Barrierefreiheit in Non-Profit-Organisationen

Ein Interview mit Silke Georgi

 

 

Silke Georgi ist Projektleiterin von JOBinklusive, einem Projekt des Sozialhelden e.V. Mit ihren Kolleg*innen setzt sie sich dafür ein, mehr Menschen mit Behinderung den Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Mit Workshops, Vorträgen, praktischen Tipps und einem großen Netzwerk unterstützt sie Arbeitgeber*innen, die Menschen mit Behinderung einstellen wollen.

MuP: Silke Georgi, Sie leiten das Projekt JOBinklusive bei den Sozialheld*innen e.V. Um was genau geht es dabei?

Silke Georgi: Bei JOBinklusive geht es zum einen darum, mehr Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu bekommen und Unternehmen und Organisationen zu sensibilisieren. Dabei beschäftigen wir uns beispielsweise mit den Fragen: Wie kann man Menschen mit Behinderungen erreichen? Wie können wir unsere Stellenanzeigen inklusiver verfassen? Arbeitgebende, die gerne Menschen mit Behinderung einstellen wollen, sagen ganz oft, dass sich niemand bewirbt und sie nicht wissen, wie sie Menschen mit Behinderungen finden sollen. Und die Menschen mit Behinderung sagen uns, dass sie viele Bewerbungen schicken, nie eine Antwort erhalten und nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Was verhindert, dass beide Seiten zueinander finden? Wenn wir uns die Arbeitgebenden-Seite ansehen, gibt es bestimmte Ausschluss-Verfahren oder sogar KI-Algorithmen, die Menschen mit Behinderungen nicht berücksichtigen. Das können beispielsweise Rechtschreibfehler oder Lücken im Lebenslauf sein, die aufgrund einer Behinderung erklärbar sind. Viele behinderte Menschen haben keine traditionellen Berufskarrieren und fallen deshalb aus dem gängigen Bewerbungssystem. Hier werden Menschen mit Behinderungen schnell aussortiert, da sie oft in Förderschulen oder in Berufsbildungswerken lernen und dadurch nicht dieselbe Art Ausbildung vorweisen können und so nicht die gleichen Chancen haben. Hier unterstützen wir die Parteien dabei, zueinander zu finden.

Weiter beraten wir dazu, wie Unternehmenskultur so verändert werden kann, dass Menschen mit Behinderungen mitgedacht und angesprochen werden, z.B. wenn sie auf eine Webseite kommen mit Stockfotos von wunderschönen Menschen in einer wunderschönen Welt. Wir arbeiten mit Stiftungen, kleinen Vereinen, großen multinationalen Unternehmen, Start Ups und anderen Projekten zusammen, geben Workshops, Trainings oder halten Vorträge. Zu uns kommen auch Vereine, denen aufgefallen ist, dass ihre Angebote von Menschen mit Behinderungen nicht in Anspruch genommen werden und die das ändern wollen. Was müssen wir beachten, wenn wir eine barrierefreie Veranstaltung planen? Hier unterstützen wir u.a. mit Checklisten und Ortsbegehungen. Wir bieten auch Grundsensibilisierungen an. Ableismus als Diskriminierungsform ist immer noch vielen Menschen kein Begriff.

MuP: Wenn wir auf den Non-Profit-Sektor schauen, wie steht es hier um die Barrierefreiheit? Können sich Menschen mit Behinderung hier hauptamtlich und ehrenamtlich engagieren und die Angebote nutzen? Können sie Angebote mitgestalten?

Silke Georgi: Es gibt sehr viel Interesse und Offenheit, Menschen mit Behinderung einzustellen. Inklusion und Diversität haben bei den Organisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, einen hohen Wert und das wird immer mehr. Wir beobachten, dass in den letzten Jahren immer mehr das Bewusstsein dafür wächst, dass Behinderung ein Vielfaltsmerkmal ist und die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen eben auch systemisch ist. Es gibt ein großes Interesse, sich zu öffnen. Die Organisationen und die Menschen dahinter, die zu uns kommen, sind sehr offen und reflektiert. Sie wissen, dass sie vieles nicht wissen und möchten damit offen umgehen. Aber Inklusion ist eben auch ein Prozess. Es ist schwierig von heute auf morgen Menschen mit Behinderungen einzustellen, wenn das Unternehmen nicht weiß, wie man miteinander umgehen soll. Es gibt viele Berührungsängste und auch Hürden, beispielsweise wenn eine Software nicht für blinde Menschen geeignet ist.

Viele gesellschaftliche Strukturen führen immer noch zu einer Separation, z.B. wenn wir von „Wir“, also den nicht behinderten Menschen und „Sie“, den Menschen mit Behinderungen, sprechen oder Mitleid in den Äußerungen über Menschen mit Behinderungen mitschwingt. Dabei hat ein Zehntel unserer Bevölkerung eine Behinderung. Wir werden als Gesellschaft immer älter und werden dadurch auch immer mehr Behinderungen erwerben. Nur drei Prozent der Behinderungen sind angeboren, den Rest erwirbt man im Laufe des Lebens. Das Thema betrifft uns also alle, zumindest wenn wir älter werden. Vielleicht sind auch deswegen die Berührungsängste so groß – weil es so nah dran ist. Jede*r von uns kann irgendwann zu dieser marginalisierten Personengruppe gehören. Das schieben viele Menschen gerne weg, weil wir uns ungern mit unserer eigenen Verletzlichkeit auseinandersetzen. 

MuP: Non-Profit-Organisationen werden von den aktuellen Gesetzen zum Barriereabbau oft nicht erfasst. Warum sollten sich Organisationen hier eigeninitiativ auf den Weg machen?

Silke Georgi: Die Idee von Non-Profit-Organisationen ist doch oft die, dort einzuspringen, wo die Gesetze, die Gesellschaft und die Politik noch nicht genug tun. Unser Gründer, Raúl Krauthausen, sagt immer: „Auch Menschen ohne Behinderung haben das Recht, mit Menschen mit Behinderung in Kontakt zu kommen.“ Wenn wir die Perspektiven von einem Zehntel der Bevölkerung ausblenden, entgeht uns eine Menge und vielleicht machen wir dann unsere Arbeit nicht gut genug.

Non-Profit-Organisationen haben hier eine ganz interessante Stellung, weil sie oft zu klein sind oder eine Rechtsform haben, auf die viele Gesetze nicht anwendbar sind. Da bleibt dann nur eine moralische Selbstverpflichtung. Wenn wir aber Kolleg*innen mit Behinderungen im Team haben, kommen neue Perspektiven dazu. Denn bei allen unseren Themen, ob Gesellschaftskritik, Einwanderung, Klimabewegung - überall müssen wir Menschen mit Behinderungen mit einbeziehen. Durch die Klimasituation z.B. werden schließlich auch viele Behinderungen entstehen. Ohne den Abbau von Barrieren ignorieren wir einfach einen großen Teil der Gesellschaft. Der Abbau von Barrieren ist ein moralisches Muss, ein Menschenrecht, so dass alle berücksichtigt werden, teilhaben können und ihre Stimmen gehört werden.

MuP: Was sind die größten Herausforderungen für den Non-Profit-Bereich, wenn es um Inklusion oder Barrierefreiheit geht?

Silke Georgi: Die größte Herausforderung ist, die eigenen unbewussten Vorurteile und Berührungsängste anzugehen. Und wir alle haben Berührungsängste. Viele Menschen fühlen sich unsicher, wenn jemand reinkommt, der oder die blind ist. Wenn jemand einen Sprachfehler hat, werden alle nervös. Und das muss ich mir erstmal bewusst machen: Diese Person spricht, ich verstehe sie nicht richtig und werde nervös. Was läuft da bei mir gerade ab? Warum fühle ich jetzt diesen Stress? Kann ich mir vorstellen, mit einer Kollegin mit einer kognitiven Behinderung zu arbeiten? Oder gehe ich davon aus, dass für sie eine Behindertenwerkstatt besser ist? Checklisten, Software, Screenreader – all das können wir liefern. Aber die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen ist die eigentliche Arbeit. Hier muss ein Anfang geschaffen und die erste Person in die Organisation geholt werden. Durch diese täglichen, alltäglichen Begegnungen lernen wir alle am meisten und dadurch bauen sich Berührungsängste ab. Es ist so einfach und es ist gleichzeitig so schwierig.

MuP: Durch die Corona-Pandemie wurden viele Angebote und Aktivitäten ins Digitale verlegt. Hat sich dadurch etwas an den Barrieren im Non-Profit-Bereich verändert?

Silke Georgi: Ja, für viele Menschen, mit und ohne Behinderung, hat die Pandemie in diesem Sinne auch positive Auswirkungen gehabt und zu mehr Teilhabe geführt. Für die, die einen guten Internetzugang haben, die richtigen Geräte zu Hause haben und die wissen, wie man diese benutzt, hat das ganz viele Möglichkeiten eröffnet. Die ganze Reisezeit ist weggefallen, die Logistik drum herum und der Assistenzbedarf beim Reisen. Da haben sich für viele Menschen ganz neue Möglichkeiten ergeben. Auch für manche Arbeitgeber*innen ist es nun einfacher, schließlich müssen so keine barrierefreien Arbeitsplätze mehr eingerichtet werden. Das birgt natürlich auch die Gefahr, dass nun generell keine barrierefreien Arbeitsplätze vor Ort angeboten werden, keine entsprechende Software angeschafft wird und wieder eine Kluft entsteht zwischen den Menschen mit Behinderung, die im Homeoffice arbeiten und den Menschen ohne Behinderung, die sich im Büro treffen und dort natürlich ein ganz anderes Teamgefühl entwickeln können. Dem muss entgegengewirkt und andere Austauschmöglichkeiten geschaffen werden. Und natürlich dürfen auch Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht vergessen werden, die vielleicht nicht so internetaffin sind.

Interessant ist ja auch, dass Menschen mit Behinderungen vor der Pandemie immer Home-Office-Möglichkeiten gefordert haben. Da gab es immer viele Gründe, warum das nicht ging. Und dann plötzlich über Nacht war es auf der ganzen Welt möglich. Und es hat ja für die meisten richtig gut funktioniert. Es ist ganz oft so, dass Dinge, die Menschen mit Behinderung oder anderen marginalisierten Gruppen zugutekommen, letztlich uns allen zugutekommen. Ob es jetzt beispielsweise Untertitel bei YouTube-Videos sind oder E-Mails – beides war zunächst gedacht für gehörlose Menschen. Nun können wir uns diese "Hilfsmittel" nicht alle nicht mehr aus unserem Alltag mehr wegdenken. Auch Bordsteinabsenkungen auf der Straße finden wir alle gut, wenn wir mit dem Kinderwagen oder mit dem Fahrrad unterwegs sind. Und so ist es eben auch mit Online-Videokonferenzen. Die Tools hierfür haben sich rasant verändert. Die wurden im Laufe der Pandemie immer barrierefreier. Aber auch hier gibt es eben wieder zwei Seiten: Werden Menschen durch diese Möglichkeiten an anderen Stellen wieder systematisch ausgegrenzt oder hole ich sie beispielsweise bei hybriden Veranstaltungen auch immer wieder dazu und sorge ich für Gebärdensprachdolmetschung?

MuP: Was können wir aus der Zeit der Pandemie mitnehmen und was sollten wir im Non-Profit-Bereich daraus lernen und vielleicht auch zukünftig anders machen? 

Silke Georgi: Das große Thema Homeoffice sollten wir auf jeden Fall mitnehmen. Es gibt Menschen, die nicht anders am Arbeitsleben teilnehmen können, weil sie z.B. vom Bett aus arbeiten. Und es gibt auch neurodivergente Menschen, für die gerade diese Distanz besonders positiv ist, im eigenen Zuhause zu sein, ohne viele Menschen. Und das ist ja auch okay, wenn das der eigene Wunsch ist. Trotzdem müssen wir aufpassen, dass wir uns immer wieder direkt begegnen und im Austausch stehen. Das hat uns die Pandemie mit der damit verbundenen Isolation gezeigt. Wir haben alle mitbekommen, wie es ist, nicht außerhalb der eigenen vier Wände zu sein. Bei den einen war - und ist es zum Teil immer noch – die Barriere eine Ansteckung mit Covid und deren Folgen, bei den anderen ist es der defekte Aufzug im Haus oder der U-Bahn, der*die Assistent*in, der*die nicht bewilligt wurde. Ohne nun sagen zu wollen „Wir wissen nun genau wie das ist mit Barrieren“, kann man vielleicht ein bisschen besser verstehen, wie es sich anfühlt, wegen äußerlicher Einflüsse bestimmte Dinge nicht mehr tun zu können.                    


MuP: Was könnten erste Schritte für Non-Profit-Organisationen sein, die sich mit Barrierefreiheit auseinandersetzen wollen?

Silke Georgi: Das kommt sehr auf die Größe der Organisation und die finanziellen Mittel an. Wenn große Organisationen eine eigene Personalabteilung haben, ist eine Schulung natürlich sinnvoll. Hier kann dann der gesamte Recruiting-Prozess von Anfang an unter die Lupe genommen werden. Von der Stellenausschreibung, zur Webseite bis zum allgemeinen Wording und Bildsprache. Wenn der Personalbereich klein ist und auch nicht ständig neue Menschen eingestellt werden, ist es vielleicht nicht das Wichtigste, dass die Arbeitsplätze barrierefrei gestaltet sind. Wichtiger ist es hier, sich zu fragen, wie Menschen mit Behinderungen in der eigenen Zielgruppe erreicht werden können. Ob es um Klimaaktivismus geht oder um Frauen- oder LGBTQI+-Rechte oder Basteln im Nachbarschaftshaus – hier gibt es überall auch Menschen mit Behinderungen. Diese zu erreichen, könnte ein erster Schritt sein.

Auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Ableismus können sowohl kleine als auch große Organisationen angehen. Wie können wir Ally sein? Welches Buch dazu können wir gemeinsam lesen?

Als ersten Schritt kann ich auch Mental Health First Aid Kurse empfehlen. Hier bekommt ein Team die häufigsten Formen psychischer Erkrankungen und Behinderungen kompakt erklärt. Mitsamt den dazugehörigen Erste-Hilfe-Maßnahmen und Unterstützungsmöglichkeiten.

Oder auch wenn eine Renovierung ansteht oder ein neues Gebäude bezogen wird, kann Barrierefreiheit mitgedacht werden. Können wir eine Rampe an der Tür anbringen, so dass die obligatorischen zwei Altbau-Stufen überbrückt werden können? Können wir einen Alternativtermin für unsere Beratungsstelle in dem neuen, barrierefreien Gebäude von einer befreundeten Organisation anbieten? Und plötzlich können dann auch ältere Menschen kommen, die vielleicht einen Rollator benutzen, oder Eltern mit Kinderwagen.

Als ersten Schritt kann ich auch empfehlen, den wöchentlichen Newsletter von die Neue Norm und Raúl Krauthausen zu abonnieren. Auch auf Social Media, Blogs und über Podcasts gibt es eine ganze Bandbreite an Informationen. Aber vor allem ist mein Tipp: Keine große Sache daraus zu machen. Ja, es ist ein Riesenthema und niemand wird in drei Wochen alles umgesetzt und verstanden haben. Es genügt zunächst, sich eine kleine Sache auszusuchen und sich zu informieren. Wir müssen einfach mal anfangen! 

Wir bedanken uns für das Interview!       
Hinweis: Die Äußerungen unserer Gesprächspartner*innen geben deren eigene Auffassungen wieder.

Dieses Interview wurde verschriftlicht und redaktionell überarbeitet. Bonn, 2023

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