Ein regional, schulfach-, schulstufen- oder schulartbezogen extremer Lehrermangel führt dazu, dass sich der Zugang in den Lehrerberuf durch die gehäufte Einstellung von Seiteneinsteigern ohne jede formelle Lehrbefähigung öffnet. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch: Dies ist in Deutschland keineswegs ein neues Phänomen.
Eigentlich gehört der Lehrerberuf in Deutschland zu den besonders geschützten Berufen wie Ärzte, Rechtsanwälte, Pharmazeuten usw. Die Ausübung solcher Berufe ist in der Regel an die Absolvierung von Universitätsstudien und Staatsexamina resp. Masterabschlüsse gebunden. Entsprechend dem hohen Anspruchsniveau gehört die deutsche Lehramtsausbildung weltweit zu den aufwendigsten und längsten (sicher nicht zu den besten, was die Vorbereitung auf den Beruf anbelangt). Diese exklusive Zugangsbedingung erwies sich allerdings für Lehrkräfte schon immer als löchrig. Inzwischen führt ein regional, schulfach-, schulstufen- oder schulartbezogen extremer Lehrermangel dazu, dass sich der Zugang in den Lehrerberuf durch die gehäufte Einstellung von Seiteneinsteigern ohne jede formelle Lehrbefähigung öffnet. Selbst unstudierte Bewerber oder solche ohne Abitur sind nicht mehr völlig chancenlos.
Eine generelle Bemerkung vorweg: der Grad einer „guten“ oder „schlechten“ Lehrerversorgung richtet sich nach dem Verhältnis von Schülern zu sie unterrichtenden Lehrern. Dieses Verhältnis hängt von etlichen Variablen ab, die bei gegebener Schüler- und Lehreranzahl zu sehr unterschiedlichen Versorgungsquoten führen können. Solche Variablen sind vor allem die ministeriell gesetzten Regelklassengrößen, die beamten- oder tarifrechtlich geregelten Lehrerarbeitszeiten, sowie die Dauer von Bildungsgängen. So führt beispielsweise die 3jährige gymnasiale Oberstufe zu einer um 50% (!) erhöhten Anzahl der für diese Schulstufe benötigten Lehrer gegenüber der in den ostdeutschen Bundesländern, Hamburg, Bremen und dem Saarland geltenden G8-Regelung. Für keine der genannten Variablen bietet die empirische Bildungsforschung innerhalb des breiten Rahmens international für den Schülererfolg als maßgeblich erkannter Faktoren klare Entscheidungskriterien. Es handelt sich um gesellschaftlich akzeptierte Besitzstände, um geschätzte Vertrautheiten und natürlich auch um kulturell geprägte Eigenheiten. Insofern ist „Lehrermangel“ oder „Lehrerüberfluss“ nicht an fixen Verhältniszahlen festzumachen, sondern geht immer von – wie auch immer gesetzten – Prämissen aus, die für die jeweilig vorherrschende Beurteilung von Lehrer-Schüler-Relationen akzeptiert sind – und interessanterweise selbst in der aktuellen Mangelsituation überhaupt nicht diskutiert werden.
Lehrermangel ist kein neues Phänomen, sondern eher Normalität
Zunächst ist selbst extremer Lehrermangel in Deutschland durchaus kein neues Phänomen. Im Gegenteil zeigt sich, dass sowohl in der westdeutschen Bundesrepublik als auch in der ostdeutschen DDR die hinreichende Ausstattung der Schulen mit ausgebildeten Lehrern über das volle Fächerspektrum und alle Schularten hinweg wohl nie erreicht wurde und zumindest sektoraler Lehrermangel die lediglich mehr oder minder ausgeprägte Normalsituation war. In Westdeutschland herrschte nach dem Krieg bis weit in die 1960er-Jahre großer Lehrermangel begleitet von häufigen Werbekampagnen, über die tausende von Seiteneinsteigern, die über ein Abitur verfügen mussten, mit bis zu zweijährigen Qualifizierungskursen in den Schuldienst gelangten. Diese Situation entspannte sich erst Ende der 1960er-Jahre in den Auswirkungen eines dramatischen Geburtenrückgangs und einer massiven Aufwertung der Lehrertätigkeiten, um Ende der 1970er-Jahre in eine rund anderthalb Jahrzehnte währende Beschäftigungskrise für zehntausende Lehrerabsolventen einzumünden.[1] Aber bereits Mitte der 1980er-Jahre signalisierten Prognosen wieder sektoralen Lehrermangel ab Beginn der 1990er-Jahre, der sich bei insgesamt entspannter Lehrerbeschäftigung auch einstellte.
In der DDR war die Nachkriegssituation dadurch geprägt, dass in der Sowjetischen Besatzungszone weitaus mehr Lehrer als politisch belastet nicht in den Schuldienst übernommen wurden als in den Westzonen. In die entstandenen Lücken rückten bis 1952 sog. „Neulehrer“ ein, die auf ihren neuen Beruf zunächst innerhalb einiger Wochen und Monate, dann in Achtmonatsprogrammen vorbereitet wurden.[2] Es folgten Jahre der Schaffung und Konsolidierung eines einphasigen, d.h. an Schulpraxis angebundenen Ausbildungssystems in Fachschulen, Pädagogischen Hochschulen und zum kleineren Teil auch Universitäten. Begleitet wurde dies durch immer wieder auftretenden schulart- oder fächerbezogenen Mangel an ausgebildeten Lehrern. Erst zu Beginn der 1980er-Jahre verkündete Margot Honecker ein Ende des jahrzehntelangen Lehrermangels.[3]
Seiteineinstieg in MINT-Fächer: seit Jahrzehnten notwendig
Selbst als in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Bundesrepublik ein numerisches Überangebot an ausgebildeten Lehrern bestand, gab es Schularten, vor allem berufliche Schulen und Fachoberschulen, sowie Mangelfächer, deren fachliche Versorgung nur durch Seiteneinsteiger erreicht werden konnte. So hat der Seiteneinstieg in MINT-Fächer eine jahrzehntelange Tradition, die am Beispiel des Fachs „Physik“ selbst für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, das hinsichtlich der Lehrerversorgung insgesamt eher unauffällig war, ein sehr beträchtliches Ausmaß hatte: Eine Studie zum Seiteneinstieg von Physiklehrern über die Jahre 2002 bis 2008 ergab bundesweite Quoten von nicht grundständig ausgebildeten Physiklehrern von 10% (2002), 24% (2003), 40% (2004), 60% (2005), 61% (2006), 64% (2007), 46% (2008), wobei die letzte Zahl keine Trendumkehr signalisierte, da für 2009 sich wieder eine höhere Quote andeutete.[4] Unter den Bundesländern verzeichneten die ostdeutschen Länder bis auf Berlin und Brandenburg keine Seiteneinstiege, was die berichteten Quoten für das übrige Bundesgebiet noch anhebt. Dass es sich hierbei nicht nur um ein physik- bzw. landesspezifisches Problem mit Lösungsaussichten durch Zeitablauf handelt, zeigt eine Abschätzung von Klaus Klemm aus dem Jahr 2015, wo er auf eine andauernde und auch die anderen naturwissenschaftlichen Fächer – mit Ausnahme von Biologie – betreffende massive Unterversorgung um rund 50% mindestens bis zum Jahr 2026 kommt.[5]
Der Einsatz von Seiteneinsteigern: Wirklich ein Problem für die Qualität?
Anknüpfend an die verbreitete Selbstverständlichkeit der Annahme, „normal“ ausgebildete Lehrer wären Seiteneinsteigern professionell grundsätzlich überlegen, erhebt sich die interessante Frage: Wenn in dem skizzierten Ausmaß über so lange Zeiten Seiteneinsteiger die schulische Unterrichtspraxis wesentlich mitgeprägt haben, müsste sich doch deren beruflicher Dilettantismus in mangelhaften Erziehungsresultaten und Lernleistungen ganzer Schülergenerationen niedergeschlagen haben. Unter den verfügbaren unmittelbaren (z.B. Notenspiegel, vereinzelt gemessene Schülerleistungen, „Erwachsenenpisa“[6]) und mittelbaren (z.B. Wirtschaftsleistung, Kriminalitätsentwicklung) Indikatoren lässt keiner derlei Korrelationen zu. Gleichzeitig zeigen beunruhigende Schülerleistungserhebungen für Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I aus Jahren, in denen die Lehrerversorgung für diese Schulen noch im Lot war, dass die aufwendigen und langwierigen etablierten Lehrerausbildungswege sich hinsichtlich ihrer realen Professionalisierungseffekte keineswegs fraglos bewährt haben: Die teils miserablen Ergebnisse gemessener Schülerleistungen bei Vergleichsuntersuchungen (z.B. IQB-Bildungstrends, VERA, TIMSS, PISA) spiegeln bislang noch die Unterrichtsergebnisse nicht von Seiteneinsteigern, sondern von grundständig ausgebildeten Lehrern wider. Man darf auf kommende Vergleichsuntersuchungen unter den neuen Rekrutierungsbedingungen gespannt sein und die Hoffnung auf einen Professionalisierungsschub in der Lehrerausbildung hegen.
Prof. Dr. Bernhard Muszynski ist Geschäftsführer des „Instituts zur Weiterqualifizierung im Bildungsbereich an der Universität Potsdam“
[2] Vergl.: Holger Wuschke: Stadium der Improvisation – Neulehrerausbildung und Arbeitsschulmethode in der SBZ und der frühen DDR (1945–-1952). In: Christa Binder, (Hg.): Beiträge zum XIV. Österreichischen Symposium zur Geschichte der Mathematik vom 29.04.–05.05.2018, S. 114–-123. Unter: http://www.math.uni-leipzig.de/~wuschke/uploads/pdf/Miesenbach18.pdf. Zuletzt 22. 8. 2019.
[4] Friedericke Kornneck, Jan Lamprecht: Quer- und Seiteneinstiege in das Lehramt Physik. Eine Analyse bundesweiter Daten von 2002 bis 2008. Physik und Didaktik in Schule und Hochschule 1/9 (2010), S. 1–-14.
[5] Klaus Klemm: unter: https://www.telekom-stiftung.de/sites/default/files/files/media/publications/MINT-Lehrerbedarf_Studie_gesamt.pdf. Zuletzt 27. 8. 2019.
[6] Beatrice Rammstedt (Hg.): Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Münster 2013.