Krieg in der Ukraine: Zeitenwende für Frieden und Sicherheit

Samstag, 18.06.22 10:00 bis Samstag, 18.06.22 15:00 - Königswinter

Nachbericht | 17. Petersberger Gespräche zur Sicherheit - Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt


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„Bei Fragen der Zukunft helfen keine Schablonen der Vergangenheit“

Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert für die sicherheits- und verteidigungspolitische Nachkriegsordnung in Europa eine tief einschneidende Zäsur. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach dem russischen Überfall des Nachbarn ausgerufene Zeitenwende kristallisiert sich sowohl in Deutschland als auch in den westlichen Demokratien auf der politischen Ebene ebenso wie im militärischen Bereich als ein geradezu radikaler Kurswechsel im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten heraus.

 „Bei Fragen und Herausforderungen der Zukunft“, sagte Siemtje Möller als Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium bei den 17. Petersberger Gesprächen zur Sicherheit in Königswinter vor hochrangigen Offizieren der Bundeswehr, Besucher_innen befreundeter Streitkräfte aus anderen Ländern und zahlreichen interessierten Teilnehmer_innen aus unterschiedlichsten Bereichen der Zivilbevölkerung, „bei Fragen und Herausforderungen helfen keine Schablonen der Vergangenheit.“

Tatsächlich war bei der traditionsreichen Fachkonferenz, die von der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GfS) zusammen mit dem Landesbüro Nordrhein-Westfalen der Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert worden war und die Situation der deutschen Streitkräfte unter verschiedensten Aspekten analysierte, die künftige Rolle der Bundeswehr und ihre Bedeutung für Deutschlands Position auf internationaler Bühne das dominierende Thema. „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“, so der diesjährige Titel der Veranstaltung am Rheinufer, leiteten Referent_innen wie Teilnehmer_innen an zwei Podiumsdiskussionen vor allem von der seit Kriegsausbruch mit einem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen betriebenen Modernisierung der Bundeswehr ab.

Auch Möller stellte im weiteren Verlauf ihrer Keynote diesen Zusammenhang nachdrücklich her. „Übernahme von Verantwortung gepaart mit Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit – das ist der Anspruch an die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eine wesentliche Grundlage für die Umsetzung der Zeitenwende unserer Handlungsfähigkeit in der NATO und in der EU ist eine umfassende Stärkung der Bundeswehr, die den neuen Anforderungen angepasst und besser aufgestellt werden muss. Durch das Sondervermögen wird die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit Deutschlands in besonderem Maße gestärkt und damit begonnen, Defizite der letzten Jahre und Jahrzehnte auszugleichen“, erklärte die SPD-Politikerin.

Dafür besteht in der „Auseinandersetzung von demokratischen Gesellschaften und autoritären Systemen“, wie Möllers Parteikollege und Verteidigungsausschuss-Mitglied Wolfgang Hellmich in seiner Einführung nach der Konferenzeröffnung durch Oberst a.D. Hans-Joachim Schaprian die geopolitische Eskalation beschrieb, bei den Bürger_innen großer Rückhalt. Neuesten Ergebnissen des Sicherheitsradars des Wiener FES-Büros zufolge unterstützen mittlerweile nahezu zwei von drei Deutschen höhere Militärausgaben, wofür nach Darstellung von Projektleiterin Dr. Alexandra Dienes vor Russlands Ukraine-Invasion keine Mehrheit vorhanden war.

Zu den überraschendsten Resultaten der Umfrage gehört sicherlich die konsequente und mitunter sämtlichen Grundprinzipien ihrer Partei widersprechende Haltung von Mitgliedern und Anhängern der Grünen hinsichtlich der Abgrenzung und Eindämmung von Russland. „Insgesamt trägt die deutsche Bevölkerung die Zeitenwende mit und unterstützt den Kurs der Bundesregierung“, hob Dienes zugleich die von allen Konferenzteilnehmer_innen begrüßte Akzeptanzsteigerung der Streitkräfte in der bundesdeutschen Gesellschaft hervor.

Mit Unterstützung der Bundesregierung wiederum entwickelten zum Zeitpunkt der Petersberger Konferenz Expert_inne die künftige Militär-Konzept der NATO. Wie Generalleutnant Hans-Werner Wiermann spiegelt die für Ende Juni beim Gipfel der Bündnisstaaten in Madrid erwartete Neuausrichtung der Strategie neben der seit den 90er Jahren bestehenden Zweidimensionalität der Allianz – Landes- und Bündnisverteidigung einerseits sowie internationales Krisenmanagement andererseits – auch die veränderte Wirklichkeit wider: „An zentralen Stellen werden die Euro-Atlantik-Zone nicht als Friedensgebiet und Russland anders als im letzten Konzept als alles andere als ein strategischer Partner bezeichnet werden“, kündigte der Director General of the NATO Military Staff mit Blick auch auf die Ostflanke an.

In der seit Kriegsausbruch vieldiskutierten Frage nach Deutschlands Ansehen in Partnerländern berichtete Wiermann von einem „ausgezeichneten Ruf“ bei der NATO. Das positive Image führte der Offizier abgesehen von klugen Vorschlägen von Bundeswehr-Vertretern im strategisch-taktischen Bereich nicht zuletzt auch auf den Beschluss für das Sondervermögen zurück.

Diese Anerkennung, die allerdings laut Dienes in europäischen Nachbarvölkern nach Recherchen für den Sicherheitsradar nicht in jedem Land ungeteilt ist, will der neugewählte GSP-Präsident Dr. Hans-Peter Bartels „im Kampf um unsere wehrhafte Demokratie“ für die Übernahme einer Führungsrolle Deutschlands nutzen: „Deutschland hat Gewicht und Bedeutung und muss künftig in seiner entsprechenden Gewichtsklasse boxen.“

Auf dem Weg dahin mahnte der frühere Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages eine sinnvolle Verwendung des Sondervermögens an. „Die 100 Milliarden müssen wirken, es ist von allem zu wenig da, und wir sind noch nirgends am Ziel. Es ist aber auch eine Reform des Beschaffungswesens notwendig, weil das Geld ohne eine Umorganisation versickern wird“, sagte der Co-Gastgeber der Konferenz.

Diplomatischen Lösungen als Alternativen zur politisch wie militärischen Geschlossenheit von NATO und EU gegenüber Russland erteilte Bartels eine Absage. „Es ist momentan nur die Zeit für eine solidarische Haltung an der Seite der Ukraine inklusive Waffenlieferungen. Wir müssen kein Pulver mehrt trocken halten, denn wogegen wir uns gerüstet haben, wird von Russland gerade in der Ukraine abgenutzt und immer weniger, weswegen wir geben können. Die bisherige Zahl von Panzerhaubitzen etwa ist nun nicht gerade die Welt. Die Ukraine braucht schnellere und effektivere Hilfe.“

Eine andere Position nahm Generalleutnant Markus Laubenthal ein. Aus Sicht des stellvertretenden Generalinspekteurs der Bundeswehr „tun wir für die Ukraine, was wir können“.

Die grundsätzliche Situation der Truppe mochte Laubenthal weder schönfärben noch schwarzmalen. Nachdem Schaprian ein passendes Kanzler-Zitat aus der Zeitenwende-Rede („Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen können, Schiffe, die in See stechen können, und Soldaten, die optimal für ihre Einsätze ausgerüstet sind“) in den Raum gestellt hatte, konstatierte der zweithöchste militärische Repräsentant im Land jedoch auch mehr Mängel als zufriedenstellende Bestandsaufnahmen.

„Das Sondervermögen“, führte Laubenthal in einem Grundsatzreferat aus, „ist die große Gelegenheit, wesentliche Modernisierungsvorhaben und Investitionen der Bundewehr unverzüglich zur Truppe zu bringen und nachhaltig zu finanzieren. Die Vorhaben sind notwendig, um Zusagen an NATO und EU zu entsprechen, aber auch, um im Fähigkeitsprofil nicht immer unseren Ambitionen hinterherzulaufen.“

Der Angehörige des militärischen Beraterstabes der Bundesregierung ließ in seinem Diskussionsbeitrag eine lange Liste an Bedarf und Aufgaben erkennen. „Der Ausbildungsstand muss aufgrund der Delle durch die Pandemie wieder erhöht werden. Es besteht großer Nachholbedarf bei den gesamten Landstreitkräften. Wir müssen Material und Ersatzteile auffüllen. Wir brauchen eine rasche Vollausstattung “, nannte Laubenthal einige Beispiele und betonte: „Das sind gewaltige Summen und gewaltige Anstrengungen, die unternommen werden müssen.“

An der Notwendigkeit ließ der Generalleutnant über seine deutliche Forderung nach einer künftigen Behandlung der Bundeswehr durch die Rüstungsindustrie als “Premiumkunde“ hinaus keinen Zweifel: „Der Krieg in der Ukraine setzt neue Maßstäbe, an denen sich die Bundeswehr künftig ausrichten muss und wird. Es geht um die Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft. Wir benötigen Kaltstartfähigkeit, sonst sind wir nicht glaubwürdig. Deswegen brauchen wir auch bessere Strukturen für eine gewisse Geschwindigkeit. Es geht dabei auch um die territoriale Führungsfähigkeit über das gesamte Spektrum. Ohne die Erfüllung unserer Vorgaben durch die NATO, die unsere Lebensversicherung und Sicherheitsgarantie ist, ist die Glaubwürdigkeit der gesamten Verteidigungsallianz infrage gestellt. Deshalb müssen wir den Anschluss wirklich schaffen. Wenn im Fall der Fälle nicht alles so vorbereitet ist, dass man in einem Zeitraum zwischen zehn bis 50, 60 Tagen handeln kann, sind wir nicht glaubwürdig und eröffnen Möglichkeiten, die wir nicht eröffnen wollen.“

Die Sicht der Soldat_innen auf die neuen Entwicklungen bei der Truppe rückte Oberleutnant i.G. Marcel Bohnert für das Auditorium in den Fokus. Der stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes betonte neben der Zustimmung der Soldaten für die Zukunftsprojekte auch, dass in den Uniformen Menschen dienen. „Selbstverständlich gilt für uns, auf alle Herausforderungen und Szenarien eingestellt zu sein. Das eine enorme Aufgabe in materieller Hinsicht, aber auch personell, strukturell, mental, gesamtgesellschaftlich und auch in Bezug auf die sozialen Rahmenbedingungen des Dienens. Die Einsatzbereitschaft muss oberste Priorität haben, aber wir sollten dennoch in dieser neuen Situation nicht alle sozialen Errungenschaften reflexartig über Bord werfen, sondern im Rahmen einer Prioritätenverlagerung an die Realitäten anpassen.“

Den gewachsenen Rückhalt für die Truppe in der Bevölkerung will Bohnert zur verbesserten Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft nutzen. „Durch die Nothilfe in der Pandemie sind Bundeswehr und Bürgerinnen und Bürger bereits in einen intensiven Austausch gekommen. Auf dieser Basis sollte sich die Bundeswehr über erste positive Schritte in diese Richtung hinaus öffnen“, erklärte der Offizier.

Auf ein verstärktes Miteinander von Politik, Militär und Gesellschaft hoffte Hellmich in seinem Schlusswort auch bei der anstehenden Ausarbeitung einer nationalen Sicherheitsstrategie. „Dieses Papier darf dieses Mal nicht mehr nur von der Regierung getragen werden, sondern bedarf einer breiten gesellschaftlichen Debatte, denn die Frage ist, was wir alle uns gegenseitig abverlangen können“, mahnte der frühere Geschäftsführer der nordrhein-westfälischen SPD und fügte an: „Die Debatte sollte bewusstseinsbildend und bewusstseinsschärfend sein, damit das Strategiepapier nach seiner Verabschiedung im Parlament nicht wieder in der Schublade verschwindet.“

Text: Dietmar Kramer, Journalist

 

 

 

- Königswinter
keine Plätze frei

Petersberger Gespräche zur Sicherheit

Veranstaltungsnummer: 258959als .ics herunterladen

Wir laden Sie herzlich ein, mit unseren Expertinnen und Experten im Rahmen der Petersberger Gespräche am 18. Juni 2022 in Königswinter über die Entwicklung der aktuellen Lage im Krieg in der Ukraine und über die Konsequenzen für unsere Sicherheitspolitik und die Bundeswehr zu diskutieren.

Termin

Samstag, 18.06.22
10:00-15:00 Uhr

Teilnahmepauschale
keine

Veranstaltungsort

Königswinter

Ansprechpartner_in

Sohel Ahmed

Kontaktanschrift

Friedrich-Ebert-Stiftung
Landesbüro NRW
Godesberger Allee 149
53175 Bonn
Tel. 0228-883-7202, Fax 0228-883-9208


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