichtbaren Staat, propagierten, ist die Sozialdemokratie mit einer neuen Realität konfrontiert.

„Der Neoliberalismus ist tot“, sage der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil im Mai. Nur, was folgt daraus? Was geht Sozialdemokrat_innen durch den Kopf, wenn sie über einen (wieder-)erstarkenden Staat nachdenken?

Das Nachdenken beginnt mit der unausweichlichen sozial-ökologischen Transformation – ein politisches Projekt, das im Heizungskeller der Bürger_innen beginnt und beim Umbau ganzer Industriezweige endet. Strukturelle Reformen wie der Bau leistungsfähiger Stromtrassen, einer Speicher- und Wasserstoffinfrastrukturgehen für die meisten Bürger_innen in der Regelunsichtbar von Statten. Doch ein Gesetz, das den Einbau neuer Heizungen regelt, ist unmittelbar spürbar – finanziell, emotional.

Keine Transformation ohne Verzicht
 

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck erlebte, wie sensibel viele Bürger_innen auf Verbote reagieren. Eine Steilvorlage für Konservative und Populisten, die lautstark eine vermeintliche staatliche Verbotspolitik beklagten. Dabei wollte Robert Habeck ja ursprünglich das Image abschütteln, seine Partei drangsaliere die Bürger_innen mit Verboten. Und auch führende Sozialdemokrat_innen hüten sich davor den Eindruck zu erwecken, zu sehr in das Privatleben der Bürger_innen hineinzuregieren. „Wir werden dieses Ziel nicht mit Verzicht oder Verboten erreichen“, sagte beispielsweise Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Januar der taz, als er über seine Klimapolitik sprach.

Philipp Lepenies, Politikwissenschaftler an der Freien Universität, widerspricht Scholz. „Eine ernstzunehmende Transformation ohne Verzicht und Verbote wird man nicht hinbekommen.“ Dass jeder neuer Vorschlag einer notwendigen Veränderung des individuellen Konsumverhaltens in Deutschland sofort als „Verbotspolitik“ attackiert und damit desavouiert wird, führt Lepenies auf die Verengung des Freiheitsbegriffs auf, eine rein konsumtive Freiheit, zurück, geprägt von liberalen Denkern wie Hayek: ‚Der Konsument ist der Souverän.‘ „Frei ist derjenige, dem niemand Anderes sagt, was er tun und lassen darf“, sagt er. „In dieser Vorstellung ist der Staat ein Gegner. Verbote werden als undemokratisch gelabelt“, so Lepenies. „Der Staat ist nicht ‚Wir‘, sondern er steht außerhalb und stört.“ Er warnt, dass führende Sozialdemokrat_innen das Narrativ der Verbotspolitik bedienen, anstelle sich auf konkrete und sozial abgefederte Transformationspolitiken einzulassen . Die konservative Strategie sei, „Verbot und Verzicht“ als „illegitimes Mittel“ der Transformation darzustellen. In der Konsequenz bleibt Transformation aber fast gänzlich aus und polarisiert.

„Jedes staatliche Handeln, das verbindlich ist, hat Verbotselemente“, meint Frank Nägele, Beauftragter für den Strukturwandel der saarländischen Landesregierung. Nach seiner Analyse lässt sich die Sozialdemokratie mit dem Label der Verbotspolitik, das er als neoliberales Framing bezeichnet, zu sehr drängen.
 

Das Performance-Problem der Verwaltung


Dann spricht er einen weiteren Missstand an, der dem sozialdemokratischen Ideal eines tatkräftigen Staats entgegensteht: die Performance der Verwaltung. Berge von Papierakten; Baugenehmigungen, die sich über Monate hinziehen; ein Service, der jedes moderne Unternehmen beschämen würde. Die Bürger zweifelten, wie leistungsfähig der Staat eigentlich ist – gerade in Momenten und an Orten, in denen sie mit der Verwaltung in Berührung kommen. „Vertrauen in den Staat bedeutet eben nicht nur Beschlussfähigkeit, sondern auch Vollzugskraft“, betont Nägele.

Wie sollen Bürger_innen vertrauen, dass der Staat sie erfolgreich durch die Transformation steuert, wenn schon der Traum vom Eigenheim zum Hürdenlauf wird. Ein Teilnehmer spricht von einem „Spannungsfeld zwischen den Erwartungen, die Bürger an demokratische Staatlichkeit haben und der Performance“.

Anpassung als neues Leitmotiv


Der Soziologe Philipp Staab diagnostiziert in seiner Keynote einen noch grundlegenderen Wandel moderner Staatlichkeit. In der klassischen Moderne sei Fortschritt das Leitmotiv gewesen. Bewusst spricht er in der Vergangenheitsform. Heute erkennt Staab einen ungekannt hohen, äußeren Anpassungsdruck, der den Modus der Politik verändere. Akute Ängste der Selbsterhaltung lösen den Wunsch der Bürger_innen nach Selbstentfaltung ab. „Die Leute glauben nicht mehr an die Fortschrittserzählung“, sagt er. Politik müsse darauf reagieren, stabilisieren. Der Druck, ausgelöst nicht zuletzt durch die Klimakrise, zwingt die Politik laut Staab in ein reaktives, stärker defensives Weltverhältnis.  

Wer seiner Diagnose folgt, muss früher oder später das Fortschrittsversprechen, das die Identität der Sozialdemokratie seit dem Beginn der Arbeiterbewegung prägt, in Frage stellen – und damit konsequenterweise auch den Koalitionsvertrag. „Mehr Fortschritt wagen“ – passt das eigentlich in die Zeit? Staab jedenfalls meint, Anpassung könne ein sozialdemokratisches aber „qua Definition“ kein Projekt unter dem Label des Fortschritts sein.

Kajsa Borgnäs widerspricht. Sie bezweifelt, dass ohne Fortschrittserzählung die gesellschaftliche Mobilisierung gelingt. „Eine Gesellschaft der Anpassung ist eine echte Dystopie, keine Strategie“, sagt die Politikwissenschaftlerin, die im Willy-Brandt-Haus die Abteilung Inhalte und Impulse leitet. „Wir müssen an das progressive Projekt glauben. Das zu skalieren, muss das politische Projekt sein“. Fortschritt heißt in dieser Erzählung auch, abgehängte Regionen, betroffen vom Strukturwandel, zu Fortschrittsregionen umzubauen.

„Respekt“ als Fortschrittserzählung


Staab sieht Anpassung als neues Phänomen. Seine scharfe Trennung zwischen Selbsterhaltung und Selbstentfaltung provoziert Widerspruch. „Die Tatsache, dass der Staat auf Krisen reagiert, ist nicht reaktiv“, betont Borgnäs. Und, blickt man in die Geschichtsbücher, war staatliches Handeln nicht immer durch äußere Umstände geprägt – und determiniert?

Die aktuelle Strategie der SPD-Parteiführung, die sich unter anderem im Begriff des „Respekts“ manifestiert, zielt jedenfalls auf einen optimistischen, zukunftsgerichteten Politikstil – der der Idee des Fortschritts viel näher ist als der Anpassung. Es geht um das „große Gesellschaftsprojekt nach der Meritokratie“, wie es eine Teilnehmerin des Workshops formuliert.

Was ist den Bürger_innen im demokratischen Staat zuzumuten; auch hier gehen die Meinungen auseinander. Für Staab ist eine Politik der Anpassung auch eine Politik der Mobilisierung – gemeinsames Handeln gegen die Selbsterhaltungsängste, die viele Bürger_innen plagen. „Wir müssen den Leuten erlauben, die Hände von den Augen zu nehmen“, betont er, während ein anderer Teilnehmer erwidert, Aufgabe des Staates sei es, Krisen fern von den Menschen zu halten. Na, was denn nun?

Auf dem Markt spielt die Moral keine Rolle


Es ist ein Dissens, der an grundlegende Vorstellungen von Politik, Demokratie, und Beteiligung anknüpft, die sich innerhalb der Sozialdemokratie ganz unterschiedlich entfalten. Passt ein technokratischer Politikstil, der die Probleme, gesellschaftlichen Friktionen und Krisen wie in einem geschmierten Getriebe bearbeitet, zu unseren demokratischen Idealen? Michael Sandel jedenfalls, dessen Philosophie auch Olaf Scholz inspiriert, schreibt: Dem technokratischen Diskurs der Gegenwartspolitik gelinge es nicht, „sich mit den moralischen Überzeugungen, die demokratische Bürger umtreiben, auseinanderzusetzen“, was das Gefühl der politischen Ohnmacht bestärkt.

Er kritisiert einen Politikstil, der die Bereitschaft nicht fördere, über konkurrierende Vorstellungen von fundamentalen Konzepten wie Gerechtigkeit und Gemeinwohl, Macht und Moral nachzudenken. Politikforscher Lepenies stellt fest, dass moralische Argumente vielfach delegitimiert würden. „Auch das ist ein Überbleibsel einer neoliberalen Debatte“, sagt er. „Denn das ist das Großartige am Markt: Moral spielt hier keine Rolle“, fügt er ironisch hinzu.

Dieser politischen Ohnmacht entgegenzuwirken, das treibt auch Gesine Schwan um. Die Grundwertekommission der SPD, der sie vorsitzt, hat dazu jüngst eine Analyse vorgelegt: Ein wichtiger Hebel, so schreiben die Autor_innen, sei Partizipation. „Dies stärkt die subjektive Legitimation demokratischer Politik und kann Widerstände überwinden.“ Schwan setzt auf partizipative Formate in den Kommunen, damit Menschen direkt vor Ort mitbestimmen können. „Das Gefühl der Machtlosigkeit müssen wir dadurch bekämpfen, dass sich ein Gefühl ausbreitet: Der Staat, der ist ‚unsere Sache‘“, so Schwan.

Am anderen Ende des Mehrebenensystems steht Delara Burkhardt: Als EU-Abgeordnete stellt sie immer wieder fest, dass europäische Politik als „noch unkontrollierbarer“ wahrgenommen wird. Partizipation ist auch für Burkhardt ein Schlüssel – ein Grund, warum sie sich stark für die Konferenz zur Zukunft Europas einsetzt; auch ein Ort, wo moderne, in diesem Fall europäische, Staatlichkeit verhandelt wird. Und die Bürger_innen sitzen mit am Tisch.

Eine Erzählung, die aktiviert.


Beim Nachdenken über moderne Staatlichkeit muss die Sozialdemokratie also vielleicht gerade auch ihre Vorstellung von Bürgerschaft im 21. Jahrhundertreflektieren. Der Staat hat in den vergangenen Jahren Krisen souverän abgefedert; nicht aber die Bürger_innen mobilisiert. Braucht es nun eine neue sozialdemokratische Erzählung – eine Erzählung, die aktiviert, und nicht nur schützt?

Moritz Baumann arbeitet in Berlin als freier Journalist und Moderator. Bei Table.Media baute er zuletzt als Redaktionsleiter mit Bildung.Table das erfolgreichste deutsche Fachbriefing für Bildungspolitik auf; weitere Themenschwerpunkte liegen in der Rechts- und EU-Regulierungspolitik.

Dieses Thesenpapier wurde für den Workshop „Kontroversen zum Staatsverständnis in der Transformation“ verfasst, welcher am 29. September 2023, veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung, in Berlin stattgefunden hat.

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