Beitrag von Marei Pelzer
Als die Kommission der Europäischen Union (EU) im September 2020 ihr Neues Migrations- und Asyl-Paket (New Pact on Migration and Asylum) präsentierte, kündigte sie einen Neustart in der europäischen Migrationspolitik an. Es sollte ein neues Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Solidarität geschaffen werden. Der Reformstau, der sich in den Jahren zuvor gebildet hatte, sollte durch den Vorstoß der frisch gewählten Kommission mit neuem Schwung aufgelöst werden. Unter der Überschrift »Verantwortung und Solidarität« kündigte die Kommission u.a. die Reform des bisher geltenden Dublin-Systems an. Doch mehr als ein Jahr nach dem proklamierten Neustart ist die EU einer Reform kaum nähergekommen. Die Fronten in der EU-Asylpolitik sind – insbesondere in Punkto Verteilung von Asylsuchenden auf die EU-Staaten – verhärtet. Während einige einen Verteilungsschlüssel fordern, der neu einreisende Asylsuchende proportional auf die EU-Mitgliedstaaten aufteilt, sind insbesondere die östlichen Mitgliedstaaten strikt dagegen. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) darf jedoch nicht denen überlassen werden, die Flucht und Migration nach Europa mit allen Mitteln verhindern möchten. Solidarität und ein menschenwürdiger Umgang mit Schutzsuchenden müssen Leitplanken eines künftigen Asylzuständigkeitssystems sein.
Fehlender Schutz aufgrund unklarer Zuständigkeit
Wenn es um Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme geht, darf die globale Perspektive nicht fehlen. Allerdings existiert keine internationale Konvention, die international regeln würde, welche Staaten für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig sind. Auch wenn die Genfer Flüchtlingskonvention in ihrer Präambel eine internationale Zusammenarbeit einfordert, gibt es bis heute keine internationale Verpflichtung zur solidarischen Verantwortungsteilung. Auch die Globalen Pakte zu Migration und zu Flüchtlingen der Vereinten Nationen leisten dies bislang nicht. Das Völkerrecht hat damit für den Flüchtlingsschutz eine widersprüchliche Situation geschaffen: Aus der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) leitet sich das subjektive Recht auf Schutz vor Zurückweisung in den Verfolgerstaat ab. Welcher der Konventionsstaaten diesen Schutz zu gewähren hat, ist jedoch nicht geregelt. Dies führt dazu, dass sich Konventionsstaaten der Verantwortung für den Flüchtlingsschutz durch sog. Drittstaatenregelungen zu entledigen versuchen. Erklären sich alle potenziellen Aufnahmestaaten gegenseitig zu »sicheren Drittstaaten«, finden Flüchtlinge keinen Schutz mehr. Sie werden zu refugees in orbit, also zu Flüchtlingen, denen niemand Schutz gewährt. Das Schutzversprechen der GFK kann eben nur dann wirksam werden, wenn die Konventionsstaaten – also die Unterzeichnerstaaten der GFK – sich ihrer Verantwortung stellen und Zugänge zu ihren Territorien und damit zu Asylverfahren ermöglichen. Das Abstreiten von Zuständigkeit widerspricht widersprechen dem Geist der GFK und führen zu Pushbacks und Schutzverweigerung.
Ursprünglich sollte das Dublin-System mithilfe der Zuständigkeitsklärung das Problem der refugees in orbit angehen. Bereits das Dubliner Übereinkommen von 1990 formulierte das Ziel, dass die Asylbewerber_innen nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen abgeschoben werden, ohne dass einer dieser Staaten sich für die Prüfung des Asylantrags für zuständig erklärt. 30 Jahre später ringt die EU noch immer um eine gerechte Verantwortungsteilung in Sachen Flüchtlingsschutz.
Krise des geltenden Dublin-Systems
Das geltende Dublin-System begünstigt unsolidarische Effekte. Es baut darauf auf, dass der Ersteinreisestaat grundsätzlich für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig ist. Reisen Asylsuchende etwa über eine griechische Insel in die EU ein, so ist grundsätzlich Griechenland für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig. Ausnahmen sind u.a. für die Familienzusammenführung vorgesehen. Befinden sich bspw. Eltern in Deutschland, dann hat das minderjährige Kind, das in Griechenland ankommt, einen Anspruch auf Weiterreise nach Deutschland. Aber nicht nur die Familien-Regelungen weichen das Ersteinreisekriterium auf. Mit dem sog. Selbsteintrittsrecht kann jeder EU-Staat beschließen, die Zuständigkeit für einen Asylantrag quasi freiwillig zu übernehmen. Als im Jahr 2015 fast eine Millionen Flüchtlinge – die Mehrheit über Griechenland – in die EU einreisten, ermöglichte das Selbsteintrittsrecht einen legalen Wechsel der Zuständigkeit. Auch wenn das geltende Dublin-System flexibel ist, um ein Ungleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten auszugleichen, sehen es viele in einer tiefen Krise. Aus menschenrechtlicher Sicht besteht diese in den desolaten Lebensbedingungen, unter denen Asylsuchende in manchen Mitgliedstaaten ihr Leben fristen müssen. Dass die humanitäre Lage auf den griechischen Inseln katastrophal ist, ist durch den Brand in Moria im September 2020 nochmals ins öffentliche Bewusstsein geraten. Und das neue umfassend kontrollierte Lager auf Samos zeigt das neue Gesicht, nämlich das eines Internierungslagers. Bereits im Jahr 2011 verurteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR, Urteil M.S.S. ./. Belgien) Griechenland wegen menschenrechtswidriger Behandlung von Asylbewerber_innen. Diese Entscheidung führte dazu, dass in der Folge sog. Dublin-Überstellungen nach Griechenland nicht mehr zulässig waren. Leider ist Griechenland nur ein Beispiel für die menschenrechtlichen Probleme des europäischen Asylsystems. Auch die Zustände in italienischen Aufnahmeeinrichtungen wurden bereits vom EGMR bemängelt und Dublin-Abschiebungen von Familien mit Kindern nur noch in engem Rahmen für zulässig erklärt (EGMR, Urteil Tarakhel ./. Schweiz). Die Menschenrechtsverletzungen zeigen: Asylpolitik darf nicht nur auf dem Papier stattfinden – sie muss auch der Realität standhalten. Die Prämisse der EU-Asylpolitik, dass es in allen Mitgliedstaaten bei der Aufnahme und den Asylverfahren gleichwertige Standards gibt, wurde in den zurückliegenden Jahren widerlegt. Wenn es nun darum geht, ein neues Zuständigkeitssystem durchzubuchstabieren, dann muss dies im Einklang mit Grund- und Menschenrechten geschehen, zu deren Einhaltung sich die EU-Staaten verpflichtet haben.
Festgefahrene Verhandlungen
Seit mehr als fünf Jahren wird in der EU über ein neues Zuständigkeitsmodell diskutiert, bislang ohne Einigung. Die unterschiedlichen Positionen lassen sich in drei grobe Lager einteilen.
In der Post-2015-Phase wurde – u.a. vom Europäischen Parlament, der Kommission und der Deutschen Bundesregierung – die Idee eines Verteilungsschlüssels starkgemacht. Die Bundesregierung hatte im Februar 2020 ein Papier in die Diskussion eingebracht, wonach das Kriterium der Ersteinreise abgeschafft werden und stattdessen ein Verteilmechanismus eingeführt werden sollte, wonach proportional zur Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft eine Verteilung der Asylsuchenden auf die Mitgliedstaaten erfolgen sollte. Jedoch sollten nur diejenigen Asylsuchenden in die EU-Staaten umverteilt werden, denen auch gewisse Erfolgschancen eingeräumt wurden. In einem Vorprüfverfahren sollten bereits diejenigen Asylsuchenden aussortiert werden, die aus einem sog. sicheren Herkunftsland stammen oder über ein sicheres Drittland in die EU eingereist sind.
Insbesondere diese Vorprüfung stieß bei dem zweiten Lager – u.a. Spanien, Italien, Malta und Zypern – auf massive Kritik. Diese südlich gelegenen Staaten haben kein Interesse daran, die mit solchen Vorverfahren einhergehenden Aufnahmezentren zu etablieren. In einem Diskussionspapier setzten sie sich stattdessen für eine schnelle Verteilung der neu einreisenden Asylsuchenden ein, die nach einem fairen Schlüssel erfolgen sollte. Die Prüfung der Asylanträge sollte, auch wenn die Einreise aus einem sog. sicheren Drittstaat erfolgt sei, erst nach der Umverteilung erfolgen. Hier zeigen sich wesentliche Unterschiede in den Vorstellungen der Mitgliedstaaten im Süden im Vergleich zu denen im Norden der EU. Aus der Perspektive der Asylsuchenden sind Vorverfahren, solange sie nicht nur eine Registrierung und medizinische Betreuung betreffen, problematisch, da sie mit einem System von Auffanglagern, mit fehlenden Beratungs- und Unterstützungsstrukturen sowie mit einem Hinauszögern des Integrationsprozesses einhergehen. Außerdem bedeutet ein weiterer Prüfungsschritt zusätzlichen bürokratischen Aufwand und führt nicht zu effizienteren und schnelleren Verfahren. Das Leben im Wartestand wird sich für die Betroffenen nochmals in die Länge ziehen. Für diejenigen, die auf Dauer in der EU bleiben werden, geht wertvolle Zeit für ihre Integration verloren.
Die dritte Position in der EU wird insbesondere von den Regierungen Ungarns, Polens, der Slowakei und Tschechiens vertreten. Diese sog. Visegràd-Staaten möchten Migration in die EU generell unterbinden. Es brauche »Hotspots« außerhalb der EU und nicht Lager innerhalb. Diese Idee ist nicht neu. Auffanglager etwa in nordafrikanischen Staaten zu errichten, wurde in der Vergangenheit immer wieder gefordert. 2018 fordern der Europäische Rat, dass Bootsflüchtlinge, die aus Seenot gerettet werden, in von der EU errichtete »Ausschiffungsplattformen« in Marokko, Tunesien oder Algerien verbracht werden. Völkerrechtler_innen kritisieren zu Recht, dass ein solches Vorgehen mit dem Zurückweisungsverbot der GFK nicht vereinbar wäre. Doch die Position der Visegràd-Staaten geht noch weiter. Die EU solle sogar mit Verfolgerstaaten wie Syrien verhandeln, damit die Menschen von vornherein dortbleiben. Hier geht es darum, den Geflüchteten jeden Zugang zur EU zu verwehren, unter Aufgabe jeglicher menschenrechtlicher Verantwortung.
Die Kommission setzt auf flexible Solidarität und Rückkehrpatenschaften
Angesichts der seit Jahren verhärteten Fronten gleicht der Versuch der Kommission, ein einigungsfähiges Reformpaket zu schnüren, der Quadratur des Kreises. Mit dem Vorschlag vom September 2020 betont die Kommission insbesondere die Stärkung der externen Dimension der europäischen Migrationspolitik. Die Kooperation mit Drittländern soll dazu führen, dass irreguläre Migration in die EU so früh wie möglich gestoppt wird. Schutzkapazitäten in den Herkunfts- und Transitländern sollen ausgebaut werden – wenngleich andererseits die Bereitschaft der EU, internationalen Schutz zu gewähren, bekräftigt wird. Was im Verhältnis zu Drittstaaten eine faire »Lastenteilung« sein könnte, ist jedoch ebenso wenig geklärt, wie die Frage, wie eine solidarische Verantwortungsteilung innerhalb der EU aussehen könnte. Im Vorschlag der Kommission für eine neue Verordnung unter dem Titel »Asyl- und Migrationsmanagement« ist stattdessen ein bunter Strauß an Maßnahmen enthalten, die auf forcierte Abschiebungen zielen und die Verteilung von Asylsuchenden von einem komplizierten Verfahren abhängig machen. Statt eines verbindlichen Verteilungsschlüssels soll es einen flexiblen Solidaritätsmechanismus geben, der es den Mitgliedstaaten freistellt, ob sie sich entweder durch Aufnahme von Schutzsuchenden oder aber in Form von »Rückkehrpatenschaften« beteiligen. Dies meint, dass ein Mitgliedstaat einen anderen dabei unterstützt, abgelehnte Asylbewerber_innen abzuschieben. Bleiben die Abschiebeversuche acht Monate lang erfolglos, muss der unterstützende Mitgliedstaat die entsprechenden Personen selbst aufnehmen. Dieses neue Instrument, dass überaus euphemistisch als »Patenschaft« bezeichnet wird, hat nur noch wenig mit der Frage der solidarischen Verteilung von Asylsuchenden zu tun. Es verstärkt die Idee des »Verursacherprinzips«, das auch schon dem geltenden Dublin-System zugrunde liegt und demzufolge Staaten diejenigen Personen aufnehmen müssen, für deren Einreise bzw. ausbleibende Abschiebung sie verantwortlich sind. In dieser Logik liegt auch, dass der Vorschlag der Kommission das Ersteinreisekriterium des geltenden Dublin-Systems beibehalten möchte. Insgesamt ist der Regelungsentwurf der Kommission ein komplexes Gebilde, das kaum noch erkennen lässt, worum es eigentlich gehen sollte: um den Zugang zu einem Asylverfahren bzw. die Klärung der Frage, in welchem Mitgliedstaat dieser Zugang gewährt wird. Stattdessen bekommt man den Eindruck, dass es primär um die Externalisierung von Migrationskontrolle sowie verstärkte Zugangskontrollen an den EU-Außengrenzen geht.
Alternative Modelle für die Asylzuständigkeit und die Verteilung von Schutzsuchenden
Das Dublin-System war bisher das zentrale Instrument zur Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Dabei fällt in der Regel die Zuständigkeit für das Asylverfahren mit der für die Aufnahme zusammen. Es ist jedoch überaus wichtig für das eigentliche Schutzanliegen des Asylrechts, dass der Zugang zum Asylverfahren auch nach Weiterwanderung von einem Mitgliedstaat in den nächsten gewährleistet bleibt.. Es ist zentral, dass jedes neue Modell für die Festlegung der Asylzuständigkeit als grundsätzliche Prämisse allen Asylsuchenden eine faire Chance auf ein Asylverfahren gewährleistet. Ein effektiver Zugang zum Asylverfahren und die zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz müssen oberstes Ziel bleiben – wie es die (aktuell gültige) Dublin-III-Verordnung einfordert.
Dieser Grundsatz ist jedoch keine Vorentscheidung für ein bestimmtes Modell, wie die Zuständigkeit für Asylsuchende aufzuteilen ist. Es werden sowohl politisch als auch akademisch unterschiedliche Ansätze diskutiert, die kurz skizziert werden sollen.
Ein Verteilungsschlüssel entscheidet über die Zuständigkeit für das Asylverfahren
Seit 2015 wird der Vorschlag, die Flüchtlingsaufnahme in der EU über einen Verteilungsschlüssel zu regeln, politisch prominent diskutiert. Die damalige Bundeskanzlerin Merkel hat ein solches Instrument als Reaktion auf die sog. Flüchtlingskrise als herausgehobenen Lösungsansatz präsentiert. Die Grundidee ist, die neu einreisenden Asylsuchenden proportional auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen, in denen sie auch nach einem positiven Asylbescheid bleiben müssten. Die entsprechenden Quoten könnten z.B. nach der Größe der Bevölkerung und dem Bruttoinlandsprodukt bemessen werden. Nach dem Multi-Faktoren-Modell kämen zusätzlich noch die territoriale Größe des Mitgliedstaates sowie die Arbeitslosenquote hinzu. Ein Verteilungsschlüssel böte einen Weg aus der Solidaritätskrise der EU, da er die Verantwortung für die Aufnahme von Asylsuchenden gerechter verteilen würde. Debatten um eine gerechtere Verteilung von Asylsuchenden wurden in der EU seit den 1990er Jahren immer wieder geführt. Unter dem Schlagwort des »Burden Sharings« wurde z.B. auch zu Zeiten der Balkankriege und der entsprechenden Fluchtbewegungen in Länder der Europäischen Gemeinschaft die Forderung nach einem Verteilungsschlüssel laut. Damals scheiterte die Einführung einer solchen quotenmäßigen Verteilung, da Staaten wie Großbritannien eine Zunahme der Flüchtlingszahlen im eigenen Land befürchteten. Die Idee der proportionalen Verteilung von neu einreisenden Schutzsuchenden entspricht dem deutschen Modell der Verteilung von Asylsuchenden auf die Bundesländer nach dem Königsteiner Schlüssel. Bestechend ist die dem Modell innewohnende Fairness im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander. Eine solidarische Flüchtlingsaufnahme in der EU sollte die entsprechenden Herausforderungen gerecht aufteilen. Aus Sicht des Flüchtlingsschutzes spricht nichts gegen ein solches Modell, sofern zentrale Prämissen erfüllt werden: Bei der Verteilung müssen schützenswerte Belange der Asylsuchenden berücksichtigt werden – etwa das Recht auf Familieneinheit oder andere Bindungen zu einem bestimmten Mitgliedstaat. Zentral ist zudem, dass in allen beteiligten Mitgliedstaaten der Zugang zu einem fairen Asylverfahren gewährleistet wird. Das Verfahren muss rechtsstaatlich ausgestaltet sein und die Lebensbedingungen während des Verfahrens (und auch danach) müssen einem existenzsichernden Mindeststandard genügen hinsichtlich Wohnraum, Nahrung und hygienischer Zustände. Zudem muss es Zugang zu Bildung sowie Integrationsperspektiven geben. Diese Standards werden jedoch in einigen Mitgliedstaaten noch nicht erfüllt.
EU-Freizügigkeitnach dem Asylverfahren
Ein anderer Vorschlag sieht vor, anerkannten Schutzberechtigten das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der gesamten EU zu gewähren. Die Zuständigkeit für das Asylverfahren und für den vorläufigen Schutz während des Verfahrens soll von der Frage getrennt werden, welcher Staat dem anerkannten Flüchtling langfristig Schutz und Aufenthalt gewährt. Damit wären die Asylsuchenden in der Phase des Asylverfahrens noch verpflichtet, in den ihnen zugewiesenen Mitgliedstaaten zu leben. Nach der Erteilung eines Schutzstatus hingegen wären die Flüchtlinge frei in der Entscheidung, in welchem Mitgliedstaat sie sich niederlassen möchten. Bereits im derzeitigen EU-Recht findet sich in der Daueraufenthalts-Richtlinie die Möglichkeit für Drittstaatsangehörige, bei guter wirtschaftlicher Integration von einem Mitgliedstaat in einen anderen umzusiedeln. Die Unzulänglichkeit dieser Regel liegt jedoch auf der Hand, denn die wirtschaftlich Erfolgreichen haben womöglich gar kein Interesse mehr an einer Umsiedlung, während gerade für die Perspektivlosen die Umsiedlung überhaupt erst eine Chance auf Integration darstellen könnte. Das Recht auf Freizügigkeit nach der Flüchtlingsanerkennung könnte die soziale Verelendung vieler Geflüchteter verhindern. Freizügigkeit für Flüchtlinge darf jedoch nicht von ihrer wirtschaftlichen Integration abhängig gemacht werden. Denn es wäre gerade für solche Schutzberechtigten wichtig, das Recht auf Umsiedlung zu haben, die trotz ihres Schutzstatus in Mitgliedstaaten wie Italien in völliger Perspektivlosigkeit leben. Das Recht auf Freizügigkeit nach der Flüchtlingsanerkennung könnte der sozialen Verelendung vieler Geflüchteter entgegenwirken.
Schutzsuchende haben »Free Choice« beim Zufluchtsland
Das UNHCR-Exekutiv-Komitee forderte vor sehr langer Zeit, dass »Vorstellungen des Asylsuchenden hinsichtlich des Landes, in welchem er um Asyl nachsuchen möchte […], so weit wie möglich berücksichtigt werden« sollen. Auch von anderer Seite wurde bereits auf UN-Ebene gefordert, die geltende, aber gescheiterte Logik des Dublin-Systems so zu verändern, dass Asylsuchende ihren Asylantrag im EU-Mitgliedstaat ihrer Wahl stellen können. Gleichzeitig sollten die Aufnahmestaaten in finanzieller und technischer Hinsicht proportional und angemessen unterstützt werden. Die Forderung nach der »freien Wahl des Zufluchtslands« ist in der Vergangenheit auch von verschiedenen in der Flüchtlingsarbeit tätigen Organisationen erhoben und damit begründet worden, dass Flüchtlinge schließlich in die Länder einreisen wollten, wo bereits Familie oder andere soziale Netzwerke anzutreffen sind. Die starken Bezüge zum jeweiligen Aufnahmeland stellen nicht nur für die Asylsuchenden einen Vorteil dar, sondern auch für den Aufnahmestaat. Denn die Migrationsforschung zeigt, dass Netzwerke wesentlich sind für die erfolgreiche Integration. Zudem könnten Menschenrechtsverletzungen vermieden werden: Schutzsuchende würden die Staaten bevorzugen, die das EU-Recht tatsächlich umsetzen, wodurch ihnen willkürliche Haft, menschenunwürdige Lebensbedingungen oder die Verweigerung eines fairen Asylverfahrens erspart bliebe. Dieser Ansatz betont die Rechtspositionen der Asylsuchenden am stärksten. Zwar scheint unter den gegebenen politischen Mehrheitsverhältnissen eine realpolitische Umsetzung dieses Ansatzes eher unrealistisch zu sein. Doch die Motive und Bedürfnisse der Geflüchteten sollten grundsätzlich zentrale Kriterien sein bei der Entscheidung, wo diese Menschen dauerhaft aufgenommen werden können, schließlich sind sie am unmittelbarsten von dieser Frage betroffen.
Fazit
Das Scheitern des bisherigen Dublin-Systems liegt unter anderem darin begründet, dass Asylsuchende in vielen Mitgliedstaaten Zustände vorfinden, die mit den Menschenrechten nicht vereinbar sind. Obdachlosigkeit, fehlende Versorgung, Misshandlungen, rassistische Übergriffe oder willkürliche Haft sind nur einige Beispiele. Ein neues europäisches Asylsystem muss auf diese drängenden Missstände eine Antwort finden. Die hier vorgestellten Alternativmodelle zeigen Wege auf, wie einerseits die Menschenrechte und das Recht auf Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren garantiert, aber andererseits auch positive Effekte für die Mitgliedstaaten und ein Mehr an Solidarität erzielt werden können. Angesichts der verhärteten politischen Fronten bzw. weil einige Regierungen vor allem auf Auslagerung und Verhinderung von Fluchtmigration in die EU setzen, scheinen diese Modelle jedoch momentan nicht realisierbar zu sein. Solange jedoch der Reformdiskurs geführt wird, sollten menschenrechtsbasierte Alternativen zum Dublin-System starkgemacht werden. Der Kampf für eine humanere und den Grundwerten der EU verpflichtete Flüchtlingspolitik darf nicht aufgegeben werden.
Über die Autorin
Dr. Marei Pelzer ist Juristin und seit 2018 Professorin für das Recht der Sozialen Arbeit und der sozialen Einrichtungen an der Hochschule Fulda. Von 2007 bis 2018 war sie Vorstandsmitglied der Stiftung Pro Asyl, zuvor hier von 2002 bis 2018 rechtspolitische Referentin.