Interview Demokratie und Gesellschaft Die Sozialdemokratie und der aktive Staat – eine Bestandsaufnahme 29.09.2023 Michael Rosecker Österreich – ein Staat mit Definitionsschwierigkeiten? Michael Rosecker wirft einen analytischen Blick auf die Geschichte von Sozialdemokratie und einem aktiven Staatsverständnis in Österreich. Ansprechpartnerin Julia Bläsius 030 26935-8327 Julia.Blaesius(at)fes.de Bild: Urheber: picture alliance / Cover Images | Cover Images „Österreich“ – Staat mit Definitionsschwierigkeiten? Die Entstehung der organisierten österreichischen Sozialdemokratie fällt in eine Zeit der Staatskrise des Habsburgerreichs. Im Schatten der Niederlage im Preußisch-österreichischen Krieg und des Verlusts Lombardo-Veneziens im Krieg gegen Italien kam es zur Reichsteilung und zu notgedrungenen Reformen. Im Dezember 1867 verabschiedete der Reichsrat gemeinsam mit dem Delegationsgesetz die Staatsgrundgesetze über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger_innen, die Einsetzung eines Reichsgerichts, die richterliche Gewalt sowie die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt. Diese Gesetze wurden als „Dezemberverfassung“ bezeichnet. Die neuen Freiheiten ermöglichten die politische Organisation als Vereine auf lokaler Ebene. Die Parteigründung war rechtlich nicht möglich, jedoch auch nicht explizit verboten. All das ist bedeutend für das Staatsverständnis im Allgemeinen. Die westliche Reichshälfte hieß gesetzlich „Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“. Im Beamtendeutsch wurde sie der Einfachheit halber „Cisleithanien“ gerufen. Das Verhältnis von staatlicher Struktur und Verwaltungseinheiten auf der einen und Identität des Staatsvolkes bzw. Staatsvölker und der Nationalitäten oder „Volksstämme“ auf der anderen Seite blieb prekär/diffus. Dies legte ein instrumentelles Verhältnis zum „Staat“ nahe. Das Verhältnis der deutschsprachigen Österreicher_innen zum deutschen Kaiserreich und zum Habsburgerreich blieb ebenso ambivalent. Das änderte sich mit der Republiksausrufung im November 1918 nur in den Schwerpunktsetzungen. Zunächst sollte der Begriff Österreich für den neuen Staat vermieden werden, so dass die neue Republik die habsburgische Kriegsschuld und die habsburgischen Kriegsschulden nicht erbe. Schließlich wurde die Staatsform „demokratische Republik“ gewählt und der Staat sollte „Bestandteil der Deutschen Republik“ sein. „Revolutionäre“ Schützer der Staatsform In der supranationalen österreichischen Sozialdemokratie in der „westlichen“ Reichshälfte wurde das Staatsverständnis und der Demokratiebegriff Ferdinand Lassalles besonders bedeutend und stand im Widerstreit zu marxistischen Staatsvorstellungen. Im um 1900 entstehenden Austromarxismus zerbrachen sich Karl Renner und Otto Bauer „den habsburgischen Kopf“ zur Rettung des Reichs durch Reformen – durch Demokratisierung und Verwaltungsreform. Die Idee war ein supranationaler Staat, der die „Nationen“ auf regionaler Ebene vom Staatsterritorium löste und als Kultur- und Rechtsgemeinschaften sah. „Nation“ und „Staat“ waren zwei Paar Schuhe: das eine Kultur-, Sprach- und Geschichtsgemeinschaft („Schicksalsgemeinschaft“, Otto Bauer). Das andere ein Organ der „Vernunft“ und des Rechts, eine Mischung aus vernünftigem Rahmensetzer und neutralem Mediator der sozialen und national-kulturellen Interessenkonflikte. Ab der Gründung der Republik „Deutsch“-Österreich 1918/19 blieb dieses instrumentelle Verständnis im Grunde bestehen. Karl Renner beschrieb die Aufgabe des Staates treffend: „Das System, das wir vertreten, möchte ich daher zunächst mit einem Kennworte als Regierung vermittels der Vertrauensmänner der organisierten Massen in Stadt und Land bezeichnen und nicht als Regierung durch Bürokratie, Polizei und Militarismus. Wenn hier die Bauernschaft, da die Arbeiterschaft, dort die Bürgerschaft unruhig wurde, hat sich die Regierung zunächst an die politischen Vertrauensmänner der beunruhigten Volkskreise selbst gewendet, sie hat sorgsam auch die wirtschaftlichen Organisationen beachtet und gepflegt und die Vertrauensmänner der wirtschaftlichen Organisationen, hier der landwirtschaftlichen Genossenschaften, da der Gewerkschaften und dort die Unternehmerverbände ersucht, im Einvernehmen mit der Regierung die sozialen Schwierigkeiten zu überwinden. Der zweite Grundsatz des Systems ist der: Nicht die Diktatur der einen Klasse über die andere, sondern die verhältnismäßige Anteilnahme aller werktätigen Klassen an der Macht, somit nicht Alleinherrschaft, sondern Mitregierung“ (Stenografisches Protokoll 1920: 3–4). Die Staatsform, die demokratische Republik, war entscheidend, nicht „der“ Staat. Ab 1920 bis zur Zerstörung der Demokratie durch die bürgerlichen Parteien 1933/34 wurde die „ewige“ Oppositionspartei SDAP die einzige „republikanische“ Schutzmacht und gleichzeitig eine überzeugte „Anschluss-Partei“. Der „Anschluss“-Paragraf wurde nach der „Machtergreifung“ der NSDAP in Deutschland 1933 aus dem Parteiprogramm gestrichen. Dieser Bezug auf Staatsform und Recht zeigte sich im Moment der Zerstörung der Partei 1934 deutlich. Die sozialdemokratische Opposition war auf das Führen von Wahlkämpfen sowie auf das politische Wirken innerhalb einer liberal-demokratischen Ordnung ausgelegt. Die Zweite Republik – Erfolgsgeschichte und „Stammesdemokratie“ Um sich von der konflikt- und gewaltbeladenen Ersten Republik abzuheben, wurden Proporz und Konkordanz in der institutionellen Ordnung und der alltagspolitischen Praxis zentrale Säulen der Zweiten Republik. Diese schienen ein paternalistisches Wohlstands-, gesellschaftspolitisches Friedens- und kleinstaatliches Freiheitsversprechen zwischen den großen Blöcken des Kalten Krieges geben zu können. Der Begriff der „kontrollierten Demokratie“ fasst diese Grundstruktur treffend zusammen (Rathkolb 2005, 63). Bis in die 1970er Jahre war die intensive Parteibindung an soziale Milieus und die Einbettung in sozioökonomische Berufslager, Interessenvertretungen und organisatorische Netzwerke prägend. Dennoch begann sich seit Anfang der 1980er Jahre ein „Szenenwechsel“ (Emmerich Tálos 1995, 543) anzukündigen, der sich schrittweise in Österreich bemerkbar machte. Das Wirtschaftswachstum schwächte sich ab, die Verstaatlichte Industrie geriet in die Krise, Sockelarbeitslosigkeit begann sich zu etablieren und auch die Sozialversicherungssysteme gerieten unter Druck. Das Band von sozialer Schicht, Arbeitszusammenhang, Wertemuster und politischem Verhalten ist zerrissen. Die Folge war die fast völlige Auflösung der alten (industriegesellschaftlichen) geschlossenen sozialen Milieus, mit ihren unfreien Sicherheiten und orientierenden Rollenverpflichtungen. Schlagwortartig zusammengefasst: Aus den tradierten sozialen Körperschaften wurden wechselnde lebensstilorientierte Interessengruppen und/oder wechselnde an einzelnen Anliegen orientierte politische Bürger_innenschaften. Soziokulturelle Solidaritäten und Verbundenheitsgefühle beruhen immer weniger auf ähnlichen sozialen Lagen, sondern auf ähnlichen Lebenszielen und ähnlichen ästhetischen Ausdrucksformen. Parteistrukturen spiegeln sehr wenige dieser fundamentalen Veränderungen wider. Sie werden durch Überalterung immer hermetischer und die Sozialisierungsprozesse werden entweder nach antiquierten, selbstreferenziellen und wenig realitätstüchtigen Kriterien strukturiert oder an politikfernen Managementtheorien ausgerichtet. Als Folge wird institutionelle Politik oft als Korridor- bzw. abgehobene Elitenpolitik empfunden. Die Parteien verloren ihre Funktion als Weltanschauungslieferant für kollektive Identitäten und Sinnbedürfnisse. Viele Institutionen des Staates und der Gesellschaft, die diese grundlegenden Veränderungen einleiteten, waren nicht willens oder in der Lage, diese in ihrem Selbstverständnis und ihrer Praxis nachzuvollziehen. Die SPÖ betont bis heute den Republiks- und Demokratiebegriff. Damit konkurriert der konservative „Heimatbegriff“ und der ethnifiziert-kulturalisierte Österreich-Begriff der Rechten heute. Beide wollen ihrem Narrativ folgend den Staat sowohl des „Sparens“ und der „Freiheit“ wegen schwächen als auch gleichzeitig durch Rückbau der demokratischen Rechte und Kontrollinstitutionen „stärken“. Mut zum aktiven Staat Die massiv propagierte Erzählung von staatlicher Inkompetenz, Trägheit und Mittelmäßigkeit erzeugt ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlicher Intervention und Gestaltung. Deregulierung, Privatisierung und Sozialabbau wurden dadurch legitimiert und „werthaft“ aufgeladen. Aus sozialdemokratischer Sicht soll der Staat nicht geschwächt, sondern muss staatliche Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Die Art, wie wir heute Produktivität, Wohlstand und Wert verstehen, begünstigt Privateigentum und geht auf Kosten von öffentlichen Gütern. Unser Wirtschaftssystem schafft Anreize dafür, kurzfristig Profite abzuschöpfen, statt langfristig Wert zu produzieren (Angelika Striedinger, 2022). Um das zu erkennen und zu verändern, müssen wir die Wertedebatte wiederbeleben: Was stellt eine wirkliche Bereicherung unserer Wirtschaft und Gesellschaft dar? Wie muss dem folgend unsere Wirtschaftspolitik aussehen? Der Staat als Innovationsmotor: Für große Innovationen braucht es den Staat (staatliche Strukturen + Investitionen), denn große Innovationen entstehen nicht am Markt. Wichtig ist erstens, die zentrale Rolle des Staates als Innovationsmotor anzuerkennen. Zweitens müssen auch die Profite dieser Innovationen der Gesellschaft zugutekommen (statt nur die Risiken auf die Allgemeinheit abzuwälzen). Handeln soll sich an Missionen, die der demokratisch legitimierte Staat definiert, orientieren. Um die großen Herausforderungen – ökologische, soziale und wirtschaftliche Krisen – zu meistern, braucht es ein neues Rollenverständnis von staatlichen und privaten Akteur_innen. Der Staat muss Missionen definieren, die wir als Gesellschaft meistern wollen. Für diese Missionen sollen auch die entsprechenden Ressourcen mobilisiert und Begeisterung geweckt werden. Dadurch gestaltet der Staat Märkte und schafft zielorientierte Handlungsräume für die privaten Akteur_innen. Dennoch: „Natürlich dürfen wir die besondere Rolle des Staates und seine Möglichkeiten nicht romantisch verklären“ (Mazzucato 2014, 245). Staat, Markt und Zivilgesellschaft Pluralistische demokratische Gesellschaften brauchen eine Neujustierung des Zusammenspiels von Staat, Markt und Zivilgesellschaft, um die aktuellen Krisen bewältigen zu können. Alle drei Sphären der Gesellschaftsgestaltung haben Stärken und Schwächen. So ist der Staat im traditionellen sozialdemokratischen Verständnis jene Ordnungsmacht, die legitimiert ist, Stabilität und Ausgleich zu schaffen. Er ist der Ordnungsrahmen, der das demokratische Mandat zum Schutz des Gemeinwohls und der Sicherung der Rechte der Bürger_innen hat. Dennoch darf gerade die Sozialdemokratie nicht vergessen, dass viele demokratische Freiheiten und Rechte zunächst gegen „den“ Staat errungen wurden und nicht irreversibel sind („illiberale Demokratie“). Auch weist er Funktionsdefizite auf und ist nicht immer der „beste Erzeuger all dessen, was er gewährleisten muss“ (Meyer, 2012, 37). „Der“ Markt schafft Dynamik. Er ist eine „Institution zur produktiven Allokation von Ressourcen, zur Befriedigung privatautonomer Konsumenten-Präferenzen“ und zur (Weiter)-Entwicklung technischer Innovationen (Vgl. Meyer, 2012, 35). Seine Funktionsdefizite haben jedoch den Hang erratisch und ungerecht zu sein sowie in Krisen dysfunktional und destabilisierend zu werden. Seine positiven Eigenschaften untergräbt er oftmals systemisch selbst. Und die Zivilgesellschaft kann in diesem Zusammenspiel unterschiedlicher Steuerungskreise die Rolle der demokratischen Kontrolle und Mobilisierung für ein alternatives Agendasetting einnehmen. Sie mobilisiert und bindet ein. Ihre Defizite heißen kleinteiliger Egoismus und Produktion von Instabilität durch Partikularinteressen, die das Gemeinwohl aus den Augen verlieren. So wie sie Menschen zur Solidarität bewegen kann, kann sie strukturelle Ungleichheiten auch verfestigen und Menschen gegeneinander aufbringen. Die Sozialdemokratie als Gewährleisterin von demokratischer Ordnung und Ermöglicherin von Veränderung, die weiß, dass gegenwärtige Gesellschaftsgestaltung ein innovatives Zusammenspiel aller Steuerungskreise braucht. Dr. Michael Rosecker ist Historiker und stellvertretender Direktor des österreichischen Karl-Renner-Instituts. Verwendete Literatur Mazzucato, Mariana (2014): Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum. München: Kunstmann. Meyer, Thomas (2012): Staat, Markt und Zivilgesellschaft. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. Rathkolb, Oliver (2005): Die paradoxe Republik. Wien: Zsolnay. Stenographisches Protokoll der 74. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich. Mittwoch, den 21. April 1920. Striedinger, Angelika (2022): Mariana Mazzucato. Mut zum aktiven Staat Thesen zu Wert, Innovation und missionsgeleiteter Politik. Wien: Karl-Renner-Institut. Tálos, Emmerich (1995): Der Sozialstaat. Vom „Goldenen Zeitalter“ zur Krise. In: Sieder, Reinhard/Steinert, Heinz/Tálos, Emmerich (Hg.): Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, Kultur. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik. Dieses Thesenpapier wurde für den Workshop „Kontroversen zum Staatsverständnis in der Transformation“ verfasst, welcher am 29. September 2023, veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung, in Berlin stattgefunden hat.