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Kurzgefasst und eingeordnet von Viktoria Peter. Viktoria Peter hat Translation, Kulturwissenschaften und Interkulturelle Europa-Studien in Leipzig, Regensburg und Madrid studiert. Sie arbeitet als Übersetzerin und politische Bildnerin.
Deutschland ist in der Bau-, Fleisch- und Logistikwirtschaft ein Billiglohnland – vor allem für Nicht-Deutsche. Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten und aus Drittstaaten übernehmen das Gros der körperlich harten, meist schlecht bezahlten Arbeiten. Viele dieser Menschen arbeiten unter ausbeuterischen Bedingungen: systematische Verstöße gegen Arbeitsschutzgesetze, gegen Mindestlohnvorschriften oder gegen das Arbeitszeitgesetz sind in Deutschland auf Baustellen, in Schlachthöfen oder auf Autobahnen an der Tagesordnung. Fehlende politische Regulierung, Lobbyismus und mangelhafte Kontrolle von Vorschriften sorgen dafür, dass die Situation der Betroffenen sich nicht verbessert.
Progressive Akteur_innen müssen sich von Lübbes Analyse der ausbeuterischen Verhältnisse angesprochen fühlen: Es bedarf gesetzlicher Überarbeitungen sowie eines mentalen Wandels gegenüber (Arbeits-)Migration. Darüber hinaus müssen sich die Selbstbilder und Handlungsoptionen von Behörden und Beamt_innen verändern, die mit den betroffenen Menschen in Kontakt kommen. Arbeitsmigrant_innen sollten keine Angst vor Bußgeldern, Abschiebungen, Arbeits- oder Wohnungslosigkeit haben müssen, wenn sie sich mit Missständen an die Behörden wenden oder bei einer Kontrolle zugegen sind.
Sascha Lübbe studierte Publizistik, Nordamerikastudien und Soziologie in Berlin und Lissabon. Er arbeitet als Journalist und Autor zu den Schwerpunktthemen Migration, Integration und soziale Ungleichheit.
Die „Unsichtbaren“, die die deutsche Wirtschaft am Laufen halten, lassen sich auf zwei Weisen charakterisieren: Zum einen über ihre Tätigkeiten: zum Beispiel in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Gebäudereinigung, Tierverarbeitung, Pflege, bei Fließbandarbeiten oder Liefertätigkeiten. Und zum anderen über ihre Herkunft: sie kommen aus Ost- und Südosteuropa, Zentral- und Vorderasien, aus EU-Mitgliedstaaten, aber auch aus Drittstaaten. Sie sind nach Deutschland gekommen, um hier mehr Geld zu verdienen, als es in ihren Herkunftsländern möglich wäre – aber deutlich weniger als gebraucht wird, um hier gut zu leben. Häufig arbeiten sie unter Zeitdruck, ihnen wird ein Teil des Lohns schwarz ausgezahlt oder sogar vorenthalten, Urlaubs- und Krankheitstage werden nicht bezahlt, ihre Unterkunft oder gleich die gesamte Aufenthaltsmöglichkeit in Deutschland hängt am Job. Sie sind abhängig von ihren Chefs entlang der Subunternehmerkette und stehen auf der untersten Stufe im System.
Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und zugleich ein Land mit großem Lohngefälle – ein Hochlohnland für sogenannte „qualifizierte“ Arbeit, aber ein Billiglohnland in anderen Branchen. Deutschland ist zudem eines der europäischen Länder mit dem größten Niedriglohnsektor. In diesem unteren Einkommensbereich betrug der Anteil von Nicht-Deutschen 2022 fast 30 Prozent. In der Gebäudereinigung, der Lebensmittelindustrie oder auf dem Bau liegt der Anteil der Ausländer sogar bei bis zu 50 Prozent. Die Menschen, die diese für das Funktionieren des Landes notwendigen Tätigkeiten ausüben, sind in einem System beschäftigt, das auf Ausgliederung basiert: Unternehmen geben Aufgaben und Verantwortung an Subunternehmen weiter, oftmals in nicht mehr nachverfolgbare, halblegale Zustände.
Anhand von Beispielen aus drei Branchen wird erläutert, wie Ausbeutung funktioniert: Fabiu und Adrian arbeiten auf dem Bau mehr Stunden als gesetzlich erlaubt, bekommen dafür aber keinen angemessenen Lohn. Eugen und Petre wurden unter falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt und müssen nun Fließbandarbeit in einem Schlachthof leisten. Die LKW-Fahrer Samim und Umid leben praktisch auf der Autobahn und sehen ihre Familien nur noch auf Handybildschirmen.
Eine der größten Herausforderungen für Arbeitsmigrant_innen ist die Sprachbarriere. Ihre Unterbringung erfolgt oft in Arbeiterwohnheimen, wo sie unter sich bleiben, in engen Mehrbettzimmern wohnen und Geschichte nach Geschichte erzählen können, wie sie in der fremden deutschen Sprache über den Tisch gezogen oder durch die Auszahlung eines Teils des Lohns schwarz um Rentenansprüche, Krankheitsgeld und bezahlten Urlaub gebracht werden. Viele der Bauarbeiter_innen arbeiten zehn Stunden oder mehr an sechs Tagen die Woche. Kontakt haben sie meist nur zu den anderen Bewohner_innen des Arbeiterwohnheims, zu Sex-Arbeiter_innen, oder telefonisch zu ihren Familien im Herkunftsland, falls der Kontakt noch besteht.
Im Bau-Gewerbe ist das System der Auslagerung von Aufgaben an Subunternehmen historisch gewachsen. Der Abbau von Personal in deutschen Bauunternehmen seit den 70er-Jahren und die EU-Erweiterungen in den 80er-Jahren erlaubten es, Tarifbindungen umgehen und so Kosten zu sparen. Das ‚kooperative Outsourcing‘, in dem Aufgaben nach Kompetenzen an Spezialist_innen ausgelagert wurden, ist zunehmend ‚kostengetriebenem Outsourcing‘ gewichen, bei dem Gewinnmaximierung auf Kosten der Löhne im Vordergrund steht. Dass bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand fast immer das billigste Angebot den Zuschlag bekommt, trägt zu dieser Situation bei: Um Lohnbetrug zu verhindern, müssen die Vergabepraxis geändert und eine Pflicht zur Tariftreue eingeführt werden. Die Umsetzung muss durch fälschungssichere Zeiterfassungssysteme kontrolliert werden.
Die Auslagerung von Aufgaben führt zudem zu der Entstehung von Firmengeflechten, bei denen unklar ist, wer für die Arbeiter_innen verantwortlich ist. So wird es auch für Gewerkschaften schwieriger, Arbeiter_innen zu erreichen oder auf Arbeitsbedingungen Einfluss zu nehmen.
Ein Lösungsansatz wäre, Werksverträge und damit Subunternehmerketten im Kernbereich einer Branche zu verbieten. In der Fleischwirtschaft trat im Januar 2021 das Arbeitsschutzkontrollgesetz in Kraft. Es beendete Werksvertrags- und Leiharbeit, führte Arbeitszeiterfassung ein und schreibt Mindeststandards für die Unterkünfte vor. Nun sind Betriebsräte auch für die vormaligen Werkvertragsarbeiter_innen zuständig. Nichts ausrichten konnte das Gesetz jedoch gegen das schlechte Arbeitsklima. Mobbing, Drohungen und Beleidigungen vonseiten der Vorarbeiter sind weiter an der Tagesordnung. Auch Folgeprobleme wie Familien- oder Beziehungskonflikte, psychische oder Suchterkrankungen und fehlende Integrationsmöglichkeiten werden nicht aufgefangen. Zudem sind zwar die Auslagerung von Arbeiten im Kerngeschäft verboten worden, nicht jedoch die von sonstigen anfallenden Arbeiten, wie zum Beispiel Reinigungstätigkeiten.
Sobald sich in den Herkunftsländern der Arbeitsmigrant_innen herumspricht, wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind, oder das Abwanderungspotenzial bestimmter Länder ausgeschöpft ist, setzt eine Verlagerung ein: Dann kommen Menschen aus Ländern, in denen das Lohnniveau noch niedriger ist. In der Transportlogistik kommen die LKW-Fahrer_innen mittlerweile aus östlichen Nicht-EU-Staaten, vor allem den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens, aber auch aus Nepal, Indien oder den Philippinen. Auch hier wird der Kostendruck entlang der Subunternehmerkette weitergegeben und drückt sich in niedrigen Löhnen aus sowie in der Verdrängung von Unternehmen, die deutschen Mindestlohn zahlen. Es gibt hauptsächlich zwei Anstellungsmodelle: die Scheinselbstständigkeit, bei der Fahrer_innen für jeden Auftrag mit einem Dienstleistungsvertrag, aber eben nicht fest angestellt werden, und das Spesenmodell, bei dem der Mindestlohn des Landes gezahlt wird, in dem sich der Firmensitz befindet, und der restliche Lohn in Spesen. Weil die Spesen fehlenden Lohn wettmachen, müssen Fahrer_innen Verpflegung, Unterkunft, Dusche und Toilette selbst finanzieren. Beide Modelle unterlaufen geltendes Recht, namentlich die sogenannte Entsenderichtlinie, die vorsieht, dass auf deutschen Straßen auch deutscher Mindestlohn zu zahlen ist.
Für Arbeitsmigrant_innen ist es vielfach keine Option, sich bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz, beim Einbehalten von Leistungen oder bei ähnlichen Strategien der Arbeitgeber_innen an die Behörden zu wenden, da sie sich hiermit in Gefahr bringen, arbeits- und obdachlos zu werden. Arbeiter_innen aus Drittstaaten sind dabei in einer noch schlechteren Position als Arbeitsmigrant_innen aus östlichen EU-Ländern. Bei ersteren ist durch die Tätigkeit als Fahrer_in die Isolation noch ausgeprägter und ihre Aufenthaltserlaubnisse sind oft an ihre Arbeit geknüpft. Wenn Arbeitsmigrant_innen sozial und ökonomisch so an ein Unternehmen gebunden sind, dass sie sich nicht aus der Ausbeutung befreien können, überschreitet dies nach Ansicht der Road Transport Due Diligence Association die Grenze zum Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung. In Deutschland wird jedoch nur vereinzelt in diese Richtung ermittelt: 2022 verzeichnete das BKA nur 34 abgeschlossene Verfahren zu diesem Vorwurf.
Diese menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen sind das Ergebnis einer Gesellschaft, die Arbeitsmigrant_innen als Arbeitsmaschinen sieht und sie marginalisiert. Soziologische Studien belegen, dass ein „Sich Hocharbeiten“ für sie unmöglich ist. Ihre Teilhabe an der Gesellschaft wird durch die Sprachbarriere, die prekären Löhne sowie die fehlenden Kontaktmöglichkeiten zum Rest der Gesellschaft behindert. Gegen die Bekämpfung von Schwarzarbeit und ausbeuterischen Verhältnissen kommt dann aber von überraschender Seite Gegenwind, nämlich von den Arbeitsmigrant_innen selbst. Denn wenn sie nicht mehr schwarz oder grau, also teils legal, teils schwarz, bezahlt werden, stehen sie netto mit noch weniger da als zuvor. Aus ihrer Sicht steht auch eine Arbeitszeiterfassung dem Ziel, möglichst schnell möglichst viel zu verdienen, um nach Hause zurückkehren zu können, im Weg. Doch dies ist keine Entschuldigung, ausbeuterische Verhältnisse weiter zu dulden. Europäische Regulierung steht dabei unter dem Druck, nicht nur die Bedürfnisse der Arbeitsmigrant_innen im Blick behalten, sondern zudem Interessenskonflikte innerhalb der EU – zwischen osteuropäischen und westeuropäischen Ländern – ausgleichen.
Der Ruf nach mehr Kontrollen in den Betrieben sowie auf den Autobahnen und Baustellen verhallt in unübersichtlichen Strukturen. Für die Arbeitswelt sind in Deutschland verschiedenste Instanzen zuständig, deren Kompetenzen sich teilweise von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Eine zentrale Rolle spielt die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls. Deren Kontrollen nehmen jedoch seit 2012 ab, unter anderem aufgrund von Personalmangel, und bei den Kontrollen, die stattfinden, steht nicht die Verbesserung der Lage der von Ausbeutung Betroffenen im Vordergrund, sondern Strafverfolgung. Sobald die Beamt_innen den Verdacht haben, ein Aufenthaltstitel sei abgelaufen oder eine Arbeitserlaubnis nicht erteilt, sind Menschen, die bei Prüfungen etwa auf Baustellen angetroffen werden, nicht mehr Beteiligte in einem Prüfverfahren, sondern Beschuldigte in einem Strafermittlungsverfahren auf Grundlage von Paragraf 95 des Aufenthaltsgesetzes. 85 Prozent der Strafverfahren richten sich gegen Beschäftigte, nicht gegen Arbeitgeber_innen.
Nach Einschätzung verschiedener Expert_innen sind die Hochzeiten der Ausbeutung in Deutschland zwar vorbei. Dennoch müssen ausbeuterische Verhältnisse bekämpft werden. Dazu muss das Dunkelfeld erhellt werden: Viel zu wenig ist über die Lebensumstände von Arbeitsmigrant_innen bekannt. Mietwucher muss ebenso vorgebeugt werden wie der Abgabe von Verantwortung entlang der Subunternehmerkette. Das gewerkschaftsnahe Peco-Institut fordert von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls: keine Verfolgung von Beschäftigten, Unterstützung bei Lohnansprüchen und keine Übermittlung der Fälle an die Ausländerbehörde. Doch das trifft bei den interviewten Zollmitarbeiter_innen auf Unverständnis. Beamt_innen seien verpflichtet, Strafverfahren einzuleiten; die Behörde sei weder die Tarifpolizei noch biete sie „das allumfassende Sorglospaket“. Zudem stehe den Betroffenen ja der Rechtsweg offen, vorenthaltenen Lohn einzuklagen. Das ist für die Betroffenen aufgrund der Sprachbarriere und der mit Gerichtsprozessen verbundenen Kosten jedoch oft die am wenigsten zugängliche Option. Hier könnten die Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen. Doch diese hatten in der Vergangenheit ein wechselhaftes Verhältnis zu Arbeitsmigrant_innen, sahen sie in den 1950er- und 60er-Jahren vor allem als Konkurrenz. Auch heute fehlt es noch an Angeboten in anderen Sprachen als Deutsch sowie an ausreichender Vertretung in den Betrieben.
In einem abschließenden Exkurs in die häusliche Pflege lernen wir Mariana kennen. Sie gewann 2021 vor dem Bundesarbeitsgericht das richtungsweisende Verfahren um den Anspruch auf Mindestlohn für 24-Stunden-Pflege im häuslichen Bereich. Doch ihr Geld hat sie immer noch nicht bekommen, und politisch ist die Gestaltung einer rechtssicheren Grundlage für solche Arbeitsverhältnisse in den Hintergrund getreten. Den juristischen Weg zu gehen, ist für Einzelne oft herausfordernd. Expert_innen sehen daher Chancen im sogenannten „Verbandsklagerecht“, wie es in Frankreich und den Niederlanden existiert. Damit könnten Arbeitgeber_innen verklagt werden, aber betroffene Arbeitnehmer_innen anonym bleiben. Auch eine zentralisierte Arbeitsinspektion wie in Spanien oder Frankreich könnte die Arbeitsbedingungen verbessern und als Institution vorenthaltene Löhne für Geschädigte einfordern. Nicht zuletzt braucht es Aufklärung über Arbeitnehmer_innenrechte in den Herkunftssprachen der Migrant_innen, aufsuchende Beratungsarbeit und Beratungsstellen zu Arbeitsmigration in den Hauptherkunftsländern.
Lübbes Recherchen unter ausländischen Arbeitskräften entlang der Subunternehmerketten belegen nicht nur deren wichtige Rolle für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft. Er zeigt mit dieser gut lesbaren Sammlung von Reportagen auch auf, wie prekär die Beschäftigungsverhältnisse von Nicht-Deutschen oft sind und wie sehr die Betroffenen der Willkür ihrer Arbeitgeber_innen ausgesetzt sind. Durch die Beschreibung der Umstände, die zu den aktuellen Zuständen geführt haben, macht er deutlich, welche Rolle fehlende politische Regulierung, Lobbyismus sowie mangelnde Kontrolle der Vorschriften spielen. Die im Buch portraitierten Branchen sind jedoch sehr männlich dominiert. Eine mehr als einen kurzen Exkurs umfassende Erweiterung der Betrachtung um weiblich geprägte und nicht minder von Ausbeutung betroffene Bereiche wie die häusliche und institutionelle Pflege oder Reinigungsberufe hätte die Argumentation bereichert.
Verlag: S. HirzelErschienen: 2024Seiten: 208ISBN: 978-3-7776-3408-1