FES: Bei dem vorgelegten Konzept handelt es sich um das erste seiner Art der SPD-Bundestagsfraktion. Warum war es dafür nun an der Zeit?
Im Regierungsprogramm 2017 hat die SPD versprochen: „Mit einem Gesamtkonzept Migration gewährleisten wir Kontrolle und verhindern Überforderung.“ Als Arbeitsgruppe Migration und Integration der SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns das zur Aufgabe gemacht und uns intensiv mit Einwanderung, Flucht oder allgemeiner „menschlicher Mobilität“ befasst. Diese Themen hatten nach der großen Aufmerksamkeit der Jahre 2015 und 2016 zuletzt weniger Konjunktur. Beste Voraussetzungen also, um unaufgeregt und sachlich offene Fragen zu klären. Ein zweiter Teil übrigens, in dem wir unsere Vision eines guten Zusammenlebens für alle beschreiben, folgt noch im Mai.
Was sind die wesentlichen Inhalte des Konzepts?
Unsere Ausgangsbasis ist, dass Migration zum Menschen gehört. Sie ist keine Gefahr, Bedrohung oder Störung der öffentlichen Ordnung. Vielmehr kann und muss sie aktiv gestaltet werden, so wie andere Lebensbereiche auch. Nur so kann sie zum Wohle aller Beteiligten, von den Herkunfts- bis in die Zielländer hinein, gelingen. Es geht um gute Lösungen für alle. Das heißt zum Beispiel auch, unseren Fachkräftebedarf nicht auf Kosten von Ländern zu sichern, die selbst auf diese Arbeitskräfte angewiesen wären. Und bei uns müssen wir diejenigen im Blick behalten, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, sei es aus gesundheitlichen Gründen, wegen fehlender Anerkennung von Qualifikationen oder weil sie zu lange schon den Anschluss verloren haben.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dieses Bekenntnis muss klar sein, sonst verschließt man die Augen vor der Wirklichkeit. Wir sprechen uns unter anderem für eine Altfallregelung für gut Integrierte aus, für ein europäisches Einwanderungsgesetz, für eine stärkere Rolle von Städten und Gemeinden und mehr Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Und es gibt jede Menge praktische Probleme, wo wir einfach besser werden müssen, etwa bei schnelleren Visa-Verfahren und einer besseren Anerkennung von Berufsabschlüssen.
Gleichzeitig sind weltweit so viele Menschen wie nie gezwungen, aufgrund von Krieg, Vertreibung oder Umwelt- und Klimaveränderungen aus ihren Heimatländern zu fliehen. Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung und bekennen uns klar zu den Errungenschaften des internationalen Flüchtlingsrechts. Weil es in Europa nur gemeinsam geht, legen wir einen besonderen Schwerpunkt auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Hier muss es menschlicher mit Menschen in Not, solidarischer mit den Staaten an den südlichen Außengrenzen und flexibler, was die Beiträge zum Asylsystem anbetrifft, zugehen.
Konkret wollen wir beispielsweise die Neuansiedlungsprogramme des UN-Flüchtlingswerks stärken, Aufnahmeprogramme in Bundesländern leichter ermöglichen und Familien und besonders verletzliche Gruppen besser schützen. Gleichzeitig bekennen wir uns auch zu Rückführungen als Teil des Asylrechts und Abschiebungen als letztem Mittel, wenn alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft sind.
Unser Ziel ist allerdings, dass Menschen auch in ihren Herkunftsländern Perspektiven haben, Beratung und Unterstützung finden und mehr Möglichkeiten, legal auch zur Aufnahme von Ausbildung, Studium oder Arbeit einzuwandern.
Was ist die sozialdemokratische Essenz des Konzepts und wie grenzt es sich zu den Vorschlägen, die andere politische Parteien machen, ab?
Unser Konzept ist fortschrittlich und machbar zugleich. Weder setzen wir auf Abschottung an Europas Außengrenzen, denn das löst nichts und schafft nur immer neues Leid, noch setzen wir auf Vorschläge, die in Europa keine Chance auf Umsetzung haben oder sprechen von einer „freien Wahl“ der Zielländer durch Migrantinnen und Migranten. Man darf Migration nicht einfach ungesteuert laufen lassen oder ausschließlich aus der Sicht der Migrantinnen und Migranten angehen. Unser Konzept setzt auf gute Regeln für Einwanderung und auf Hilfe und Solidarität für Menschen auf der Flucht. Damit grenzen wir uns gegen die Strategie der Abschreckung von rechts ebenso ab wie gegen naive Stimmen von Leuten, die das für links halten. Links ist, auf Menschenrechte zu setzen und auf einen starken Rechtsstaat, der demokratisch gefasste Regeln auch durchsetzen kann.
Wie muss man sich den Erarbeitungsprozess eines solch umfangreichen Konzepts vorstellen?
Es war ein Gemeinschaftswerk der Arbeitsgruppe „Migration und Integration“ der SPD Bundestagsfraktion, in der Abgeordnete aus allen Fachausschüssen vertreten sind. Wir sind dabei neue Wege gegangen. Zuerst haben wir über unsere Werte diskutiert und damit Begründungen für politische Ziele und Ideen gesucht und formuliert. Das müssen wir, glaube ich, insgesamt viel stärker machen, denn sozialdemokratische Werte erklären sich heute nicht mehr einfach von selbst, indem man in sozialdemokratisch geprägten Milieus aufwächst und Arbeiterstolz und Solidarität im Alltag spüren kann. Heute müssen wir Erklärungen mitliefern und nicht einfach sagen „wir brauchen“ oder „es muss“, denn die Menschen wollen wissen „Warum eigentlich?“ und auch „Was habe ich davon?“.
Der zweite wichtige Punkt war die Art der Beteiligung. Natürlich haben wir viele Impulse aufgenommen, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Menschen aus der Praxis, von Migrantinnen und Migranten. Ebenso wichtig war es aber aus meiner Sicht, einfach einmal jemanden anzurufen, der sich mit einer kritischen Äußerung zu unserer Politik zu Wort gemeldet hatte. Oder auch Kolleginnen und Kollegen aktiv einzuladen, ihre offenen Fragen oder auch Unsicherheiten mitzuteilen. Ich erlebe häufig Diskussionen, bei denen irgendjemand schnell dabei ist festzulegen, was sozialdemokratisch ist und was nicht. In so einer Atmosphäre kommen aber keine Lösungen zustande und auch keine echte Überzeugung. Wenn man will, dass am Ende viele hinter einem Konzept stehen, braucht es erst einmal Offenheit, Freundlichkeit, Zuhören. Das ist anstrengend, aber zielführend.
Schließlich: Wir haben uns Zeit gelassen. Das ist in der Politik wie mittlerweile insgesamt im Leben leider eine ziemliche Luxusware. Und auch jetzt sind wir ja nicht am Ende der Diskussion, sondern haben eine gute Grundlage, an der wir auch weiterarbeiten müssen.
Die aktuelle Legislatur geht in diesem Jahr zu Ende: Worauf blicken Sie mit Stolz zurück?
Vor der Entscheidung zum Eintritt in die Große Koalition haben viele bezweifelt, dass man die programmatische Erneuerung, das Denken über den Tag hinaus, leisten kann zusätzlich zum Regierungsgeschäft. Vier Jahre später haben wir ein neues Sozialstaatskonzept, ein Konzept für eine Kindergrundsicherung, zu Wohnen, zu Pflege. Und ich bin stolz, dass wir es auch geschafft haben, zu gemeinsamen Positionen bei den Fragen von Migration und Integration zu kommen. Gleichzeitig haben wir in der Regierung getan, was wir konnten. Als mir im ehemaligen Lager Moria ein kleiner Junge entgegenkam und „Hello, my friend!“ rief, habe ich mir fest vorgenommen, für diesen kleinen Freund etwas zu erreichen.
Die SPD hat dann zusammen mit der Zivilgesellschaft erreicht, dass Deutschland etwa 2.800 Migranten von den griechischen Inseln aufnimmt, darunter viele Kranke und Minderjährige. Vielleicht meint man, das sei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch für jede und jeden einzelnen, der aus dem Elend kommt, ist es eben ein gewaltiger Unterschied. Gemeinsam mit anderen Staaten arbeiten wir weiter daran, die unwürdigen Zustände in den Lagern an den Außengrenzen zu beenden.
Und welche politischen Prioritäten sehen Sie für die kommende Legislatur im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik?
Wir müssen uns weiter um praktikable Lösungen bemühen im Sinne der Menschen, um die es geht. Unser Hauptaugenmerk muss auf der Situation rund um das Mittelmeer und den dahinter liegenden Regionen, etwa der Sub-Sahara, liegen. Im Inland gilt es, weiter an einem guten Zusammenleben zu arbeiten und den Zusammenhalt auch im Sinne eines von allen geteilten „Wir“ zu stärken. Und programmatisch werden wir die Fluchtursachen stärker in den Blick nehmen. Unser Migrationskonzept soll um einen dritten Teil zu den Herausforderungen globaler Gerechtigkeit ergänzt werden. Wir haben viel erreicht und viel vor.
Wir danken Ihnen für diesen Austausch!