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Abteilung
Archiv der sozialen Demokratie
Am 31. Mai gedenkt man in Kasachstan der Opfer der Hungersnot und der politischen Repressionen unter sowjetischer Herrschaft. Doch außerhalb des Landes ist dieser Gedenktag kaum bekannt. Ein Vergleich mit der ukrainischen Erinnerungskultur bietet Antworten auf die Frage, warum die Hungersnot in Kasachstan in Vergessenheit geraten ist.
Gafu Kairbekov war ein kleiner Junge, als er die ersten Hungertoten sah. 1928 in Turgai geboren, fanden er und seine Familie sich in der Anfangsphase des ersten Fünfjahresplans Stalins von 1928 wieder. Früh wurde dem jungen Kairbekov bewusst, was dieser Plan bedeutete: „Ich erinnerte mich — an den Mond, die Reise, die Leichen“, schilderte er in den 1970er-Jahren dem kasachstanischen Journalisten Valerij Michailov [Alle Übersetzungen wurden durch die Verfasserin angefertigt]. Kairbekov vertraute Michailov die Geschichte seiner Kindheit in Zeiten von Hunger und Massensterben in Kasachstan an, denn Michailov machte es sich selbst zur Aufgabe, mit den Überlebenden der Hungersnot zu sprechen und ihre Geschichten zu dokumentieren.
Michailovs Buch von 2014 hat einen monumentalen Charakter: Auf seinen fast 400 Seiten lässt es diejenigen zu Wort kommen, denen lange ein Schweigen aufgezwungen wurde. Es ist eine der wenigen Sammlung von Überlebendenberichten, die uns zur Hungersnot in Kasachstan vorliegen. Diese Überlebenden sind Zeug:innen der radikalen Sesshaftmachung der kasachischen Nomad:innen und der Auslöschung ihrer indigenen Lebensweise: „Wir gingen niemals zurück in unser Aul [Dorfgemeinschaften in Zentralasien]. Es gab nichts, wohin wir zurückkehren konnten“, erinnert sich Kairbekov.
Im Namen der bolschewistischen Modernisierung wurde die Lebensgrundlage der Kasach:innen zerstört. Die Jurten, einst mobile Unterkünfte, die mit den Nomad:innen durch die Steppen zogen, standen in den 1930er-Jahren in Reih und Glied: Nun gab es Viertel und Straßen, die die Namen prominenter bolschewistischer Zeitgenoss:innen trugen. Michailov gibt den Erlebnisbericht eines jungen Mannes wieder, der die Unmöglichkeit der Rückkehr in seine Heimat beklagt:
„Als ich im Aul ankam, war es leer. Alle Jurten standen dort wie immer, die Besitztümer der Menschen waren alle an ihrem Ort, aber es gab dort keine Menschen. Kein einziger. Ich wanderte durch die Steppe. Dann, plötzlich, direkt neben dem Aul, sah ich Leichen in einer Schlucht. Dort lagen sie alle — meine Eltern, meine Verwandten, all die Menschen aus meinem Zuhause. Die Schlucht war voll, das gesamte Aul lag in ihr.“
In der Sowjetunion war das Sprechen über die Erfahrungen von Hungersnot und Zwangskollektivierung bis zu ihrem Zerfall ein Tabu, egal, ob in Kyïv, Moskau oder Almaty. Meistens war schlichtweg die Rede von „Missernten“ oder „Ernteausfällen“, die im Rahmen der Politik der Kollektivierung bloße Nebenerscheinungen des großen Fortschritts gewesen seien. Die Zeugnisse der Überlebenden zeigen dagegen die zerstörerische Realität der sowjetischen Modernisierung.
Der Fünfjahresplan von 1928 bedeutete für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen der Sowjetunion Enteignung, Verfolgung und Hunger. „Kulaken“ und „Beis“ – sogenannte „wohlhabende Bauern“ – sollten enteignet werden und zum Beitritt in staatliche Kollektivwirtschaften getrieben werden. Bei diesen Begriffen handelte es sich jedoch keinesfalls um feststehende Kategorien. Vielmehr funktionierten sie als dehnbare Feindmarkierungen, die ihre Anwendung in der Unterdrückung lokaler Bäuerinnen und Bauern sowie Nomad:innen fanden.
Bereits Anfang der 1930er-Jahre setzte in vielen Unionsrepubliken ein Massensterben durch Hunger ein. Alleine in der Ukrainischen Sowjetrepublik starben schätzungsweise vier bis fünf Millionen Menschen, in der Kasachischen Sowjetrepublik bis zu drei Millionen. Gemessen an der Bevölkerungszahl erlitt die Bevölkerung Kasachstans die größten Verluste an Menschenleben: Kasachstan war, bis zur Sowjetisierung des Landes, kaum urbanisiert, die indigene Bevölkerung lebte nomadisch und zog saisonal durch die Steppe. Die Bevölkerungszahl vor der Hungersnot lag bei ungefähr sechs Millionen. Das Ausmaß der Kollektivierung, der Hunger und das Massensterben, führten zur Sesshaftmachung der Nomad:innen — und machte die Kasach:innen zur Minderheit im eigenen Land. Die Hungersnot traf jedoch nicht nur Kasachstan und die Ukraine, sondern auch weitere Teile der Sowjetunion.
Erst die Unabhängigkeit der Nachfolgestaaten der Sowjetunion öffnete ein neues Feld des Sagbaren: Lagerhäftlinge wurden rehabilitiert, Tote konnten betrauert werden, Denkmäler konnten errichtet werden. Bereits vor dem Zerfall der Sowjetunion gab es aber ein stalinistisches Verbrechen, das durch Diaspora-Aktivismus international Aufmerksamkeit erregte: Die ukrainische Diaspora in den USA und Kanada machte die Gewaltgeschichte des Holodomor, der Hungersnot in der Ukraine, international bekannt. Dieser Diaspora-Aktivismus, der bereits in den 1940er-Jahren entstand, hat maßgeblich zur Zentralität des Holodomor in Gesellschaft und Wissenschaft in der gegenwärtigen Ukraine beigetragen. Seit 2006 ist der Holodomor in der Ukraine als Genozid klassifiziert und zum Zentrum ukrainischer Identität und Erinnerungskultur geworden: Das Leugnen des Holodomor ist strafbar, das Bewahren des Andenkens an die Hungertoten ist Pflicht des Staates.
Diese Zentralität des Holodomor äußert sich auch geographisch: Mitten in Kyïv befindet sich das Holodomor-Genozid-Museum, das 2008 seine Türen öffnete. Es ist ein zentraler Lern- und Trauerort (am vierten Samstag des Novembers wird den Opfern des Holodomor gedacht), aber auch ein Ort für politischen Protest. Während der Amtszeit des kremlnahen Präsidenten Viktor Janukovič (2010 - 2014) wurde die jährliche Gedenkfeier mit Protesten gegen Janukovičs russlandfreundliche Politik verknüpft: Die Straßen Kyïvs füllten sich mit Flaggen, Bannern und Transparenten auf denen stand, dass der Holodomor ein Genozid sei; Demonstrant:innen liefen mit Getreideähren und Gedenkkränzen durch die Straßen, die sie nach den Protesten an einem Denkmal auf dem Museumsgelände ablegten. Das Museum ist ein lebhafter Ort des Gedenkens, politischer Partizipation und demokratischer Prozesse.
Die Respublika-Allee im alten Stadtzentrum der kasachstanischen Hauptstadt Astana, die umgeben ist von Blumenhändlern, einer Vielzahl von Cafés und Schnellimbissen, Buchhandlungen, Spielzeuggeschäften und Schulen, ist für viele Bewohner:innen ein zentraler Bezugspunkt. Es ist ein hektischer Alltagsort, der jedoch auch einen Raum der Ruhe und Stille bietet. An einer Kreuzung befindet sich ein kleiner Platz, dicht umgeben von hohen Bäumen und Bänken, die zum Verweilen einladen. Im Zentrum steht ein Mahnmal aus schwarzem Granit und Bronze: Eine Frau, die mit verzweifeltem Blick ihre Hände gen Himmel ausstreckt und ein kleiner Junge, der regungslos in die Leere schaut. Der starre Junge erinnert an eines der tragischsten Schicksale der Hungersnot: Verwaiste Kinder, die allein um ihr Überleben kämpften. Die Frau und der kleine Junge sind umgeben von langen, dünnen Grabfiguren. Es ist das Mahnmal für die Opfer der Hungersnot, welche in Kasachstan auch Ašaršylyq genannt wird.
Im Gespräch mit Michailov erzählte Kairbekov eine Geschichte über Gabit Musrepov, der mit einer Gruppe von Männern während der Hungerjahre durch die kasachstanische Steppe reiste. Ein kleines, blutverschmiertes Wesen habe sich auf die Männer geworfen, die Beine „so dünn und schwarz wie die eines Raben“, der Mund von frischem Blut umrandet. Jemand erklärte Musrepov: „Du denkst vermutlich, das war ein Dschinn — das war es nicht. Ich habe es mir angeguckt, lange und deutlich. Es war menschlich: Es war ein Kind. Ein kleines kasachisches Mädchen, sieben oder acht Jahre alt.“ Musrepov war übermannt von Verzweiflung und Wut: „Es war Hunger! Die Augen des Hungers! Der Fluch des Hungers!“, soll er seine Mitreisenden angeschrien haben.
Hier, inmitten der belebten Respublika-Allee, befindet sich also ein Ort der Stille, der den Opfern der Hungersnot gewidmet ist. Es ist einer der wenigen Orte, wenn nicht der einzige im Zentrum der Stadt, an dem man den Augen des Hungers entgegenblickt. In der Hauptstadt findet sich kein weiteres Denkmal und kein Museum für die Hungersnot. Astana, eine Symphonie aus alten Wohnhäusern mit sowjetischer Mosaikkunst und opulenten Glasbauten des Architekten Norman Foster, verfügt nur über wenige Orte der Erinnerung an den Hunger. Bis auf kleine Installationen in Museumsausstellungen bleiben die Spuren der historischen Gewalterfahrung verwischt.
Möchte man sich mit der Geschichte des Stalinismus und der gewaltvollen sowjetischen Modernisierung in Kasachstan beschäftigen, zieht es einen in die Peripherie des Landes: Kleine Dörfer und Städte fernab der Metropolen. In Dörfern wie Aqmol und Dolinka finden sich die Spuren der Gewalt. Beide Dörfer sind historische Orte des GULAG-Systems in Kasachstan: In Aqmol befand sich ein Lager für die Frauen von sogenannten „Vaterlandsverrätern“, in Dolinka stand das Gebäude der Hauptverwaltung des GULAG in Qaragandy (KarLag). Überraschenderweise sind es diese Erinnerungsorte der Lagergewalt, eines anderen stalinistischen Verbrechens, die es sich auch zur Aufgabe machen, über die Hungersnot aufzuklären.
Direkt im ersten Ausstellungsraum des Museums für die Opfer politischer Repressionen in Dolinka werden die Besucher:innen mit der Geschichte der Hungersnot konfrontiert. Vor einer roten Wand mit der Inschrift „Die Opfer des Hungers in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts“ blicken einem in zwölf Fotografien die Augen des Hungers entgegen: Abgemagerte Kinder, ihre Körper gezeichnet von Hungerdystrophie; Leichenberge auf den Straßen, ein kleines Kind neben seiner geschwächten, vielleicht sogar toten Mutter.
Bei einem Besuch im September 2024 antwortete mir eine Museumsmitarbeiterin auf meine Frage, ob es Bilder aus Kasachstan oder der ganzen Sowjetunion seien, dass es sich um Bilder aus allen Sowjetrepubliken handeln würde und dass es allen Hungeropfern gewidmet sei. Eine Recherche in Archiven des „International Committee of the Red Cross“ und des „Holodomor Research and Education Consortium Photo Directory“ zeigt den Ursprung der ausgestellten Fotografien: Größtenteils sind es Bilder aus den 1920er-Jahren aus der Ukraine und Russland, viele davon von Ivan Herasymovych und Fridtjof Nansen, die die Hungersnot dokumentierten. Dennoch ist es bezeichnend: Die Bilder aus der Ukraine, die als ikonische Symbole der Hungersnot in die Geschichte eingegangen sind, werden auch im kasachstanischen Kontext verwendet.
Es ist in Kasachstan gängig, die Hungersnot im eigenen Land als Teil einer großen sowjetischen Katastrophe zu sehen. Das ist ein Kontrast zur Ukraine, wo der Holodomor beinahe eine Singularitätsstellung eingenommen hat. Diese Stellung des Holodomor ist so zentral, dass dem Holocaust in der Ukraine eine marginale Rolle in der Erinnerungskultur zukommt. Faszinierend ist die Asymmetrie in der Gewichtung der Bedeutung des Ereignisses: Wie kann es sein, dass der Hungertod von Millionen unschuldiger Menschen in einem Land eine derart zentrale Stellung einnimmt, und im anderen eine periphere Erscheinung bleibt?
Seit der russischen Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 hat das Holodomor-Genozid-Museum eine neue Aufgabe angenommen. Auf der Website und in den sozialen Medien (primär Instagram) dokumentiert und kommentiert es das Zeitgeschehen und russische Kriegsverbrechen. Es konzipiert neue Ausstellungen für ein internationales Publikum, darunter auch The Uncondemned Genocide of Ukrainians Repeats, eine mehrsprachige Posterausstellung. „Wie konnte es passieren, dass im 21. Jahrhundert im Zentrum Europas ein Staat einen anderen angriff? […] Wer befürwortet Krieg, Gewalt und Genozid? Sagte Europa hierzu nicht nie wieder? Die Antwort auf diese Fragen ist: Unbestraftes Böses kehrt immer zurück“, heißt es in der Ausstellungsankündigung auf der Museumswebsite. Diese Ausstellung ist einer der vielen Anhaltspunkte, die aufzeigen, dass die Fokussierung auf den Holodomor stark mit der russisch-ukrainischen Beziehungsgeschichte verknüpft ist, die in der Ukraine größtenteils als Geschichte des Imperialismus, Kolonialismus und der Zerstörung interpretiert wird. Die Tatsache, dass die Täter:innen des Holodomor nie verurteilt wurden, habe zu einem „Nährboden einer neuen Welle des russischen Genozids an Ukrainer:innen“ geführt.
Die russische Aggression fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der Annexion der Krym und dem Krieg im Osten der Ukraine 2014, die Ausweitung des Krieges auf einen vollumfänglichen Angriffskrieg 2022 war in der russischen Propaganda damit verbunden, der Ukraine ihr Existenzrecht abzusprechen. Vor diesem Hintergrund ist es ersichtlich, weshalb der Holodomor immer mehr an Bedeutung gewann. 2012 beschrieb der Historiker Robert Kindler die Verbindung zwischen den ukrainisch-russischen Beziehungen und der Erinnerungskultur an den Holodomor wie folgt: „Je schlechter sich die bilateralen Beziehungen entwickelten, desto lauter war in Kiew die Rede von Völkermord.“ In der ukrainischen Erinnerungskultur wird Russland als direkter Nachfolger des sowjetischen Systems gesehen. Über zehn Jahre später lässt sich festhalten, dass eine neue Dimension erreicht wurde: Das Erinnern an den Holodomor, der in der ukrainischen Erinnerungskultur zunehmend als ein russisches Verbrechen bewertet wird, ist eine Bekräftigung eigener nationaler Identität, die durch kriegerische Aggression Russlands gefährdet ist.
Trotz der auffälligen Asymmetrien in der Gewichtung der Bedeutung der Hungersnöte weisen die Formen der Erinnerung Parallelen auf. Es sind viele kleine Elemente in Gedenkstätten in der Ukraine und Kasachstan, Exponate in Museen, die Art der Inszenierung als Trauer- und Lernort, die uns zeigen, dass Erinnerungskulturen sich immer aufeinander beziehen, voneinander lernen, miteinander arbeiten; sich in einer Gleichzeitigkeit aber auch voneinander abgrenzen und den einzigartigen Charakter der erlittenen Gewalt in ihrem Land betonen wollen. Es ist die grundlegende Auffälligkeit des modernen Nationalismus, dass er „auffällig transnational“ ist, wie es Jie-Hyun Lim beschrieb. Eine Nation braucht stets Interaktion mit anderen Nationen, um die Gleichzeitigkeit der Abgrenzung und Aneignung zu praktizieren.
In einer genaueren Betrachtung der ukrainischen und kasachstanischen Erinnerungskulturen offenbart sich ein ausgeprägter Opferfokus: Diejenigen, die unter dem Hunger litten, werden als wehrlose Opfer inszeniert, die durch Fremdeinwirkung eines übermächtigen Anderen (oft nur vage als „die Bolschewiki“, „die Kommunisten“, „der totalitäre Kommunismus“ bezeichnet) starben. In der Ukraine findet der Opferfokus seine höchste Ausprägung durch die Klassifizierung des Holodomor als Genozid — eine vergleichbare Klassifizierung in Kasachstan gibt es nicht. Und obwohl die Zuschreibungen von Opfer (das nationale „Wir“) und Täter (das fremde „Bolschewistische“) konkret wirken mögen, bleiben es vage Dichotomien, die den Dimensionen von Opfer- und Täterschaft im Stalinismus nicht gerecht werden. In diesen Dichotomien gibt es wenig Raum, um Phänomene wie Widerstand, loyale Kommunist:innen, Opportunist:innen, Mitläufer:innen und Denunziant:innen greifbar zu machen.
Es ist bemerkenswert, dass diese Parallelen existieren, obwohl die Thematisierung von Hungersnot und politischer Repression in Kasachstan eher eine Randerscheinung ist. Einer von vielen Erklärungsansätzen für diese marginale Stellung des Themas in Kasachstan ist, dass das Land nach wie vor gute Beziehungen zur Russländischen Föderation führt und Russ:innen in den Jahrzehnten nach der Hungersnot die größte Bevölkerungsgruppe bildeten, da die Kasach:innen im eigenen Land zur Minderheit wurden. Die Nähe zu Russland, die vor allem unter dem ersten Präsidenten Kasachstans, Nursultan Nazarbayev, aufgebaut wurde, verhinderte eine kritische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit stalinistischen Verbrechen. Sein Nachfolger, Kassym-Jomart Toqaev, mag zwar auf Distanz zu Russland gehen (beispielsweise durch die verweigerte Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Sommer 2022), und hat bisher verschlossene Archivdokumente freigegeben, jedoch zeichnet sich bisher noch keine konkretere Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus ab.
Wenn man in Astana an der Kreuzung zwischen der Respublika-Allee und der Abai-Straße steht und hochblickt, schwebt einem ein hohes blaues Schild über dem Kopf. Es sind mehrere Wegweiser, die in die Richtungen verschiedener Sehenswürdigkeiten zeigen. Der Wegweiser ist zweisprachig (Russisch und Englisch) — eigentlich eine Seltenheit, da in der Hauptstadt sonst alles dreisprachig ist und das Kasachische auch immer dabei ist. Eins der Schilder zeigt zum „Monument Pamjatnik žertvam Golodomora‘“, in der englischen Übersetzung „The Memorial to Victims of Holodomor“, das Denkmal für die Opfer des Holodomor. Es führt einen zu der Skulpturengruppe von Mutter und Kind, zur Oase der Stille und Ruhe inmitten der hektischen Hauptstraße. Die Inschrift des Denkmals spricht vom Ašaršylyq, sie verwendet den kasachischen Namen für die Hungersnot. Der Wegweiser spricht vom Holodomor, dem ukrainischen Begriff für die Hungersnot. Denkmal und Wegweiser sind eine Offenbarung der Schwierigkeiten und Herausforderungen der kasachstanischen Erinnerungskultur: Wie soll man für all das Erlebte eine Sprache finden? Holodomor, den Begriff kennen viele – Ašaršylyq, wer außerhalb Kasachstans hat diesen Begriff je gehört?
Die Verwendung von Holodomor ist eines der vielen Anzeichen dafür, dass Erinnerungskulturen nicht im kontextlosen Raum entstehen, sondern durch Ausleihen, Aneignen, Erproben und Abgrenzen. Zugleich ist es ein Symptom eines viel tieferliegenden Problems: Die Erforschung der Hungersnot und des Stalinismus in Kasachstan war trotz der Unabhängigkeit lange tabuisiert, da das Land autoritär regiert wurde und weiterhin so regiert wird. Aus diesem Grunde fehlen uns die Stimmen der Opfer: Vielleicht würde auf dem Wegweiser in Astana nicht Holodomor, sondern Ašaršylyq stehen, wenn eine demokratische, freiheitliche und sichere Auseinandersetzung mit dem Stalinismus möglich gewesen wäre. Es sind Stimmen, die wir nicht mehr zu hören bekommen werden: Die Schicksale, die Valerij Michailov dokumentierte, sind nur ein Bruchteil dessen, was in den 1930er-Jahren mit den Nomad:innen in der kasachstanischen Steppe passierte. Die Überlebenden sterben, die bereits Verhungerten können wir nicht mehr anhören. Vor den Augen des Hungers hat man zu lange die eigenen Augen verschlossen.
Hera Shokohi (Bonn)
Hera Shokohi ist Historikerin und Doktorandin an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Geschichte des Stalinismus in Kasachstan und der Ukraine, postsowjetische Erinnerungskulturen und die Geschichte des Holocaust in Osteuropa und der Sowjetunion.
Karte der Erinnerungsorte in Kasachstan und der Ukraine:
Auf dieser Karte sind die Orte rot markiert, die an den Stalinismus erinnern, gelb markiert sind andere relevante Erinnerungsorte.
Literatur
Applebaum, Anne: Red Famine. Stalin’s War on Ukraine, London 2018.
Barnes, Steven A.: Remembering the Gulag in Post-Soviet Kazakhstan, in: Norris, Stephen M. (Hrsg.): Museums of Communism. New Memory Sites in Central and Eastern Europe, Indiana 2020, S. 106–135.
Happel, Jörn: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 76), Stuttgart 2010.
Kasianov, Georgiy: Memory Crash. The Politics of History in and around Ukraine 1980s–2010s (Historial Studies in Eastern Europe and Eurasia 7), Budapest/Wien 2022.
Kindler, Robert: Opfer ohne Täter. Kasachische und ukrainische Erinnerung an den Hunger 1932/33, in: Osteuropa 3 (2012), S. 105–120.
Kindler, Robert: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014.
Lim, Jie-Hyun: Global Easts. Remembering, Imagining, Mobilizing, New York 2022.
Lim, Jie-Hyun: Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt, Berlin 2024.
Lim, Jie-Hyun: Victimhood Nationalism. History and Memory in a Global Age, New York 2025.
Mattingly, Daria: Enforcing National Memory, Remembering Famine’s Victims. The National Museum „Holodomor Victims Memorial“, in: Norris, Stephen M. (Hrsg.): Museums of Communism. New Memory Sites in Central and Eastern Europe, Indiana 2020, S. 188–213.
Mikhailov, Valeriy: The Great Disaster. The Genocide of the Kazakhs, London 2014.
Die ukrainische Revolution von 1917 ist ein Beleg für den lange vor 1991 einsetzenden Kampf um Unabhängigkeit und für eine demokratische Gesellschaft in der Ukraine. Ein Gastbeitrag von Vladyslav Starodubtsev
Geht es um die „Bonner Republik“, stößt man unweigerlich auf Jupp Darchingers Fotografien – ganz besonders in diesem Blog. Eine Ausstellung im LVR-Landesmuseum Bonn zeigt zum 100. Geburtstag des bedeutenden Fotojournalisten Bilder aus seinem Lebenswerk, das seit 2008 im AdsD bewahrt wird.
Vor 150 Jahren endete auf dem Gothaer Parteitag eine langjährige Konfrontation zweier sozialdemokratischer Arbeiterbewegungen mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei.