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Sascha Lobo: Die große Vertrauenskrise

Ein Bewältigungskompass. Köln: Kiepenheuer & Witsch (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Laura Brandt.
Laura Brandt ist Politikwissenschaftlerin und Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie forschte und lehrte in Wien und Berlin zu feministischen Fragestellungen.


buch|essenz

Kernaussagen

Sascha Lobo identifiziert in seinem Buch einen signifikanten Vertrauensverlust in politische und soziale Institutionen, den er als fundamentale Bedrohung für die demokratische Ordnung sieht. Globale Krisen wie die Pandemie und die Klimakrise sowie die zunehmend rasch voranschreitende Globalisierung und Digitalisierung haben zu einer grundlegenden Veränderung der Mechanismen zur Vertrauensbildung geführt. Um die Vertrauenskrise zu lösen, muss die Politik diese neuen Vertrauensmechanismen verstehen und ihre Kommunikation und Handlungen an die geänderten Umstände anpassen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Lobos Analyse schließt an vielen Punkten an bestehende Diskurse der sozialen Demokratie an. Die neuen Vertrauensmechanismen zu verstehen, kann daher als eine wichtige Ergänzung des Instrumentariums sozialdemokratischer Politik betrachtet werden. Essenziell sind hierbei die Haltung des aktiven Zuhörens und eine transparente Kommunikation auf Augenhöhe mit der Bevölkerung. Aktives   Zuhören gepaart mit Klassenbewusstsein wären die stärksten Treiber für den Abbau des Gefühls von ‚Wir gegen die Eliten‘. Eine breite Beteiligungspolitik gilt als entscheidender Faktor für erfolgreiche Veränderungsprozesse. Durch diese Beteiligung wird dem Bild eines elitären Polit-Medien-Komplexes entgegengewirkt. Zudem muss sich die Kommunikation verändern: Begriffe wie Transformation sind zu abstrakt und werden als Anzeichen für eine Top-down-Agenda wahrgenommen. Um Vertrauen aufzubauen, muss die Sozialdemokratie langfristig von der Homogenität in den eigenen Reihen, der überakademisierten Kommunikation   sowie Top-down-Projekten absehen.


buch|autor

Sascha Lobo, geboren 1975 in West-Berlin, ist ein deutscher Blogger, Autor und Internetexperte. Er studierte Informatik und arbeitete anschließend als Programmierer und Webdesigner. Bekannt wurde Lobo vor allem durch seinen Blog „Riesenmaschine“ und seine politischen und gesellschaftskritischen Beiträge zu den Themen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Seit 2011 schreibt er eine wöchentliche Kolumne auf spiegel.de. Gemeinsam mit Jule Lobo moderiert er den Podcast „Feel the News – Was Deutschland bewegt“.


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buch|inhalt

Altes und Neues Vertrauen

Im Zuge der immer weiter voranschreitenden Globalisierung und Digitalisierung haben sich die Mechanismen der gesamtgesellschaftlichen Vertrauensbildung in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Vor dem Aufkommen des Internets akzeptierten die Bürger_innen die Entscheidungen von Behörden, Parteien, Schulen und Universitäten und erwarteten im Gegenzug vom Staat eine Politik im Sinne der Mehrheitsgesellschaft. Dieses „Alte Vertrauen“ basierte auf Gewohnheit, Hierarchie, Stabilität und einer klaren Kommunikation von oben nach unten. Im Internetzeitalter hingegen sind politische Entscheidungen überprüfbar geworden. Im Paradigma des „Neuen Vertrauens“ fordern die Bürger_innen von der Regierung Transparenz, mehr Mitbestimmung, gesellschaftliche Kontrollmechanismen, eine Kommunikation auf Augenhöhe sowie rasche Lösungsansätze.

Wir gegen Die

Während es früher eher linke Bewegungen waren, denen der Staat als Gegenspieler galt, ist es heute zunehmend Ausdruck einer rechten Haltung, den Staat zu bekämpfen. Das Narrativ: Der Staat zwingt der Bevölkerung linksliberale Ansichten zu Themen wie Impfung, Migration und Gendern auf. Dieses Feindbild dient rechten und konservativen Kreisen als Projektionsfläche für ihren Elitenhass. Der Politik wird grundlegend das Vertrauen entzogen. Politische Versprechen werden als Lügen dargestellt und die Medien als Propagandainstrument verteufelt. Laut diesem Narrativ wird viel Geld, Zeit und Energie in die Lösung von „Problemen“ investiert, die mit der Lebensrealität vieler Menschen nichts zu tun hätten. Während Vertreter der mächtigen Eliten mit Lobbyverbänden zu Abend essen und sich hinter ihren Schreibtischen verstecken, werden die Menschen mit ihren alltäglichen Problemen alleingelassen. So entsteht das Gefühl des ‚Wir gegen die Eliten‘.

Sind die Medien schuld?

Den Medien wurde in den letzten Jahren vermehrt vorgeworfen, die Bevölkerung gezielt zu belügen und zu manipulieren. Die Menschen verlieren das Vertrauen in Leitmedien. Grund hierfür ist die große Homogenität in der Medienbranche.

So fühlen sich Menschen mit Migrationshintergrund, queere Menschen und andere marginalisierte Gruppen nicht repräsentiert und können sich mit den Inhalten der Leitmedien nicht identifizieren. Verstärkt wird der Vertrauensverlust noch weiter durch die Polarisierung über soziale Medien. Über Plattformen wie TikTok, Instagram, Facebook, Telegram oder X prasselt eine überwältigende Masse an Informationen auf die Menschen ein. Oft wird dabei das Ziel verfolgt, zu emotionalisieren. Denn Empörung, Wut und Angst bringen mehr Klicks und damit mehr Profit. Hierdurch verfallen Nutzerinnen sozialer Medien nicht selten in ein sogenanntes ‚Doomscrolling‘: eine Endlosschleife negativer, emotionalisierender und vertrauensschädigender Nachrichten. Unsicherheit und Angst wandeln sich dabei zu einem Generalmisstrauen gegen Politik, Wirtschaft und Medien.

Autokraten und Fake News

Autoritäre Systeme versuchen, durch Fake News das Vertrauen der Bürger_innen in demokratische Systeme zu untergraben. Wichtig hierfür sind Plattformen wie Telegram und TikTok. Letztere wird von China kontrolliert und gezielt zur Desinformation genutzt. China betreibt über TikTok einen „digitalen Kolonialismus“: Ungewünschte Inhalte werden blockiert, die Reichweite von behinderten oder Transgender-Personen wird eingeschränkt und es werden Wortfilter eingebaut. Doch nicht nur der Einfluss von außen trägt maßgeblich zur aktuellen Vertrauenskrise bei. Auch innerhalb demokratischer Systeme arbeiten rechtsextreme Parteien mit Fake News, um die Demokratie zu destabilisieren, Angst zu schüren und vermeintlich schnelle und einfache Lösungen zu liefern.

Das Corona-Debakel

Während der Pandemie kam es zu einer eklatanten Vertiefung der Vertrauenskrise. Anstatt politische Entscheidungen transparent und nachvollziehbar zu kommunizieren, wie es dem Paradigma des „Neuen Vertrauens“ entspräche, wurden den Bürger_innen Informationen vorenthalten, mit denen sie vermeintlich nicht umgehen können. Im digitalen Zeitalter fühlt sich die Bevölkerung von einer solchen Top-down-Politik bevormundet. Sie fordert Transparenz und Rechenschaft ein. Fehler müssen eingestanden und politische Kehrtwenden demütig erklärt werden.

Austerität und Staatsversagen

Ein weiterer Ursprung der Vertrauenskrise ist die mangelhafte Infrastruktur in Deutschland. Das Funktionieren alltäglich genutzter Infrastruktur – beispielsweise der Schulen oder des öffentlichen Nahverkehrs – gehört in Deutschland zu den Grundwerten; dementsprechend hoch sind die Erwartungen der Bürger_innen. Die Politik ist jedoch weiter nicht gewillt, in hochrelevante Transformationsprozesse zu investieren. Diese jahrelange Sparpolitik hat an vielen Stellen zu einem Investitionsstau geführt, besonders bei der digitalen Infrastruktur von Behörden. Die Funktionalität des Staates ist massiv eingeschränkt und Hacker haben leichtes Spiel, da zum Beispiel völlig veraltete Software verwendet wird.

Krise der Expertise

Auch die Wissenschaft ist eine Quelle der Vertrauenskrise. Wissenschaft ist nicht perfekt, denn sie wird von Menschen betrieben. Sich dessen bewusst zu sein und wissenschaftlichen Ergebnissen trotzdem zu vertrauen, setzt Kenntnisse darüber voraus, wie Wissenschaft funktioniert. Dieses Wissen ist nicht in allen Teilen der Bevölkerung vorhanden und so werden von der Wissenschaft Exaktheit und wahre Aussagen erwartet. Wird die Wissenschaft diesem Ideal nicht gerecht, verliert sie für viele Menschen ihre Autorität. Dies wurde besonders in der Pandemie sichtbar: Freiheitseinschränkungen wurden auf der Basis der Aussagen prominenter Wissenschaftler_innen beschlossen und teilweise nur wenige Wochen später, wiederum auf der Basis der Aussagen prominenter Wissenschaftler_innen, revidiert oder verändert. Dies traf in der Bevölkerung auf Unverständnis und erzeugte bei vielen Menschen Wut. Hier zeigt sich, wie wichtig Kommunikation ist. Wird eine zuvor als Fakt gesetzte Behauptung ohne Erklärung oder Demut revidiert, führt dies zu Unsicherheit und Misstrauen.

Politik als Generationenfrage

In der deutschen Demokratie gibt es eine klaffende Wunde: Parlament und Behörden setzen sich zu großen Teilen aus alten, weißen Männern zusammen, die einen blinden Fleck bezüglich der Anliegen junger Menschen haben. Diese weit verbreitete Trägheit und Ignoranz gegenüber Entwicklungen, welche die Zukunft der jungen Generationen maßgeblich beeinflussen werden, insbesondere gegenüber Themen wie Klimawandel und Digitalisierung, führt bei jungen Menschen zu einem Vertrauensverlust in die Zukunftsfähigkeit politischer Institutionen.

Künstliche Intelligenz

Die Logik von KI-Systemen entzieht sich dem Verständnis der meisten Menschen und wirkt daher unkontrollierbar und angsteinflößend. Der Staat muss klare Regeln für den Umgang mit KI festsetzen und diese verlässlich durchsetzen. Die große Herausforderung hierbei ist, dass zum heutigen Stand auch der präziseste und strengste rechtliche Rahmen umgangen werden kann. Auch Deepfakes, also echt wirkende Fälschungen von Fotos, Videos und Tonaufnahmen, sind ein Problem. Als Einfallstor für Verschwörungstheorien und Fake News stellen sie eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie dar.

Bewältigungskompass

Um die Vertrauenskrise zu bewältigen, muss die Politik umdenken. In erster Linie muss der Umgang mit der Bevölkerung offener, respektvoller, persönlicher und transparenter gestaltet werden. Zum Beispiel muss es selbstverständlich werden, Daten öffentlich und strukturiert bereitzustellen, um politische Entscheidungen und Prozesse nachvollziehbar zu machen. Weiter bedarf es Instrumente, mit denen die Gesellschaft politische Prozesse kontrollieren kann. Ein Instrument der Kontrolle wären durchsetzbare Sanktionen, die zum Beispiel bei Korruptions- und Nebenjobregeln für Abgeordnete und Regierungsmitglieder eingeführt werden müssten. Ausschlaggebend wird zudem die Bereitschaft der älteren Generation sein, einen Generationenvertrag einzugehen, in dem die Prioritäten junger Menschen ernst genommen werden. So müssen diejenigen Investitionen steuerlich bevorzugt werden, die rasche Verbesserungen für die Jugend bringen. Doch nicht nur auf struktureller, sondern auch auf individueller Ebene muss an der Schaffung von „Neuem Vertrauen“ gearbeitet werden. Hierfür könnte die Aneignung einer digitalsozialen Epistemologie sinnvoll sein, also Wissen darüber, wie Wissen und Erkenntnis im digitalen Raum entstehen und wie seriöse Inhalte und Websites von unseriösen unterschieden werden können. Dies müsste durch eine konsequente Selbstreflexion, die Entwicklung einer neuen und ehrlichen Fehlerkultur sowie den Aufbau von Ambiguitätstoleranz begleitet werden: Wir müssen lernen, Mehrdeutigkeiten zu ertragen und Menschen wieder zu vertrauen, die eine andere Haltung haben als wir selbst.


buch|votum

Sascha Lobos Analyse des „Neuen Vertrauens“ kann sozialdemokratischer Politik dabei helfen, die eigene Entscheidungsfindung und Kommunikation besser an den Bedürfnissen der Bürger_innen auszurichten. Dreh- und Angelpunkt ist hier die Haltung des aktiven Zuhörens. Wie Lobo herausstellt, müssen die Jugend, Menschen mit Beeinträchtigung, Migrant_innen und die queere Community in ihren Anliegen gehört und repräsentiert werden. Was im Buch jedoch unerwähnt bleibt, ist die Relevanz des Klassenbewusstseins. Lobo stellt zwar fest, dass sich die ältere Generation wenig um die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder sorgt, was dazu führt, dass junge Menschen Zukunftsangst anstatt Vertrauen in Staat und Politik entwickeln. Dabei vernachlässigt er aber den Umstand, dass die Entscheidungen alter, weißer Männer in Deutschland vorwiegend die Existenz und das Leben armer junger Menschen in Deutschland sowie der Jugend im Globalen Süden betreffen wird und nicht die der 25-jährigen Tochter mit Eigentumswohnung in Berlin. Beim Schließen eines Generationenvertrags muss von Seiten der älteren Generation daher die eigene ökonomische Verortung im nationalen und globalen Kontext – und die Verantwortung, die damit einhergeht – unbedingt mitbedacht werden.

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Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erschienen: 05.10.2023
Seiten: 336
ISBN: 978-3-462-00582-0

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