Akademie für Soziale Demokratie

Nick Bostrom (2020): Die verwundbare Welt. Eine Hypothese. Berlin: Suhrkamp Verlag

Spezialausgabe zur Ringvorlesung
aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises
an Bundeskanzler Willy Brandt

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hans-Peter Schunk
Hans-Peter Schunk ist ist Doktorand am Seminar für Neueste Geschichte der Philipps-Universität Marburg.


buch|essenz

Kernaussagen

Unsere Welt ist verwundbar, potenziell droht sogar durch die fortschreitende technologische Entwicklung eine vollständige Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation. Nick Bostrom hält es für nicht unwahrscheinlich, dass in Zukunft durch technologische Errungenschaften selbst einzelne Individuen dazu befähigt wären, die gesamte Menschheit auszulöschen. Gleiches gilt sowohl für Staaten, die einen militärtechnologischen Vorsprung errungen haben, als auch für die unkontrollierten Folgen des Klimawandels oder einer noch unbekannten Technologie, deren zerstörerisches Potenzial heute nicht abzuschätzen ist. Lösungen sieht Bostrom für solche Szenarien lediglich in flächendeckender Überwachung und einer Global Governance.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Aus Sicht der Sozialen Demokratie ist es sinnvoll, über die Erhaltung des Weltfriedens und der menschlichen Sicherheit nachzudenken; in Anlehnung an Willy Brandts Entspannungspolitik, die sich im Rahmen der Mutual assured Destruction abspielte – einem bedrohlichen Untergangsszenario gemäß Bostroms Überlegungen.


buch|autor

Nick Bostrom, 1973 in Helsingborg geboren, ist ein schwedischer Philosoph an der Universität von Oxford, wo er das Future of Humanity Institute als Gründungsdirektor leitet. Von ihm sind über 200 Publikationen zu Bioethik und Technikfolgenabschätzung erschienen, wie beispielsweise die Bücher Superintelligence, Human Enhancement und Global Catastrophic Risks.


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buch|inhalt

Die „Verwundbare-Welt-Hypothese“

Nick Bostrom führt ein dramatisch zugespitztes Gedankenexperiment durch, bei dem er politische und technologische Erkenntnisse auf eine formallogische Ebene hebt. Er leitet dazu an, sich die menschliche Kreativität und den wissenschaftlichen Fortschritt wie ein Urnenmodell vorzustellen. Bei großen Erfindungen hat die Menschheit bisher immer weiße oder graue Kugeln gezogen. Weiße Kugeln stehen für positive Entwicklungen, während graue Kugeln Entwicklungen repräsentieren, die sowohl positive als auch negative Eigenschaften besitzen. In der Urne lauern jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schwarze Kugeln, die bei ihrer Entnahme zur vollständigen Zerstörung der menschlichen Zivilisation führen könnten. Dass bisher keine dieser schwarzen Kugel gezogen wurde, liegt daran, dass die Menschheit bisher Glück hatte.

Die verschiedenen Typen der Bedrohung

Bostrom kategorisiert solche Bedrohungen der Menschheit in einer sogenannten Schwachstellentypologie. Die erste Bedrohung – Typ-1 genannt – besteht gemäß seiner hypothetischen Betrachtung darin, dass sich jeder einzelne eine Atombombe zu Hause bauen könnte.

Man stelle sich einmal vor: Bei der Entdeckung der Kernspaltung wäre nicht ersichtlich geworden, dass es äußerst aufwendig ist, aus radioaktivem Material größere Mengen an Energie freizusetzen. Stattdessen wäre dies etwa mithilfe einiger Alltagsgegenstände und einem kleinen Stromimpuls möglich gewesen. Die Folgen wären katastrophal gewesen.

 Stellt man sich vor, dass bei der Entdeckung der Kernspaltung nicht ersichtlich geworden wäre, dass es äußerst aufwendig ist, aus radioaktivem Material größere Mengen an Energie freizusetzen, sondern dass dies etwa mithilfe einiger Alltagsgegenstände und einem kleinen Stromimpuls möglich gewesen wäre, wären die Folgen katastrophal gewesen. Zum einen wäre wohl das Wissen darüber rasch in den Umlauf geraten, zum anderen fänden sich stets einzelne Individuen (der „apokalyptische Rest“: Nihilisten, Revanchisten, Personen, die schlicht sehen wollen, was passiert), die einen solchen selbstgebauten atomaren Sprengkopf zünden würden.

Typ-2a stellt das Szenario eines „sicheren Erstschlags“ dar, bei dem mächtige Akteure wie Staaten einen militärtechnologischen Vorsprung vor ihren Widersachern errungen hätten. Bei der Benutzung dieser vermeintlich sicheren Technologie, könnte jedoch unerwartet die menschliche Zivilisation gefährdet werden.

Weiterhin in Betracht kommt Typ-2b, bei dem sich die Folgen des Klimawandels irgendwann zu einer Existenzbedrohung verdichtend potenzieren würden. Ausgelöst würde dies durch das Zusammenwirken von Individuen überall auf der Welt, die zu ihrem eigenen Nutzen das Schadenspotenzial neuer Technologien ignorieren.

Die letzte große Bedrohung – Typ-0 – wird beschrieben als eine „überraschend seltsame Materie“. Sie ist gleichsam eine Wildcard für eine beliebige Technologie, die ein verstecktes Risiko beinhaltet, sodass ihre Entdeckung zu einer unbeabsichtigten zivilisatorischen Verwüstung führen würde. Anschaulich dargestellt wird der letzte Fall etwa durch das Entstehen eines schwarzen Lochs aufgrund falscher Kalkulationen bei einem Teilchenbeschleuniger.

Der allgemeine Verzicht auf technologischen Fortschritt ist keine wirkliche Option, jedoch wären bei riskanter Forschung begrenzte Einschränkungen erfinderischer Tätigkeiten durchaus sinnvoll. Nicht alles, was machbar ist, muss auch erforscht werden respektive sofort erforscht werden. Mitunter spielt auch die Reihenfolge von Erfindungen eine bedeutende Rolle, bei der etwa idealerweise eine schützende vor der schädlichen Technologie entwickelt wird. Explizit zu fördern wären zudem Technologien, die vorwiegend schützen, indem sie etwa eine effizientere Überwachung von Krankheitsausbrüchen ermöglichen.

Insbesondere die unbeschränkte Entwicklung biosynthetischer Stoffe birgt Gefahren. Vorstellbar ist, dass es durch die Entwicklung eines geeigneten Stoffs für einen Durchschnittsmenschen möglich wäre, rund eine Million Menschen zu töten. Mithin wäre es dann genauso wahrscheinlich, dass damit auch gezielt eine Milliarde oder die ganze Menschheit ausgelöscht werden könnte.

Neben der Beeinflussung der Richtung der Forschung gäbe es weitere mögliche Maßnahmen, solche zivilisatorischen Schwachstellen zu schließen. Zu diesen zählen das Verhindern der Ausbreitung gefährlicher Informationen, das Einschränken des Zugangs zu erforderlichen Geräten und Materialien samt weitreichenden Backgroundchecks für Mitarbeitende im biotechnischen Bereich. Weitere Maßnahmen wären, das Abschrecken potenzieller Übeltäter durch hohe Strafen und das Schaffen von Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen, die Versuche zur Durchführung einer destruktiven Handlung vereiteln könnten.

Lösung durch Stabilisierung des „semi-anarchischen“ Zustands

Um den verschiedenen Schwachstellentypen entgehen zu können, gilt es, einen sicheren Zustand zu erreichen. Derzeit verweilt die Welt noch in einem „semi-anarchischen“ Ausgangszustand. Stabilisierungsmöglichkeiten, die zu ergreifen wären, sind neben der Beschränkung der technologischen Entwicklung vor allem der Aufbau eines äußerst effektiven, präventiven Polizeiapparats und das Etablieren einer effektiven Global Governance.

Zur sicheren Stabilisierung des „semi-anarchischen“ Zustands braucht es insbesondere für Typ-1-Schwachstellen eine präventive Polizeiarbeit. Durch einen ausgeprägten Überwachungsapparat könnten Staaten ihre Bürger_innen genug kontrollieren, um jede Person ausfindig zu machen, die einen Akt der Massenvernichtung vorbereitet.

Vorgesehen wäre ein „High-Tech-Panoptikum“, bei dem alle Bürger_innen ein „Freiheitskettchen“ (eine Hightech-Fußfessel um den Hals) tragen würden, ausgestattet mit ausreichend Kameras und Mikrofonen. Mithilfe von KI-Algorithmen könnten durch das Hochladen von Daten in eine Cloud die Tätigkeiten klassifiziert werden. Drohnen oder schnelle Einsatzgruppen könnten dann bei potenzieller Gefahr rasch handeln.

Durch anspruchsvolle Maßnahmen wie Verpixelungen soll der Schutz der Privatsphäre gewährleistet werden. Für weniger als ein Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts könnte bei niedrigen Betriebskosten die gesamte Weltbevölkerung allumfassend in Echtzeit überwacht werden. Eine präventive Inhaftierung potentieller Straftäter wäre ebenfalls vorstellbar, wenn sie von einer Global-Governance-Institution kontrolliert werden. Die Global Governance entspräche gleichsam einer Art Weltregierung. Diese wäre insbesondere bei den anderen Schwachstellentypen notwendig.

Bei Schwachstelle Typ-2a würden Institutionen zur Inspektion eingerichtet werden, die verhindern, dass es zu einem „sicheren Erstschlag“ kommen könnte, falls sich die Staaten nicht auf eine Verschrottung der Atomwaffen einigen. Eine Global-Governance-Institution könnte überdies zur Abschreckung selbst ein Atomwaffenarsenal in Reserve halten.

Bei einer Pandemie wären Staaten angewiesen und gezwungen, ihre Bürger_innen mithilfe ausgefeilter Mechanismen zu überwachen. Weiterhin sollte gemäß der Typ-2b-Schwachstelle die Global Governance die Staaten dazu veranlassen, auf einzelne Akteure derart einzuwirken, dass diese nicht ohne Eigeneinsatz von den kostspieligen Klimaschutzmaßnahmen anderer profitieren.


buch|votum

Bostroms Ausführungen sind fortschrittsskeptisch und latent apokalyptisch. Seine Typologie erscheint manchmal konfus und ist auch teils steril formuliert, zudem sind seine Abgrenzungen nicht immer eindeutig. Zwar benennt er einige Nachteile seiner Lösungsansätze, wie etwa, dass despotische Regime die Kontrollmechanismen zur Unterdrückung nutzen könnten. Dennoch wirken einige seiner Vorschläge aus heutiger Sicht sehr befremdlich, trotz des Rahmens des Gedankenspiels.

Historische und gesellschaftliche Umstände der Technologie werden nicht in den Blick genommen. Freiheitsrechte seien in einer Welt, in der die totale Vernichtung droht, schließlich nicht der höchste Wert. Verdienst seines sehr kurzen Buchs (im Englischen ist es ein Aufsatz) ist es hingegen, für eine Sensibilisierung unhinterfragten Fortschritts zu werben sowie ein intensiveres Bewusstsein der Verwundbarkeit der menschlichen Existenz. Auch könnte das Nachdenken über eine verstärkte internationale Zusammenarbeit im Sinne seiner Global Governance ein Ansatz sein, zwischenstaatlichen Wettbewerb abzubauen und ein Klima des Vertrauens zu schaffen.

Einzelne von Bostrom aufgeworfene Aspekte wie sein Werben für die vollständige Verschrottung aller Atomwaffen dürften sicherlich im Sinne der Sozialen Demokratie sein und deren Vision von einer friedlichen Welt. Eine allumfassende Überwachung zur Gewährleistung absoluter Sicherheit zu Lasten grundlegender Freiheiten, wie es heute bereits in China zu beobachten ist, widerstrebt jedoch der Sozialen Demokratie und ihren traditionellen Vorstellungen von einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 20.07.2020
Seiten: 112
ISBN:978-3-518-58754-6

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