Akademie für Soziale Demokratie

Ivan Krastev (2020): Europadämmerung. Ein Essay. Berlin: Suhrkamp Verlag

Spezialausgabe zur Ringvorlesung
aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises
an Bundeskanzler Willy Brandt

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Kurzgefasst und eingeordnet von Stephan Schmauke
Dr. phil. Stephan Schmauke ist Philosoph, freier Wissenschaftsautor und Dozent, leitet seit 2012 interdisziplinäre Seminare der Promotionsförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung.


buch|essenz

Kernaussagen

Ivan Krastevs Essay Europadämmerung analysiert die Krise der Europäischen Union nicht aus ökonomischer Perspektive oder von der Warte der politischen Theorie. Er stellt vielmehr zwei konkrete Fragen in den Mittelpunkt:

  • In welcher Weise hat die seit 2015 bestehende Flüchtlingskrise die europäische Gesellschaft verändert? Und:
  • Warum verachten große Teile der EU-Bürger_innen die Brüsseler Eliten?

Der Schlüssel zum Verständnis seiner Antworten auf diese Fragen liegt in seiner osteuropäischen Perspektive. Im Kern geht es ihm darum, die drohende Spaltung der Europäischen Union in ein (westliches) Kerneuropa und osteuropäische Abtrünnige abzuwehren. Die Gefahr der europäischen Desintegration sieht er weniger darin, dass sich etwa Polen und Ungarn – die sogenannten illiberalen Demokratien – von der Union abwenden, sondern vielmehr darin, dass die Bereitschaft der liberalen Demokratien schwindet, diese Staaten weiterhin in die Union zu integrieren.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Ansatzpunkte für eine an der sozialen Demokratie orientierte Politik gibt es in Krastevs Essay gleich mehrere:

  • die ideologische Leere, die nach dem Ende der Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus entstanden ist – sowie das Unvermögen des Liberalismus, sie zu füllen;
  • die Skepsis Mittel- und Osteuropas gegenüber kosmopolitischen, multikulturalistischen und globalisierungsoffenen Politikansätzen;
  • die Auseinandersetzung mit Gründen für das Erstarken des Rechtspopulismus.

buch|autor

Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, ist Politologe und Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Aktiv als Publizist und Politikberater schreibt er unter anderem für die Zeitschrift die Zeitschrift Transit – Europäische Revue und die New York Times. 2020 bekam er den Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik.


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Europa in der Krise: Explosion oder Erosion?

Auch wenn er den Essay mit einer Reminiszenz an das Ende der Habsburger Monarchie einleitet, ist Krastev nicht der Meinung, dass Europa mit einem Knall auseinanderspringen wird. Trotz des Brexits sieht er auch nicht die Gefahr, dass sich weitere Teile der Peripherie vom europäischen Zentrum – das für ihn ganz klar aus Frankreich und Deutschland besteht – abspalten werden. Die Gefahr sieht er eher als eine fortgesetzte Funktionsstörung der europäischen Institutionen, die zur Folge haben könnte, dass das Zentrum gegen die Peripherie rebelliert. Europa wird am Ende sein, wenn Frankreich und Deutschland Teile Osteuropas nicht mehr in der Union haben wollen.

Europa – eine „Idee auf der Suche nach einer Realität“

Was hat die EU bisher zusammengehalten? War es die Sorge, einen zukünftigen Krieg zwischen europäischen Nationalstaaten unmöglich zu machen? War es das geostrategische Interesse der USA, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion offensichtlich nicht mehr als besonders dringlich angesehen wird? War es das Sozialstaatsmodell, mit dem Europa einen besonderen Akzent innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft setzen konnte, das sich aber heute in der Krise befindet?

Jedenfalls stammen die Legitimationserzählungen des Modells Europa aus der Zeit des Kalten Krieges und galten ohnehin nur für den westlichen Teil Europas. Sie sind durch die geopolitische Veränderungen seit 1989 und die Globalisierung der Märkte in den Neunzigern obsolet geworden. Die europäische Idee der Universalität der Menschenrechte, verbunden mit dem Modell des (sozial-)liberalen Wohlfahrtstaats war das europäische Erfolgsmodell – und dessen Strahlkraft ist vergangen. Nach Europa– so die wortgetreue Übersetzung des Originaltitels von Krastevs Essay – bedeutet nicht, dass die Europäische Union zerbricht, sondern deutet darauf, dass Europa kein weltweites politisches Vorbild mehr ist, dass der politische Einfluss Europas in der Welt gering ist und dass die europäischen Bürger_innen die Zuversicht verloren haben, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte.

Weltweite Migrationsbewegungen als Herausforderung an den europäischen Zusammenhalt

Krastev verwendet die Ausdrücke „Migrationskrise“ und „Flüchtlingskrise“ synonym, um auf die zentrale Bedeutung der weltweiten Migrationsbewegung für das europäische Selbstverständnis aufmerksam zu machen, die in der „Flüchtlingskrise“ 2015 nur ihren ersten medienwirksamen Höhepunkt hatte: „Seit dem Fall der Berliner Mauer, der als Vorbote einer offenen Welt empfunden wurde, hat Europa 1200 Kilometer Grenzzäune errichtet oder zu errichten begonnen, die andere fernhalten sollen. […] Die Flüchtlingskrise erweist sich als Europas 11. September.“ Flüchtende, die in ihrem Heimatland von Verfolgung bedroht sind oder in deren Heimat Krieg herrscht, machen ja nur einen Teil der weltweiten Migrationsbewegung aus. Die meisten Migrant_innen suchen sich Europa nicht aus ideologischen Gründen als Zielort aus, sondern um der Armut in ihren Heimatländern zu entkommen: „Der Weg in die Europäische Union ist heute attraktiver als jede Utopie. Für viele ‚Verdammte dieser Erde‘ bedeutet Veränderung heute, wegzugehen und das Land zu wechseln, anstatt zu bleiben und die Regierung auszuwechseln.“

Das Entscheidende ist nun, dass die Reaktionen auf die Herausforderung der weltweiten Migrationsbewegung innerhalb der europäischen Politik unterschiedlich ausfallen: Im Westen gehen die Regierungen im Großen und Ganzen tolerant mit der Migration um, obwohl sie sich natürlich auch rechtspopulistischer Bewegungen erwehren müssen, die sich der Flüchtlingskrise als Agitationsmittel bedienen. Hingegen befürchten mittel- und osteuropäische Regierungen in offenbarer Übereinkunft mit der Wählermehrheit eine „Invasion der Barbaren“ und empfinden dies als existenzielle Bedrohung.

Die osteuropäische Perspektive

Dies gilt es zu verstehen. Zunächst muss es befremden, warum die Ressentiments gegen Flüchtende in den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes ungleich stärker ausgeprägt sind als im Westen: Erstens haben sie je eigene Auswanderungstraditionen, sodass sie für die Sorgen und Nöte von Migrant_innen aufgeschlossener sein sollten; zweitens sind die absoluten Zahlen von Migrant_innen in den mittel- und osteuropäischen Ländern niedrig; und drittens schließlich würde ihre demografische und wirtschaftliche Lage es geradezu erfordern, Migrant_innen in großem Maßstab aufzunehmen.

Der erste Erklärungsansatz Krastevs besteht im Hinweis auf das stark ausgeprägte osteuropäische Geschichtsbewusstsein. Beispiel Polen: Zwischen den Kriegen war Polen eine multikulturelle Gesellschaft, heute ist Polen eine der „ethnisch homogensten Gesellschaften der Welt“. Multikulturalismus erscheint vor dieser Faktenlage als Erinnerung an dunkle Zeiten.

Ein weiterer Ansatz ist die osteuropäische Übernahme der französischen zentralistischen Staatsidee zusammen mit der deutschen Auffassung von Nation, die auf der Abstammung gründet. Andersherum wäre es vielleicht besser gewesen: eine föderalistische Struktur des Staates, verbunden mit dem Konzept, dass sich die Nation durch die Loyalität zu den republikanischen Institutionen gründet.

In diesem Zusammenhang spielt das historische Erbe des Kommunismus wie auch dessen Zusammenbruch eine große Rolle: „Mitteleuropa ist Weltmeister im Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.“ Während kosmopolitisches Denken nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wie ein Befreiungsschlag wirkte, empfanden die Menschen im Stalinismus Internationalität eher als oktroyierte Zwangsmaßnahme: „In Westeuropa symbolisiert 1968 das Engagement für kosmopolitische Werte, während dieses Jahr im Osten für die Wiedergeburt nationaler Gefühle steht.“ Während nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Politiker wie Václav Havel die europäische Integration vorantrieben, wird der Duck zur Übernahme europäischer Normen und Institutionen von der gegenwärtigen Politikergeneration eher als nationale Demütigung aufgefasst. Und damit stehen sie den Bürger_innen nicht unbedingt fern. Beispiel Bulgarien: Hier findet seit Jahren eine Massenemigration in den Westen statt, die nicht nur den bulgarischen Arbeitsmarkt erschüttert, sondern auch für einen Abfluss der Intelligenzia sorgt: Es ist „einfacher, nach Deutschland zu gehen, als dafür zu sorgen, dass Bulgarien wie Deutschland funktioniert.“

Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass vor allem die mittel- und osteuropäische Landbevölkerung angesichts der eigenen Marginalisierung in der Migration eine Bedrohung ihrer ethnischen Identität zu sehen vermag. „Die Spaltung zwischen dem Westen und dem Osten Europas in den Einstellungen zu Diversität und Migration hat große Ähnlichkeit mit der Spaltung zwischen den kosmopolitischen Großstädten und ländlichen Gebieten innerhalb der westlichen Gesellschaften.“ Schließlich gibt es auch einschlägige osteuropäische Erfahrung mit gescheiterten Integrationsversuchen. Krastev bezieht sich dabei auf die problematische Geschichte der Roma.

Die Verachtung der Brüsseler Eliten

„Sie, das Volk“ – diese verfremdende Wendung des Slogans „Wir sind das Volk!“ weist auf das Thema des zweiten großen Abschnitts von Krastevs Buch hin: Die Perspektive des europäischen politischen Establishments, dem die zu Regierenden scheinbar fremd geworden sind. Den Auftakt macht eine Rekapitulation der Geschehnisse rund um den drohenden Staatsbankrott Griechenlands, der zunächst zur Abwahl des griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou führte, dann zum kurzen Kampf von Alexis Tsipras' Syriza-Partei gegen das austeritätspolitische Diktat der „Troika“, bestehend aus IWF, Europäischer Zentralbank und der Europäischen Kommission, und schließlich mit einer Niederlage von Tsipras endete, der die harten Sparauflagen akzeptieren musste.

„Die zeitweilige Lösung der Griechenlandkrise war in einem fundamentalen Punkt lehrreich. Wenn die gemeinsame europäische Währung überleben soll, muss den Wählern der Schuldnerstaaten das Recht zu einem Kurswechsel in ihrer Wirtschaftspolitik genommen werden, auch wenn sie durchaus das Recht behalten, ihre Regierung auszuwechseln.“

Die harte Haltung der „Troika“ gegenüber Griechenland erklärt sich zum Teil aus dem Dilemma, weder den griechischen Staatsbankrott zulassen, noch ein Signal an andere europäische Staaten senden zu wollen, indem man Tsipras Zugeständnisse gemacht hätte. Die drakonischen Bedingungen der Neuorganisation des griechischen Staatshaushaltes hatten ihr Drohpotenzial in Richtung anderer populistischer Regierungen bewiesen. „Aber hat der Sieg der ökonomischen Vernunft über den Willen der [griechischen] Wähler einen Beitrag zum Überleben der Union geleistet? […] Statt dass Brüssel den Glanz eines gemeinsamen europäischen Heims symbolisiere, steht die Hauptstadt der EU längst für die unkontrollierte Macht der Märkte und die zerstörerische Kraft der Globalisierung.“

Warum hassen (oder verachten) Europas Bürger die Europapolitiker? Brüsseler Politiker gelten als meritokratische Elite, die als solche die unangenehme Eigenschaft hat, alle auszuschließen, die es nicht „verdient“ haben, in ihren Kreis aufzusteigen. „Meritokratie“ ist ein vom Soziologen Michael Young geprägter Begriff, der von Anfang an davor warnte, dass eine meritokratische Rechtfertigung von gesellschaftlicher Ungleichheit dazu tendiert, diese Ungleichheit, da an „Verdienst“ und „Leistungsfähigkeit“ gekoppelt, zu zementieren. Krastev vergleicht die Meritokraten mit den hochbezahlten Stars im internationalen Fußball: Die Vereine kaufen sie ein, um zu gewinnen, aber die Fans bedauern sie nicht, wenn sie verlieren.

Eine Erklärung für die wachsende Illiberalität vor allem mittel- und osteuropäischer Staaten ist das Gefühl ihrer Bürger, zu bedrohten Mehrheiten zu gehören: „Der eigentliche Reiz der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie nicht nur das Privateigentum und das Recht der politischen Mehrheit, die Regierung zu stellen, sondern auch das Recht der Minderheiten schützt und sicherstellt, dass die Wahlverlierer bei den nächsten Wahlen erneut antreten können und nicht ins Exil oder in den Untergrund gehen müssen, während die Sieger ihren Besitz konfiszieren.“

Der von liberalen Demokratien garantierte Minderheitenschutz wird in Osteuropa als Instrument zur Entmächtigung politischer, ethnischer und religiöser Mehrheiten empfunden. „Populistische und radikale Parteien […] versprechen ihren Wählern etwas, das in der liberalen Demokratie ausgeschlossen ist: das Gefühl eines Siegs, der es den Mehrheiten […] erlaubt, nun zu tun, was ihnen gefällt.“

Ausblick: Annäherung von West und Ost als Demonstration der Überlebensfähigkeit der EU

Die Probleme Osteuropas zu ignorieren wird der Europäischen Union nicht guttun. Statt auf ideologische Konfrontation mit den Regierungen zu setzten, wirbt Krastev für einen verständnisvollen Umgang mit den Sorgen und Nöten der osteuropäischen Bürger_innen: „Nur Kompromissbereitschaft wird die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens der EU erhöhen. Wenn uns die Union am Herzen liegt, sollten wir der Versöhnung die höchste Priorität einräumen. Die EU sollte nicht versuchen, ihre zahlreichen Feinde zu besiegen, sondern sie zu erschöpfen und dabei auch gelegentlich auch Teile ihrer Politik (einschließlich der Forderung nach gut geschützten Außengrenzen) und sogar einige ihrer Einstellungen zu übernehmen (freier Handel ist nicht immer ein Win-win-Spiel). Linear ist der Fortschritt nur in schlechten Geschichtsbüchern.“


buch|votum

Die Lektüre Krastevs ist immer dann besonders produktiv, wenn er sich auf die unterschiedlichen Sichtweisen der Bürger_innen Ost- und Westeuropas bezieht bzw. den osteuropäischen Standpunkt jenseits des Stereotyps der „illiberalen Demokratien“ deutlich zu machen versucht. Denn es wäre viel zu einfach, den Osteuropäern vorzuwerfen, sie hätten wegen der kommunistischen Vergangenheit immer noch Defizite an gelebter Demokratie und würden deswegen viel eher dem Rechtspopulismus zuneigen als die Bürger_innen westeuropäischer Staaten. (Immerhin schaffen es die Wähler_innen der meisten westeuropäischen Staaten bisher noch, wenigstens eine rechtspopulistische Regierung zu verhindern.)

Dass politische Parteien im Spektrum der sozialen Demokratie in ganz Europa seit der Integration neoliberaler Positionen an Wählerakzeptanz verloren haben, ist ja kein Geheimnis. Dass Teile ihrer Wählerschaft massiv ins rechtspopulistische Lager abgewandert sind, ist ein Trend, der zumindest aufgehalten werden könnte. Dafür reicht es aber nicht, sie als illiberal oder als autoritäre Charaktere abzustempeln, vielmehr sollte man sich ihre Sorgen und Nöte bewusst machen. Und Krastevs Essay bietet dazu einen um Verständnis werbenden Ansatz. 

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 03.02.2020
Seiten: 143
ISBN:978-3-518-12712-4

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