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Zwischen Washington, Brüssel und Ankara verschieben sich die sicherheitspolitischen Gewichte: Während die USA zunehmend auf wirtschaftliche Stärke und strategische Distanz setzen, ringt Europa um militärische Eigenständigkeit – und die Türkei nutzt ihren Spielraum zwischen Ost und West. Nach den Vienna Peace and Security Talks analysieren Expert:innen der FES, wie diese divergierenden Interessen das transatlantische Bündnis, die NATO und die europäische Sicherheitsordnung neu prägen.
Christos Katsioulis (FES Zusammenarbeit & Frieden), Reinhard Krumm (FES USA) und Tina Blohm (FES Türkei) im Interview
Ankara, Europa und die USA ringen um Einfluss – und ihre Entscheidungen prägen direkt die Sicherheitslage in Europa. Im Anschluss an die jährlichen Vienna Peace and Security Talks haben FES-Expert:innen analysiert, wie sich die Beziehungen zwischen Türkei, NATO, EU und den Vereinigten Staaten aktuell gestalten und welche Folgen daraus für Stabilität und Zusammenarbeit entstehen.
Die Türkei positioniert sich zunehmend als eigenständige Akteurin zwischen West und Ost. Was will Ankara langfristig – ein gestärktes NATO-Mitglied sein oder eine Macht auf gleicher Augenhöhe mit Russland und der EU?
Tina Blohm: Ankara inszeniert sich gern als eigenständige Regionalmacht, doch dieser Anspruch steht im Widerspruch zu den ökonomischen und sicherheitspolitischen Abhängigkeiten von der NATO. Die Rhetorik der „strategischen Autonomie“ verdeckt, dass die Türkei ohne westliche Technologie, Märkte und Investitionen kaum Handlungsspielraum hat. Ihr Versuch, gleichzeitig Partner und Störenfried des Westens zu sein, wirkt zunehmend opportunistisch statt strategisch. Die eigentliche Langzeitstrategie scheint weniger auf Gleichrangigkeit, sondern auf Machtbalance durch taktische Schaukelpolitik zu beruhen – ein riskantes Spiel, das auf Dauer Glaubwürdigkeit kostet.
Die Türkei spielt auch eine wichtige Rolle in Chinas Neuer Seidenstraße. Wie stark profitiert Ankara tatsächlich von dieser Zusammenarbeit – und wo liegen die Risiken einer wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von Peking?
Tina Blohm: Über den sogenannten Mittelkorridor eröffnet Ankara China eine strategisch bedeutende Landverbindung nach Europa unter Umgehung Russlands – doch die damit verbundenen Investitionen haben bislang keine nachhaltigen Impulse für die türkische Industrie, Beschäftigung oder technologische Entwicklung gesetzt. Zwar gewinnt die Türkei dadurch an Bedeutung als Transit- und Logistikdrehscheibe, doch der wirtschaftliche Mehrwert bleibt begrenzt. 2024 importierte die Türkei Waren im Wert von rund 45 Milliarden US-Dollar aus China, exportierte jedoch nur Güter im Umfang von etwa 3 Milliarden US-Dollar – ein Handelsdefizit von über 40 Milliarden US-Dollar. Diese asymmetrische Beziehung – und Chinas erklärtes Ziel, die Türkei vor allem als Korridor und Durchgangsroute zu nutzen – stärkt in erster Linie die Transitökonomie. Die eigentlichen Vorteile dieser Kooperation liegen daher weniger im ökonomischen als im politischen Bereich, wo Ankara durch die BRICS- und Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) seinen Anspruch auf strategische Autonomie unterstreicht und versucht, sich gegenüber dem Westen eine günstigere Verhandlungsposition zu sichern.
Trotz der NATO-Mitgliedschaft pflegt Ankara enge Kontakte zu Moskau. Wo verläuft für die Türkei die Grenze zwischen Pragmatismus und gefährlicher Nähe?
Tina Blohm: Ankaras Verhältnis zu Moskau ist weniger Ausdruck souveräner Außenpolitik als Ergebnis einer taktischen Machtbalance innerhalb des globalen Systems. Die Energieabhängigkeit, insbesondere bei Gasimporten und dem Atomkraftwerk Akkuyu, spiegelt daher nicht politische Nähe, sondern ökonomische Verflechtung auf kapitalistischer Grundlage wider. Die Türkei nutzt die Beziehung zu Russland, um ihren außenpolitischen Spielraum gegenüber dem Westen zu erweitern und gleichzeitig ökonomische Vorteile zu sichern, etwa durch Handel, Tourismus und regionale Vermittlungsrollen, doch ist sie fest im westlichen Bündnis integriert und agiert langfristig im Sinne westlicher Interessen.
Die USA haben seit Beginn des Krieges massiv Flüssiggas nach Europa geliefert. Ist das aus Washingtons Sicht eher ein guter Deal, oder Teil einer langfristigen energiepolitischen Sicherheitsstrategie gegenüber Russland?
Reinhard Krumm: Nach der Abschaltung russischer Erdgaslieferungen nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine im Sommer 2022 hat sich Deutschland nach Alternativen umgeschaut. So deckt Deutschland seinen Erdgasbedarf mit Lieferungen aus Norwegen sowie den Niederlanden und Belgien. Die USA liefern im Bereich LNG den größten Teil, am gesamten Erdgasbedarf sind sie mit etwa 13 Prozent beteiligt. Für die USA ist Deutschland im Bereich ein interessanter Handelspartner, gleichwohl stehen in Europa die Niederlande, Frankreich und Großbritannien weiter vor Deutschland beim Import von US-LNG. Die völlige Abkehr Deutschlands von russischem Erdgas bedeutet für die USA vor allem ein gutes Geschäft. Dass zudem Russland so seine Kriegskasse weniger auffüllen kann, wird in Washington DC positiv wahrgenommen.
Die USA haben kürzlich weitere Waffenlieferungen an die Ukraine angekündigt. Wie stabil ist die politische Unterstützung in Washington – insbesondere mit Blick auf den Wahlkampf 2026 und mögliche Ermüdungserscheinungen in der US-Bevölkerung?
Reinhard Krumm: Die USA sind unter Präsident Donald Trump bereit, auch weiter Waffen an die Ukraine zu senden. Unter einem neuen Schema: Interessierte NATO-Mitgliedsstaaten kaufen für die Ukraine Waffen in den USA und liefern sie nach Erhalt weiter an die Ukraine. Was die Bereitstellung von Informationen zum Schlachtfeld betrifft, so wird die Ukraine in Zukunft mehr auf europäische Quellen angewiesen sein. Die USA sehen sich auch weiterhin eher als Mittler denn als Beteiligte in diesem Krieg. Bisweilen stellt der amerikanische Präsident das verbal in Frage, so bei einer möglichen Lieferung von Tomahawk-Raketen an die Ukraine. Bisher wurde diese an Russland gerichtete Drohung wohl nicht umgesetzt.
Europa wirkt oft zögerlicher als Ankara oder Washington, wenn es um militärische Reaktionen geht. Ist das eine Frage politischer Kultur – oder fehlen schlicht die militärischen und energiepolitischen Grundlagen, um schneller zu handeln?
Christos Katsioulis: Das Bild des zögerlichen Europas hört man sehr oft und blendet dabei gerne aus, dass es mit Frankreich, aber auch Großbritannien zwei europäische Länder gibt, die in der Vergangenheit alles andere als zögerlich waren, wenn es um den Einsatz von Militär geht. Europa hier mit zwei Nationalstaaten zu vergleichen, passt daher nicht ganz, weil wir es mit einem Patchwork politischer Kulturen zu tun haben, das zudem von einem nicht immer kompatiblen Mix aus militärischen Fähigkeiten unterlegt ist. In Europa gibt es eigentlich genügend Grundlagen für militärische Reaktionen, es fehlt allerdings eine Entscheidungsstruktur und einige Schlüsselfähigkeiten, um autonom von den USA zu handeln.
Welche Lehren ziehen die USA, EU und Türkei aus der bisherigen Koordination im Ukraine-Krieg für künftige Konflikte?
Reinhard Krumm: Für die jetzige Administration ist die Lehre, dass mit Kriegen Geld zu verdienen ist, eigene Technik für den Ernstfall getestet werden kann und gleichzeitig das Interesse der USA, einen Krieg zu beenden, nicht unbedingt an erster Stelle steht. Letzterer Punkt hängt davon ab, inwieweit die Interessen der USA durch einen Krieg betroffen sind. Im Falle der Ukraine haben sowohl der Präsident als auch der Kongress klargestellt, dass Europa zuständig ist. Bei einem anderen Kriegsort könnte das anders ausschauen. Die Lehren der USA sind, zumindest für Donald Trump, dass die USA in Zukunft sehr genau darauf schauen, ob sie sich in einen Konflikt einmischen und mit welchen Mitteln. Bei positiver Bewertung werden die USA sehr genau die Zielsetzung des Engagements als auch den zeitlichen Rahmen festlegen.
Christos Katsioulis: Für die EU kann dieser Krieg nur schlecht mit künftigen Konflikten verglichen werden, weil er direkt vor der eigenen Haustür stattfindet und viele europäische Staaten sich direkt bedroht fühlen. Daher sehen wir auch die mit massiven finanziellen Mitteln betriebenen Anstrengungen, die eigenen Verteidigungsfähigkeiten zu stärken. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass die Bedrohungswahrnehmung weiterhin unterschiedlich sind und die EU in ihrer Gesamtheit nur sehr langsam ins Handeln kommt. Daher bilden sich im sicherheitspolitischen Bereich mehr und mehr so genannter Koalitionen der Willigen, in denen sich Staaten zusammentun, die ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich dabei nicht von Regierungschefs wie Viktor Orbán bremsen lassen wollen. Diese Koalitionen haben auch den Vorteil, dass darin Nicht-EU- Staaten wie die Türkei oder das Vereinigte Königreich einbezogen werden können.
Tina Blohm: Die Rolle der Türkei im Ukraine-Krieg ist widersprüchlich und auf ein taktisches Gleichgewicht ausgerichtet. Ankara versucht, einerseits seine Verpflichtungen innerhalb der NATO zu erfüllen und andererseits gute Beziehungen zu Russland zu bewahren. Die Türkei hat von Beginn an die territoriale Einheit der Ukraine unterstützt, Waffen wie Bayraktar-TB2-Drohnen geliefert und beim Getreideabkommen über das Schwarze Meer vermittelt. Gleichzeitig hat sie keine Sanktionen gegen Russland verhängt und den Handel sowie den Tourismus mit Moskau ausgeweitet, um wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Mit der EU und den USA arbeitet die Türkei zwar in der NATO bei Luftabwehr, Überwachung des Schwarzen Meeres und Vermittlungsmissionen zusammen, doch bestehen wegen des Kaufs des russischen S-400-Systems weiterhin Spannungen. Insgesamt nutzt Ankara den Krieg, um seine Bedeutung zwischen Ost und West zu stärken – weniger aus friedenspolitischen Motiven, sondern um die eigene Machtposition auszubauen.
Das Portal beschäftigt sich mit dem Veränderungsprozess, den Deutschland und Europa gegenwärtig durchlaufen. Er wird auch als Zeitenwende bezeichnet weiter