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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt. Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.
Ausmaß und Probleme der Migration werden stark überschätzt. Verantwortlich für die meisten Missstände sind Fehler der Politik. Die Einwanderungsländer stehen vor einem Trilemma zwischen dem Wunsch, die Zuwanderung zu begrenzen, der dringenden Nachfrage der Wirtschaft nach billigen Arbeitskräften und dem Gebot, die Menschenrechte zu schützen.
Das Buch ist von sozialen und demokratischen Werten geprägt. Es versucht, die berechtigten Interessen aller Beteiligten – sowohl der Zugewanderten als auch der Einheimischen – im Sinne von sozialer Gerechtigkeit angemessen zu berücksichtigen. Es macht deutlich, dass die Hauptursache für die Probleme, für die die Migration verantwortlich gemacht wird, in der Wirtschaft und Politik der Einwanderungsländer zu suchen sind.
Der Niederländer Hein de Haas ist Professor an der Universität Amsterdam. Er ist ein prominenter Migrationsforscher, Autor zahlreicher Publikationen zu Migrationsfragen und war Mitgründer und Leiter des International Migration Institute an der Universität Oxford.
Das Buch umfasst 22 Kapitel, die in drei größere Abschnitte eingeteilt sind. Diese befassen sich mit Fehlwahrnehmungen des Migrationsgeschehens selbst, mit dem Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen der Zuwanderung sowie mit den propagandistischen Zuspitzungen in der Debatte um Migration.
Die Vorstellung, die Zahl der Geflüchteten sei auf einem historischen Höchststand und steige weiter dramatisch an, entspricht nicht der Wirklichkeit. Der Anstieg in den offiziellen Zahlen der UN ist ein statistisches Artefakt, da die hohen Werte vor 1945 nicht erfasst werden und im Laufe der Zeit immer mehr Länder berücksichtigt wurden.
Die Masse der aus dem Ausland kommenden Menschen reist legal in die Zielländer ein und wird dort für den Arbeitsmarkt gesucht. Die meisten Vertriebenen und Geflüchteten verbleiben als Binnenflüchtlinge in ihren Heimatländern oder suchen Zuflucht in Nachbarstaaten.
Die ethnische und kulturelle Homogenität hat in den Einwanderungsländern nicht abgenommen. Und selbst wenn sie das täte, es sind nicht ethnische und kulturelle Vielfalt, die den sozialen Zusammenhalt gefährden, sondern soziale Ungleichheit und Diskriminierung.
Angeblich treiben die hohen Entwicklungs- und Einkommensunterschiede in der Welt die Migration. Die wichtigste Triebkraft der Migration ist jedoch der Arbeitskräftebedarf in den reicheren Zielländern, der aus vielen sozialstrukturellen Gründen hoch ist. Deshalb sind die legale Zuwanderung sowie die Duldung illegaler Migration so bedeutend, auch wenn das von Politik und Medien gern verschwiegen wird.
Die meisten Migrant_innen kommen dabei aus relativ reichen, nicht aus armen Ländern; und innerhalb dieser Herkunftsländer sind es wiederum die reicheren Familien, die einem oder mehreren Mitgliedern die aufwändige und teure Reise ermöglichen können. Migration ist für die Betroffenen dabei eine langfristige Investition, die sorgfältig geplant und oft durch Schulden finanziert wird. Für viele lohnt sich auch eine relativ schlecht bezahlte Arbeit, da diese Löhne immer noch ein Mehrfaches der Bezahlung im Herkunftsland ausmachen. Da Entwicklungsunterschiede also nicht die Hauptursache für Migration sind, kann Entwicklungshilfe auch wenig zur Migrationsbekämpfung beitragen.
Die Einwanderung wird für viele problematische Entwicklungen in den Empfängerländern verantwortlich gemacht: wachsende Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, Wohnungsnot, Überlastung des Sozialstaats, Kriminalität und Entstehung von Parallelgesellschaften. Tatsächlich zeigt eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien, dass die Wirkungen der Einwanderung viel geringer als befürchtet oder sogar positiv sind. Zugewanderte Arbeitskräfte verdrängen keine einheimischen und üben auch kaum Druck auf die Löhne aus, da der Arbeitsmarkt segmentiert ist und die Migrant_innen Jobs annehmen, die die Einheimischen meistens ablehnen. Die Wohnungsnot ist eine Folge falscher Politik, die den Bau von Sozialwohnungen vernachlässigt hat. Die zusätzlichen Kosten für den Sozialstaat sind gering. Langfristig tragen Zugewanderte sogar mehr zum Staatshaushalt bei, als sie empfangen.
Die Integration funktioniert in der Regel gut, wenn sie nicht künstlich behindert wird. Da die Zugewanderten wirtschaftlichen Erfolg haben wollen, sollten sie schnell Zugang zum Arbeitsmarkt haben und vor Diskriminierung geschützt werden. Ein zügiger Erwerb der Staatsbürgerschaft beschleunigt die Integration. Eingewanderte tragen – entgegen weit verbreiteten Ansichten – auch nicht zu einer höheren Kriminalität in den Aufnahmeländern bei. Sie haben meist allen Grund, sich gesetzestreu und unauffällig zu verhalten, um ihren oft prekären Status nicht zu gefährden. Tatsächlich ist die Rate von Straftaten unter Migrant_innen niedriger als unter Einheimischen. Sie werden allerdings häufiger und schneller von der Polizei verdächtigt.
Eine weitere mit Einwanderung verbundene Sorge ist die Entstehung von Parallelgesellschaften. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass die Wohnverhältnisse besser durchmischt sind, als oft vermutet. Eine gewisse Konzentration von Zuwanderungsgemeinschaften ist eher positiv zu bewerten, da sich diese ethnischen Enklaven als Emanzipationsmaschinen bewähren, die wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichen. Problematischer ist die Differenzierung von Siedlungen in arme und reichere Stadtteile, die oft das Ergebnis verfehlter Stadtplanung und Wohnungsbaupolitik ist.
Auch der Verlust an qualifizierten Arbeitskräften in den Herkunftsländern – ein weiterer oft genannter Kostenpunkt von Migration – wird meist übertrieben. Die Nachfrage nach gut ausgebildeten Menschen führt im Gegenteil oft dazu, dass sich die Ausbildung in den Herkunftsländern verbessert und ausweitet. Die Rücküberweisungen aus den Zielländern an die zurückgebliebenen Familien erlauben diesen oft, den übrigen Nachwuchs besser zu qualifizieren.
Obwohl meist die Kosten der Migration hervorgehoben werden, weisen Wirtschaftsvertreter_innen und liberale Wirtschaftsfachleute gerne auf angebliche Nutzen hin. So soll Migration die Weltwirtschaft ankurbeln, indem sie die Arbeitskraft optimal verteilt, und obendrein die globale Ungleichheit reduzieren. In den Zielländern schafft sie Wachstum und neue Dynamik, wenn vor allem junge Zugewanderte ihre Arbeitskraft, innovativen Fähigkeiten und Unternehmergeist einbringen.
So zutreffend das im großen Ganzen ist, so blendet diese euphorische Betrachtung die Verteilung der Gewinne aus. Es sind vor allem die Unternehmen, die Zugewanderte beschäftigen, und die wohlhabenden Einwohner_innen der Aufnahmeländer, die von billigen Dienstleistungen profitieren. Wenn sich Zuwanderung in armen Gemeinden konzentriert, kann sie die Lebensverhältnisse der Einheimischen massiv beeinträchtigen. Der Fokus auf wirtschaftliche Effekte übersieht, dass für viele Menschen andere Aspekte ausschlaggebend für die Wahrnehmung von Migration sind.
Zuwanderung ist auch nicht die erhoffte Lösung für die demografischen Probleme der reicheren Länder. Um ein konstantes Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern zu erhalten, müsste die Migration ein ungeahntes und völlig unrealistisches Ausmaß erreichen. In Deutschland bspw. müsste die Zuwanderung um den Faktor 10 höher liegen.
In der öffentlichen Debatte stellen sich die meisten Politiker_innen als Gegner der Migration dar, die die Grenzen strenger kontrollieren und die Migration einschränken wollen. Tatsächlich ist die Einwanderungspolitik aber seit Jahrzehnten immer liberaler geworden. Haupttreiber dieser Öffnung sind wirtschaftliche Interessen, weil Unternehmen und Haushalte billige Arbeitskräfte brauchen. Kaum ein Staat kontrolliert ernsthaft illegale Beschäftigung. Ein weiterer Grund ist der hohe rechtliche Stellenwert von Menschenrechten einschließlich Asylrecht und Familienschutz. Diese Janusköpfigkeit findet sich bei Linken genauso wie bei Liberalen und Konservativen. Im linken Lager vertreten die Gewerkschaften eher einwanderungskritische Positionen, da sie die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, die sich um Arbeitsplätze und Löhne sorgen. Dagegen stehen die Befürworter von Asyl- und Menschenrechten, die für Solidarität mit den Armen und Verfolgten plädieren, sowie liberale Wirtschaftsvertreter. Im rechten Lager gibt es einwanderungsskeptische Konservative, die eine Überfremdung der eigenen Kultur und Gesellschaft befürchten, sowie Befürworter von Migration aus wirtschaftsnahen Kreisen, die billige Arbeitskräfte suchen.
Allgemein herrscht die Wahrnehmung vor, dass die Mehrheit der Menschen in den Zielländern weitere Zuwanderung ablehnt. Als Zeichen dafür wird der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien genannt, die ausländerfeindlich und rassistisch sind und massive Schritte gegen Einwanderung fordern. Tatsächlich zeigen Meinungsumfragen jedoch, dass die Stimmung gegenüber Zugewanderten sich in vielen Ländern gebessert hat und dass die Einstellungen insgesamt relativ stabil sind. Je mehr Erfahrungen Einheimische mit Zugewanderten sammeln, desto toleranter werden sie.
Beschränkungen der Einwanderung lösen das Problem nicht. Im Gegenteil: Drohende Gegenmaßnahmen lösen oft Einwanderungswellen aus oder halten Menschen davon ab, in ihre Heimatländer zurückzukehren, da sie befürchten, nicht wieder ins Gastland einreisen zu können. Offene Grenzen erlauben dagegen eine zirkuläre Migration, in der die Menschen immer wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren und die Zahl der Eingewanderten niedriger bleibt als unter restriktiven Bedingungen.
Migrant_innen werden oft als Opfer habgieriger und krimineller Schleuser dargestellt. Politiker_innen stellen den Kampf gegen Schleuser entsprechend als wichtigsten Hebel gegen Migration dar. Dabei ist es die Politik, die mit immer schärferen Grenzkontrollen den Schleusern erst ihr Geschäftsfeld eröffnet. Auch die Behauptung, es gäbe einen umfangreichen Menschenhandel und ein riesiges Ausmaß an moderner Sklaverei, ist stark übertrieben. Die meisten Menschen, vor allem Frauen, die sich auf „niedrige“ Arbeiten, auch als Sexarbeiterinnen, einlassen, tun dies freiwillig, um Geld für sich und ihre Familien zu verdienen.
In jüngerer Zeit wird ein neues Krisenszenario an die Wand gemalt: Der Klimawandel führe zu Umweltkatastrophen, die riesige Fluchtbewegungen in die reicheren Länder auslösen. In Wirklichkeit können die Menschen sich meist gut an wechselnde Umweltsituationen anpassen und fliehen bestenfalls kurzfristig in Regionen nahe ihrer bedrohten Heimat.
Weder vollständig offene Grenzen noch ein System befristeter Zuwanderung werden das Problem lösen. Stattdessen muss es darum gehen, die notwendige Zuwanderung auch gering qualifizierter Arbeitskräfte durch kluge Politiken beim Wohnungsbau, der Regulierung des Arbeitsmarktes und bei der Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates so zu lenken, dass alle Beteiligten davon profitieren.
Das Buch ist eine sehr gute Argumentationshilfe, um mehr Sachlichkeit in die Debatte zur Einwanderung zu bringen. Es entlarvt zahlreiche weit verbreitete falsche Ansichten zur Migration sowie zu ihren Ursachen und Folgen als schief oder falsch. Die analytische Schärfe wird allerdings nur selten von einer vertieften Diskussion alternativer Politiken begleitet. Es ist auch zu befürchten, dass die Ängste vieler Menschen durch die rationale und statistisch gut unterfütterte Argumentation allein nicht entkräftet werden. Aus Sicht der sozialen Demokratie überzeugt die Grundhaltung des Autors, der die tieferen Ursachen der Probleme in der kapitalistischen Wirtschaft und ihrem inhärenten Interesse an Ausbeutung sieht. Nur eine Politik, die die Interessen der Beschäftigten und der Gesellschaft insgesamt prioritär verfolgt, kann die Konflikte entschärfen oder lösen, die sich an der Migration entzünden.
Verlag: S. FischerErschienen: 25.10.2023Seiten: 512ISBN: 978-3-10-397534-5