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Im Rahmen seines bibliothekarischen Provenienzforschungsprojekts veranstaltete das Archiv der sozialen Demokratie am 15. und 16. Oktober 2025 eine Fachtagung zum Thema „Provenienzforschung und Arbeiterbewegungsgeschichte“. Genese und Zielsetzung der Tagung werden an dieser Stelle reflektiert.
Provenienzforschung untersucht die Herkunft von Kulturgütern anhand objektspezifischer Indizien. In der akademischen Kunstgeschichte ist sie eine seit langem praktizierte Hilfswissenschaft: im Grunde seit der Professionalisierung der Disziplin im 19. Jahrhundert. Größere öffentliche Aufmerksamkeit erlangt Provenienzforschung jedoch 1998, als sich diverse Signatarstaaten, darunter auch die Bundesrepublik Deutschland, in der sog. Washingtoner Erklärung (moralisch) dazu verpflichten, ihre Anstrengungen bei der Identifikation von NS-Raubgut in öffentlichen Sammlungsbeständen zu intensivieren – und für NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut (NS-Raubgut) „gerechte und faire Lösungen“ zu finden. Diese moralische Verpflichtung hat die Politik in der Folge wiederholt bekräftigt – in Koalitionsverträgen und internationalen Übereinkünften.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist die erste politische Stiftung in Deutschland, die diesem öffentlichen Auftrag entspricht: Seit 2020 wird der sog. Gründungsbestand der Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie in einem drittmittelgeförderten Provenienzforschungsprojekt auf NS-Raubgutverdachtsfälle überprüft. Restitutionen sind bereits erfolgt. Dabei ist es wichtig, die Komplexität des Phänomens zu erkennen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung nimmt hier eine besondere Vermittlerrolle ein. Gelegentlich herrscht nämlich Unverständnis, wie denn ausgerechnet die Friedrich-Ebert-Stiftung in den Besitz von NS-Raubgut gelangen konnte; steht ihre Bibliothek doch in direkter Tradition der historischen SPD-Parteibibliothek, die von den Nationalsozialisten ab 1933 zerschlagen und teilweise vernichtet wurde. Sie ist somit selbst Opfer der NS-Raubgutpolitik geworden.
Dieser Umstand verhinderte jedoch nicht, dass im Zuge des Wiederaufbaus nach 1945 kontaminierte Bücher ihren Weg in den Bestand fanden. In diesen Fällen spricht man von sog. sekundärem NS-Raubgut, das zumeist nachträglich, also nach 1945, und vermittels vermeintlich vertrauenswürdiger Zwischenstationen in die Einrichtungen gelangte. So verdeutlicht das paradox anmutende Beispiel der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, die selbst Opfer der NS-Raubgutpolitik war, in deren Beständen sich aber dennoch NS-Raubgut findet, was der langjährige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Michael Knoche, provokant wie zutreffend als „generelle Schuldvermutung“ bezeichnet – für Bestände, „[…] die nach 1933 erworben wurden und vor 1945 erschienen sind“ (Ders.: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft. 3., korr. Aufl., Göttingen 2018, S. 50). Ausnahmen von dieser allgemeingültigen Regel gibt es nicht.
Die Situationsbeschreibung wird insofern verständlich, als es kein Zufall ist, dass sich NS-Raubgut in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung findet. Dabei spielt das spezifische Sammlungsprofil eine Rolle. Das Archiv der sozialen Demokratie versteht sich als Ort des gedruckten wie ungedruckten Gedächtnisses der deutschen Arbeiterbewegung. Das Bemühen, historische Zeugnisse der Arbeiterbewegungsgeschichte zusammenzutragen, zielt folgerichtig auch auf einschlägige Publikationen, die vor 1933 veröffentlicht wurden. Bei diesen Büchern auf NS-Raubgut zu stoßen, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, stellten doch Arbeiter- und Gewerkschaftsbibliotheken in den ersten Jahren der NS-Diktatur ein primäres Ziel der NS-Verfolgungsmaßnahmen dar. Angriffspunkte bestanden in ausreichender Zahl. Denn der hohe Organisationsgrad der Arbeiterbewegung, die tiefe Verankerung im gesellschaftspolitischen Arbeitermilieu sowie die eminente Rolle, die der sozialistischen Bildung in Form von Arbeiterbildungsvereinen beigemessen wurde, führten dazu, dass überall im Deutschen Reich entsprechende Einrichtungen existierten: nach Detlev Brunner 1933 schätzungsweise bis zu 2.500 Arbeiterbibliotheken mit einem Bestand von ca. 1,5 Millionen Bänden.
Der Teil der Bücher, den die Nationalsozialisten nicht unmittelbar nach ihrem Zugriff vernichteten, sondern als symbolische Trophäen oder zum Zweck der sog. Feindbeobachtung in ihre Einrichtungen übertrugen, z.B. in das NSDAP-Parteiarchiv oder die Zentralbücherei der NS-Einheitsgewerkschaft Deutsche Arbeitsfront (DAF), ist eindeutig als NS-Raubgut zu klassifizieren. Allein die Zentralbücherei der DAF zählte 1938 rund 336.000 Bände – zusammengetragen vorrangig aus beschlagnahmten Gewerkschaftsbibliotheken. Ein Großteil der von den Nationalsozialisten geraubten Bibliotheksbestände wurde dann nach 1945 auf andere Einrichtungen weiterverteilt, die nach heutiger Auffassung nicht als rechtmäßige Besitzer_innen gelten; oder fand seinen Weg unter teils dubiosen Umständen auch in den antiquarischen Buchhandel. Angesichts dieser Umstände und der schieren Anzahl an Exemplaren sollte nicht überraschen, dass nahezu alle Provenienzforschungsprojekte in Bibliotheken in hohem Maße mit arbeiterbewegungsgeschichtlichen Fragen konfrontiert sind.
Es ist also keine Seltenheit, dass Provenienzforscher_innen bei der systematischen Überprüfung von Bibliotheksbeständen auf Exemplare stoßen, die von arbeiterbewegungsgeschichtlicher Herkunft sind. Mitunter ist es aber äußerst kompliziert zu entscheiden, welche Person oder Institution im konkreten Einzelfall rechtmäßige Eigentümerin ist. Schließlich war die Gewerkschaftslandschaft vor 1933 ausgesprochen ausdifferenziert und hat sich nach 1945 erheblich verändert. Gewerkschaften fusionierten, trennten sich, teilweise lösten sie sich auf oder wurden nicht wiedergegründet. Zudem bestanden gravierende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Besonders kompliziert sind die Verhältnisse bei kleineren Arbeiterbibliotheken. Bereits die Terminologien der exemplarspezifischen Provenienzmerkmale sind häufig verwirrend: Handelte es sich um die Bibliothek einer (Einzel-)Gewerkschaft oder eines Gewerkschaftskartells? Wenn ja, welche Einzelgewerkschaften hatten sich hier zusammengeschlossen? Waren diese Gewerkschaften Mitglied im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB), der nationalen gewerkschaftlichen Dachorganisation der Freien Gewerkschaften zwischen 1919 und 1933? Dieser unterhielt auch eigenständige ADGB-Ortsausschüsse.
Verkomplizierend tritt hinzu, dass die größeren ADGB-Mitgliedsgewerkschaften auch eigene, unabhängige Zentralarchive (mit Bibliotheken) pflegten, in deren Tradition heutige gewerkschaftliche Gedächtnisträger stehen. So war der Deutsche Metallarbeiter-Verband (DMV) Mitglied im ADGB und unterhielt trotzdem eine separate historische Überlieferung, in deren Tradition die heutige Zentralbibliothek der IG Metall steht. Ansprechpartner für NS-Raubgut des DMV wäre also nicht die Friedrich-Ebert-Stiftung, die aufgrund ihrer Übereinkunft mit dem DGB – dem Rechtsnachfolger des ADGB – dessen Restitutionsansprüche stellvertretend wahrnimmt, sondern die Zentralbibliothek der IG-Metall. Oder haben wir es mit der Bibliothek eines Arbeiterbildungsvereins oder eines SPD-Ortsvereins zu tun? Nicht selten können mehrere dieser Formationen zutreffen, da sich freigewerkschaftliche und sozialdemokratische Bibliotheken vor Ort und im Laufe der Zeit zusammenschlossen. Hier den Überblick zu behalten, ist nicht einfach. Vielmehr gilt mit Blick auf die Häufigkeit, mit der Provenienzforscher_innen in ihrem Arbeitsalltag mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind, dass die fachgerechte Vermittlung arbeiterbewegungsgeschichtlichen Wissens ein Desiderat der Provenienzforschung darstellt.
An dieser Stelle setzte die Tagung an, die das Archiv der sozialen Demokratie am 15. und 16. Oktober 2025 in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn veranstaltete. Die Tagung zielte zum einen auf die konkrete Wissensvermittlung aus dem Kreis der Mitarbeiter_innen des Archivs der sozialen Demokratie. Dort sind nämlich Expertisen im Bereich Gewerkschaftsgeschichte und Geschichte der sozialen Demokratie gebündelt, die den bibliothekarischen Provenienzforscher_innen als Orientierung bei der Aufklärung von kritischen Objektgeschichten und der Suche nach „gerechten und fairen Lösungen“ dienen.
Darüber hinaus setzte sich die Tagung zum Ziel, anhand von Vorträgen ausgewiesener Expert_innen die wechselvollen Bestands- und Institutionengeschichten bedeutender Einrichtungen der organisierten Arbeiterbewegung bekannt zu machen und deren Bemühungen um Restitutionen zu beleuchten: Vertreter_innen des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M., des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, der Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek der Arbeiterkammer Wien und der Zentralbibliothek der IG Metall in Frankfurt a.M. informierten über den gegenwärtigen Kenntnisstand. Präsentationen aktueller Forschungsergebnisse aus dem Kontext der Provenienzforschung zu NS-Raubgut sowie zu Kulturgutentziehungen aus der ehemaligen SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990 komplettierten das Tagungsprogramm, das mit seiner dezidiert arbeiterbewegungsgeschichtlichen Perspektive den diesbezüglichen erhöhten Wissensbedarf adressierte.
Die Veranstaltung hat das vorhandene Desiderat einer dezidiert arbeiterbewegungsgeschichtlichen Perspektive aufgegriffen und zur Vernetzung der Akteur_innen in diesem Feld beigetragen. Wichtige Hilfestellungen, die es zukünftig erleichtern, sozialdemokratische und gewerkschaftliche Herkunftsgeschichten aufzuklären und „gerechte und faire Lösungen“ für NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu finden, resultierten aus einem durchweg produktiven wie anregenden Diskurs. Allen Referent_innen und Teilnehmer_innen sei an dieser Stelle für Ihren Input recht herzlich gedankt!
Anmerkung: Ein ausführlicher Tagungsbericht wird in naher Zukunft an anderer Stelle veröffentlicht werden.
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09. Dezember, 18 Uhr c. t. | Universität Bonn
Bonn | 28.10.2025 | 19:00 Uhr
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