Friedrichs Bildungsblog

Umgang mit geflüchteten Schüler_innen - eine Chance für stockende Debatten?

Ein Artikel von Maja Lasić

Innerhalb weniger Wochen sind tausende minderjähriger Ukrainer_innen zusammen mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet und das ist absehbar nur der Anfang. Der bevorstehende logistische Aufwand für die Länder sowie die zugespitzten Äußerungen der ukrainischen Generalkonsulin Tybinka bei der KMK rufen in Deutschland erwartungsgemäß eine Grundsatzdebatte hervor. Vereinfacht lässt sie sich zusammenfassen als Polarisierung zwischen Integration ins deutsche Bildungssystem auf der einen Seite und Beibehaltung der Beschulung nach ukrainischem System auf der anderen Seite.

Die zugespitzte Forderung von Frau Tybinka nach einer Beschulung nach ukrainischem System ist angesichts der tragischen Lage in der Ukraine nachvollziehbar. Es ist ihre Aufgabe, den zahlreichen Geflüchteten in Deutschland das Gefühl zu geben, dass eine zeitnahe Rückkehr in die Ukraine und damit eine Annäherung an das verlorengegangene „normale“ Leben im Rahmen des Möglichen steht.  Die Erfahrung mit vergangenen Fluchtwellen lehrt uns eines anderen: Kriege enden nicht schnell, das alte „Normal“ ist für immer verloren, ein relevanter Teil der Geflüchteten bleibt hier. Diese Erfahrung ist zwar irrelevant für das persönliche Empfinden jedes einzelnen Betroffenen: wenn die Geflüchteten heute gefragt werden, werden sie alle antworten, dass sie zurück gehen wollen. Aber für das politische Handeln in Deutschland muss diese Erfahrung wegweisend sein. Wir müssen den Boden vorbereiten für die Tatsache, dass ein relevanter Teil der Familien hier bleiben wollen wird, z.B. weil nichts mehr da sein wird, wohin man zurückkehren kann.

Wenn man bestehende Erfahrungen und Debatten implementiert, erkennt man schnell, dass die Polarisierung zwischen Integration vs. Rückkehr nicht zielführend ist. Ja, wir müssen behutsam und schrittweise integrieren und das ist kein Widerspruch dazu, dass parallel auch Angebote auf Ukrainisch stattfinden können. Das aktuell immer wieder genannte Mischmodell, bei dem die Kernfächer auf Ukrainisch stattfinden, während Kunst, Musik oder Sport auf Deutsch sind, erfüllen jedoch nicht den Sinn der Annäherung an das deutsche System. Wenn der Weg in das deutsche System eröffnet werden soll, müssen gerade in den sprachintensiven Fächern die Hürden abgebaut werden. Damit würde man dem Bedürfnis der Betroffenen gerecht werden und dennoch die Wege ins System öffnen. An Willkommensklassen führt damit für die Mehrheit der Schüler_innen kein Weg vorbei. Flexible Lösungen für Abschlussjahrgänge sollten jedoch möglich sein, denn bekanntlich ist der Reibungsverlust gerade in Zeiten der Übergänge zu groß. Genauso kann das Sprachbad der Regelklasse in den ersten Jahrgängen der richtige Weg sein, so lange das Erlernen der Sprachen eher intuitiv erfolgt. So weit, so bereits im Blick der politischen Entscheider_innen der KMK.

Was aber, wenn wir die aktuellen Herausforderungen nutzen, um einige wichtige Debatten, die teilweise seit Jahrzehnten der Trägheit des Föderalismus zum Opfer fallen, zum Durchbruch  zu verhelfen? Wäre das nicht eine Chance? Hier nur einige Beispiele:

  • Fachunterricht in Willkommensklassen: In meiner Willkommensklasse im NRW der 90er Jahre war es selbstverständlich, dass ich ab Tag Eins Unterricht in einem breiten Fächerkanon bekommen habe. Ich hatte neben Deutsch auch Mathe, Chemie, Erdkunde oder Englisch und eignete mir Stück für Stück die deutsche Fachsprache an. Irgendwo in den letzten 25 Jahren ist diese Erfahrung jedoch verloren gegangen, so dass die Beschulung in Willkommensklassen aktuell vollständig von einer Deutsch-als-Zweitsprache (DaZ)-Lehrkraft absolviert wird, und es damit eine strikte Trennung gibt zwischen dem Regelsystem auf der einen Seite und dem Willkommenssystem auf der anderen Seite. Es bleibt unausweichlich, dass die fachliche Entwicklung auch sprachlich langsamer voranschreitet. Der Schock für die Kinder, wenn sie nach dem Wechsel in die Regelklasse erstmalig mit dem Fachvokabular konfrontiert werden, bleibt eine enorme Hürde. Der aktuelle Mangel an Lehrkräften könnte die Bildungsminister motivieren, hier flexibler zu denken. Statt dass wir auf einem eher leergefegten Markt der DaZ-Lehrkräfte versuchen, uns diese in ausreichender Zahl zu backen um dann aus der Not heraus die Stellen mit nicht-pädagogischem Personal zu besetzen, könnten wir reguläre Lehrkräfte im Schnellverfahren in DaZ fortbilden und sie in Willkommensklassen einsetzen. Damit würden wir den Mangel zwar primär verschieben, denn der Markt der regulären Lehrkräfte ist ebenfalls dünn, aber das Gesamtsystem ist immer noch robuster als das reine System der Willkommenslehrkräfte und der Mangel würde auf breiteren Schultern getragen werden. Mehrere zentrale Forderungen der Fachszene würden damit aufgegriffen (endlich Fächercurriculum in Willkommensklassen sowie endlich breit angelegte DaZ-Fortbildungen für alle Lehrkräfte), während Kultusminister_innen ihre Hauptsorge besser in den Griff bekommen, nämlich die Verwaltung des Fachkräftemangels.
  • Integration der ukrainischen Lehrkräfte: Die aktuelle Debatte greift immer wieder das Argument auf, dass zahlreiche ukrainische Lehrkräfte ebenfalls geflüchtet sind und zur Beschulung der ukrainischen Schülerinnen und Schüler eingesetzt werden können. Abgesehen von inhaltlichen Argumenten, die zu Beginn genannt wurden, spricht auch alleine die jeweilige Anzahl gegen dieses Vorgehen. Für die großen Bedarfe der Willkommensklassen wird die Anzahl der zur Verfügung stehenden Kräfte nicht ausreichen. Die Sinnhaftigkeit der Integration der Lehrkräfte steht jedoch außer Frage. Sei es als Lehrkräfte im herkunftssprachlichen Unterricht für Regelklassen oder als Mitbetreuer_innen in Willkommensklassen oder auch schlicht als Fachlehrkräfte - die Kolleg_Innen sollten uns willkommen sein. Und vielleicht nutzen wir auch hier das Momentum für das Lüften angestaubter KMK-Debatten: die Integration der Lehrkräfte wird nur funktionieren, wenn das Zwei-Fach-Dogma aufgehoben wird (um als Lehrkraft zugelassen zu werden ist in der Regel der Abschluss zwei schulrelevanter Fächer vorausgesetzt). Wann, wenn nicht jetzt, sollten ausländische Lehrkräfte mit nur einem Fach als vollwertige Kolleg_innen anerkennen? Aber auch die Anerkennung der Herkunftssprachen als erste Fremdsprache hängt an der KMK und ist ein entschiedenes Hemmnis auf dem Weg zur Integration der Geflüchteten.
  • Integration von Jugendlichen: Das fortwährende Sorgenkind bleiben jedoch junge Menschen jenseits der Schulpflicht. Die Systeme sind auf sie selten vorbereitet. Die fehlende Schulpflicht bildet hier ein zusätzliches Hemmnis für die Integration. Das duale System, auf das wir zurecht stolz sind, bleibt leider nicht kompatibel mit den Ausbildungssystemen anderer Länder. Hier gilt es die in 2015 etablierten Systeme wie die Integrierte Berufsausbildung (IBA) mit ihrer Besonderheit der engmaschigen, individuellen Berufsbegleitung auszuweiten. Aber auch heilige Kühe, wie das 11. Pflichtschuljahr im Zusammenhang mit einer Ausbildungsplatzgarantie gehören auf den Tisch, um auch die Jugendlichen im Übergang nicht auf dem Weg zu verlieren. Auch hier würde eine stockende Debatte über unsere Übergangssysteme zum Durchbruch kommen.

Das Fazit unserer aktuellen Lage kann nur sein, dass die bestehenden Herausforderungen dann erfolgreich gemeistert werden, wenn sie auch als Chance begriffen werden. Alte Debatten unserer Einwanderungsgesellschaft könnten ein gutes Stück weitergeführt werden und unser Bildungssystem sich unserer Lebensrealität weiter annähern. Was für eine Chance! Auf geht’s, es bleibt viel zu tun.

 

Dr. Maja Lasić ist Mitglied des Beirats des Netzwerk Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Von 2016 bis 2021 war sie bildungspolitische Sprecherin der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. Seit Anfang 2022 ist sie Lehrerin an einer Sekundarschule in Berlin-Wedding. Maja Lasic kam 1993 als Geflüchtete vor dem Bosnienkrieg nach Deutschland.



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

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