Neue Interviewreihe: Solidarität in Zeiten der Krise

Ein Interview mit Prof. Dr. Gesine Schwan

Die COVID-19-Pandemie stellt uns aktuell vor große gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Herausforderungen. Um Menschenleben zu retten, sind Abstandhalten und Konktaktbeschränkungen wichtige Strategien. Welche Folgen hat dies für Demokratie und Beteiligung? Welche Bedeutung hat die Zivilgesellschaft in Krisenzeiten? Wie können wir jetzt als Gesellschaft, national und international solidarisch handeln?

In unserer Interviewreihe befragen wir Expert_innen aus Wissenschaft und Politik und beleuchten das Thema "Solidarität in Krisenzeiten" aus verschiedenen Perspektiven. Unsere zweite Interviewpartnerin ist Prof. Dr. Gesine Schwan.

Prof. Dr. Gesine Schwan ist Mitgründerin, Gesellschafterin und Präsidentin der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform. Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin und seit 2014 Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD.

MuP: Solidarität ist ein Schlüsselbegriff der aktuellen Krise. Doch wie ist es national und international um solidarisches Handeln bestellt? Was bedeutet Solidarität in Zeiten der Corona-Krise?

Schwan: In der Corona-Krise haben wir einerseits viele Beispiele freiwilliger solidarischer Hilfe unter der gemeinsamen Bedrohung durch das Corona-Virus erfahren – gegenseitige allgemeine Rücksichtnahme im Alltag, Angebote, für Gefährdete einkaufen zu gehen, bis zu dem (von Seiten der Bundeskanzlerin) unerwarteten Angebot Frankreichs und Deutschlands zur solidarischen Hilfe gegenüber den sozial und ökonomisch besonders gebeutelten europäischen Nachbarstaaten in Form von finanziellen Zuwendungen, um aus der Corona-Krise herauszufinden. Dabei wird die Solidaritätsgeste vom eigenen Interesse der Exportnation Deutschland unterstützt, Absatzmärkte für die eigenen Ausfuhren in das europäische Ausland zu sichern. Dies zeigt, dass authentische freiwillige Solidarität zwar nicht aus Berechnung geschieht, aber in der Regel durchaus im Einklang mit den wohlverstandenen (langfristigen) eigenen Interessen steht. Solidarität wird durch Berechnung unterminiert, aber sie „rechnet sich“. Logik und Psycho-Logik decken sich nicht immer.

Das ist in der internationalen Solidarität zwischen Staaten wichtig. Denn Staaten sind normalerweise nicht miteinander solidarisch wie Personen, sondern verfolgen die Interessen derer, die sie regieren. Wenn sie demokratisch legitimiert sind, ist ihre jeweilige Wählerschaft  selten positiv an den Geschicken der Menschen jenseits der nationalen Grenzen interessiert. Wenn verantwortliche Politiker_innen dennoch solidarisch entscheiden wollen, ist es gut, wenn sie an wohlverstandene eigene Interessen ihrer Wählerschaft appellieren können.

MuP: Solidarität ist neben Freiheit und Gerechtigkeit ein zentraler sozialdemokratischer Grundwert. Was verbirgt sich hinter dem Begriff  Solidarität im Sinne der sozialen Demokratie?

Schwan: Solidarität ist im Laufe der Geschichte in unterschiedlichen Formen in Erscheinung getreten. In der Tradition der Sozialdemokratie bezeichnet Solidarität zunächst das Füreinander-Einstehen von Mitgliedern der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie gegen die Ausbeutung in der kapitalistischen Wirtschaft und gegen politische Unterdrückung im Obrigkeitsstaat. Es ging also um das Zusammenstehen im politischen und sozialen Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit, aber auch um gegenseitige Hilfe in Fällen, wo Genossinnen und Genossen in unverschuldete Not geraten waren.

Solidarität geschieht in diesem Verständnis unter Gleichen. Sie unterscheidet sich von Barmherzigkeit dadurch, dass Hilfe nicht vom (sozial, ökonomisch oder politisch) Stärkeren gegenüber dem Schwächeren gewährt wird (Beispiel die Heilige Hedwig von Schlesien), ohne dass die Verhältnisse der Ungleichheit selbst verändert werden sollen, und dass sie nicht nur Individuen zuteilwird. Vielmehr geschieht sozialdemokratische Solidarität unter prinzipiell gleichen Bürger_innen, mit dem Anspruch, Ungleichheit als Ungerechtigkeit gemeinsam, insofern kollektiv zu überwinden – z.B. institutionell  durch Sozialversicherungen und politisch durch eine sozial fundierte Demokratie und einen substanziellen Rechtsstaat, der allen Zugang zu ihrem Recht verschafft. Auf Barmherzigkeit haben Bürger_innen keinen Anspruch, auf Solidarität haben sie Anspruch, sofern sie sich selbst solidarisch verhalten. Solidarität ist zwar kein Tauschgeschäft des „do ut des“ (ich gebe, damit Du (mir auch) gibst). Das wäre ein Marktverhalten. Aber Solidarität erwartet gegen Trittbrettfahrer_innen oder Schmarotzer_innen, dass gegenseitige Hilfe freiwillig und gerade dadurch verlässlich praktiziert wird.

MuP: Der ökonomische Wiederaufbau nach der Krise wird die europäische Gemeinschaft vor große Herausforderungen stellen. Wie kann ein europäischer solidarischer Neuanfang gelingen?

Schwan: Ein solidarischer Neuanfang in Europa sollte nicht nur Wirtschaft, Arbeit und soziale Sicherheit betreffen, aber diese drei Felder sind doch besonders wichtig. Hier ist es zunächst unabdingbar, sich theoretisch klar von der Wirtschaftspolitik des angebotsorientierten Neoliberalismus und von irreführenden Bildern wie dem der „schwäbischen Hausfrau“ zu verabschieden. Dieses letzte Bild hat viel Schaden angerichtet. Es setzt Einzelhaushalte von Privatpersonen mit staatlichen oder auch überstaatlichen Haushalten fälschlicherweise gleich. Wenn ein Einzelhaushalt kräftigt spart, kann das für ihn heilsam sein, wenn eine ganze Volkswirtschaft spart, zerstört sie ihre Wachstumspotenziale und ihre Erholung. Außerdem moralisiert das Bild Wirtschaftsprobleme sachwidrig. Die Entstehung von volkswirtschaftlichen Defiziten kann viele Ursachen haben, ebenso wie die von Überschüssen. Die Euro-Währung z.B. begünstigt Deutschland und benachteiligt die südeuropäischen Länder. Moralische Schuldzuweisungen zerstören Solidarität. Sie suggerieren, dass immer selbst schuld ist, wer in Schwierigkeiten gerät. Wer dann hilft, ist einfach töricht. Nationale Ökonomien müssen analytisch und nüchtern betrachtet werden, um zu Lösungen zu kommen, die möglichst allen in der Gesellschaft gerecht werden.

Darüber hinaus müssen die EU-Wirtschaftsentscheidungen viel transparenter und begründeter geschehen als bisher in den Black-Boxes des Europäischen Rates, des Ministerrates und der Eurogruppe. Hier wurde in der Euro-Krise durch Intransparenz und deutsche Dominanz viel Schindluder getrieben, Solidarität zerstört und Misstrauen gesät. Das muss sich radikal ändern. Solidarität und Gerechtigkeit sind auch ganz zentral eine Frage guter – transparenter und gemeinwohlorientierter – demokratischer Governance.

MuP: Wie kann Solidarität als handlungsleitendes Prinzip in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wieder neu belebt werden? Welche positiven Chancen sehen Sie in einer solidarischen Politik?

Schwan: In Fortsetzung des vorangegangenen Gedankens muss es auch in der Gestaltung der anstehenden Investitionen mehr Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger geben. Zwar brauchen wir Grundentscheidungen auf der Ebene der EU und der Nationalstaaten. Aber in der Einzelumsetzung braucht es die Expertise und das Engagement der Bürger_innen. Das ist – vereinbar mit den unverzichtbaren Prinzipien der repräsentativen Demokratie – vor allem auf der Ebene der Kommunen möglich. Die Kommunen haben unter der Corona-Krise heftig gelitten. Die Finanzen, die ihnen für die Erholung zukommen sollen, können nicht einfach für Ersatz-Investitionen verwendet werde. Sie müssen nachhaltig getätigt, d. h. nicht nur in Sachen Klimaerhalt und Energieerneuerung, sondern überhaupt im Sinne einer auch sozial gerechten und solidarischen Entwicklung – den 2030 Zielen, hier insbesondere von Ziel 11 – nachhaltig vorgenommen werden. Das gelingt am besten, wenn man in Städten und Kommunen „Kommunale Entwicklungsbeiräte“ einrichtet, in denen von Anfang an gewählte Vertreter (Stadtverordnete, demokratisch legitimierte Verwaltung) mit nicht gewählten „Laien“ (organisierte Zivilgesellschaft und Unternehmen) gemeinsam langfristige Entwicklungslinien erarbeiten, über die dann die Gewählten entscheiden. Wenn die Zusammenarbeit gleich zu Beginn der Entwicklungsüberlegungen geschieht, können Bürger_innen einen deutlichen Unterschied machen, ohne den „Gewählten“ in die Quere zu kommen. Damit entstehen in den Städten und Kommunen auch ein neuer sozialer Zusammenhalt, eine Stärkung der Demokratie und überdies ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, wenn den Kommunen die finanzielle Möglichkeit zu praktischen Netzwerken gegeben wird. So entstünde auch eine transnationale Grundlage von Bürger_innen-Solidarität, die es den nationalen Regierungen erleichtern würde, ihrerseits solidarisch zu entscheiden.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass national begrenzte Solidarität im Widerspruch zur internationalistischen Tradition der Sozialdemokratie steht. Sie schafft übrigens, das kann man aktuell unter der sozialdemokratischen Regierung in Dänemark beobachten,  auch im Land neue Ausgrenzungen. Wenn man einmal anfängt, Menschengruppen aus der Solidarität auszuschließen,  dann wird der Kreis derer, die in die Solidarität einbezogen werden, immer enger. Diese soziale Tendenz konnte man auch in der nationalsozialistischen sog. Volksgemeinschaft erkennen.

MuP: Welche Rolle kommt  der Zivilgesellschaft dabei zu? Was kann sie tun, um Solidarität zu stärken?

Schwan: Eine ganz entscheidende! Sowohl für die praktische Seite, z.B. bei der Hilfe für Geflüchtete und überhaupt bei der oft ehrenamtlichen Arbeit am sozialen Zusammenhalt. Hier ist inzwischen wieder auf der kommunalen Ebene auch oft eine gute Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und politischer Verwaltung entstanden.

Aber auch bei der Weiterentwicklung demokratischer Politik zu einer Good Governance, sowohl innerhalb der Staaten als auch grenzüberschreitend kommt der organisierten Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Die organisierte Zivilgesellschaft genießt, wenn sie gemeinwohlorientiert handelt, oft mehr Vertrauen als Parteien und etablierte Medien. Sie ist in ihrem Engagement nicht an kurzfristige Legislaturperioden und an politischen  Machterhalt oder -erwerb gebunden.  Sie kann leichter für innovative Politik werben ohne wahltaktische Vorbehalte und sie kann zusätzlich zum Parlament das „Monitoring“ politischer Prozesse übernehmen. Sie kann auch helfen, Blockaden zwischen politischen Gegnern zu überwinden.

Andererseits braucht sie zur Verstetigung ihrer Projekte demokratisch legitimierte Politik, sie braucht Parteien, Parlamente und Regierungen. Es geht also darum, die  Zusammenarbeit anzuregen  und dafür Unterstützung und eine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Eine große Herausforderung liegt im sog. Shrinking Space zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, sei es, weil zunehmend autoritäre Regime ihre Tätigkeit einschränken, sei es, dass ihnen die Finanzierung für ihre Aktivitäten fehlt. Da wir sie unbedingt – trotz all ihrer auch bekannten Defizite – für eine Good Governance , d.h. für eine solidarische und gerechte Politik ebenso wie zur Aufrechterhaltung oder zur Erstreitung politischer Freiheit brauchen, ist eine der dringlichsten nächsten Aufgaben, den Raum für die organisierte Zivilgesellschaft wieder zu erweitern und zu sichern.

Wir bedanken uns für das Interview!
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Bonn, 2020