Friedrichs Bildungsblog

„Je länger die Schulen geschlossen bleiben, desto problematischer wird es.“

Schulpsychologe Matthias Siebert spricht im Interview über die Auswirkungen der Schulschließungen auf Schülerinnen und Schüler, den Umgang mit der aktuellen Ausnahmesituation und die Zeit nach den Schulöffnungen.

Bild: Matthias Siebert von privat

Friedrichs Bildungsblog: Die aktuelle Situation stellt eine riesige Herausforderung für alle dar. Die Freude über Schulschließungen wird bei den meisten Schüler_innen nicht lange angehalten haben. Was macht dieser drastische Einschnitt im Alltag mit den Schülerinnen und Schülern?

Matthias Siebert: Die Gefühlswelten der Schüler_innen werden von inneren und äußeren Faktoren abhängen. Der drastische Einschnitt von außen ist, dass der Alltag, den die Schülerinnen und Schüler kennen, nicht mehr existiert. Das Alltägliche im Ausnahmezustand ist unbekannt und muss erst geschaffen werden. Keiner geht zur Schule und doch sind keine Ferien, eine Situation, die völlig neu ist. In den Ferienzeiten sind Verabredungen mit Freundinnen und Freunden möglich, nun gilt es diese zu vermeiden. Persönlicher Kontakt wäre auch aus psycho-sozialer Sicht vorzuziehen, doch die Situation ermöglicht nur noch den digitalen Kontakt. Dies führt auch zu einer Berührungsarmut. Eine große Krankenkasse hat gerade noch geworben: „Geht Omas drücken!“. Gerade in den letzten Jahren wurden Studien veröffentlicht, die belegen, wie gesundheitsförderlich taktile Berührungen sind. Jugendliche, die sich in ihrem Autonomiebestreben eher körperlich von ihren Eltern distanzieren, fehlen nun auch die körperlichen Begegnungen in ihrer Peergroup.    Die mediale und öffentliche Präsenz der „Corona-Krise“ wirkt sich ebenfalls auf die Gefühlswelt der Schüler_innen aus. Aus der Notfallpsychologie wissen wir, dass Menschen sehr unterschiedlich in Krisenzeiten empfinden, auf diese reagieren und diese bewältigen. Gerade jetzt ist es wichtig zu verstehen, dass individuelle Reaktionen und Empfindungen normal sind.  

Durch die Schulschließungen werden die Schülerinnen und Schüler ganz auf ihre Elternhäuser zurückgeworfen. Viele Eltern versuchen die Situation mit eigenem Engagement aufzufangen. Was ist aber mit denen, deren Eltern dieses Engagement nicht aufweisen und denen jetzt jegliche Struktur wegbricht? Wie können die erreicht werden?

Viele Lehrkräfte können zu ihren Schüler_innen einen Kontakt aufrecht halten und aus der Ferne auf die Strukturen zurückgreifen, die sie bestenfalls in der Unterrichtszeit etabliert haben. Eine Chancengleichheit herzustellen wird allerdings in der aktuellen Ausnahmesituation nochmal schwieriger sein, als es ohnehin schon der Fall ist. Ein häufiger Anmeldegrund in der Schulpsychologie war schon lange eine Überforderung in der Hausaufgaben-Situation. Eltern sind häufig emotional zu dicht an ihren Kindern dran. Viele Kinder möchten ihre schulischen Defizite nicht mit ihren Eltern teilen, sie schämen sich. In der schulpsychologischen Beratung werden häufig diese Konflikte besprochen. Je länger die Schulen geschlossen bleiben, desto problematischer wird es.

Wie kann es denn gelingen, Struktur in den neuen Alltag der Schülerinnen und Schüler zu bringen, ohne dass sich Eltern selbst komplett überfordern?

Viele berichten davon, dass ihnen ein häuslicher Stundenplan mit Arbeits- und Ruhephasen hilft. Dabei können auch die Zeiten der Eltern mit aufgenommen werden. Die eigenen Homeoffice-Zeiten können mit den Schulaufgaben, die selbstständig erledigt werden können, angeglichen werden. Die gesteckten Ziele dürfen herausfordernd sein, sollten allerdings auch erreichbar bleiben, damit sich echte Erfolgserlebnisse einspielen. So erleben die Kinder ihre Selbstwirksamkeit am besten. Wenn die Ziele erreicht sind, können vorher abgestimmte Belohnungen erhalten werden. Je nach Alter, Bedürfnissen und Interessen, werden diese sehr unterschiedlich sein.

In den Medien wird viel von Corona-Partys und Jugendlichen berichtet, die offenbar nichts kapiert haben. Auch bei den Schülerinnen und Schülern wird es ja aber Ängste in dieser aktuellen Situation geben oder aber sie erleben die Ängste der Eltern z.B. um Jobs und finanzielle Sicherheit mit. Wie arbeiten Sie mit diesen Schülerinnen und Schülern?

Schulpsychologische Beratung und Diagnostik findet üblicherweise im persönlichen Kontakt in einem Beratungszentrum statt. Die Nutzenden wenden sich häufig auf Empfehlung der Schulen an uns. Mit der Schulschließung wurden auch die Beratungszentren für die Öffentlichkeit geschlossen und unsere Beratung hat sich somit auf das Telefon und den Mailverkehr verlagert. Viele Hilfsorganisationen bieten eine Hotline für die telefonische Beratung an. Kinder- und Jugendlichentherapie-Praxen gehören zu den systemrelevanten Berufen und bieten die psycho-soziale Versorgung auch während der Corona-Krise an.

Die erlebte Verunsicherung kann davon abhängen, wie die Familie und man selbst bisher schwierige Lebenssituationen bewältigt hat. Ängste sind normal, nachvollziehbar und können mit der aktuellen Situation erklärt werden. Aufgabe von Psycholog_innen ist es hierüber zu informieren und auf die Zusammenhänge zu verweisen (Psychoeduktion). Wenn der Grund externalisiert werden kann, die Empfindungen und Reaktionen als normal verstanden werden können, kann dies bereits beruhigend wirken. Wichtig ist nur, es kann genauso normal sein, jetzt keine Ängste zu empfinden. Corona-Partys könnten nicht nur mit einer grundsätzlich höheren Risikobereitschaft in der Altersgruppe oder mit einem oppositionellen Verhalten erklärt werden, sondern auch als Bewältigungsstrategie interpretiert werden.

Auch der Zeitpunkt, wann uns eine Krise berührt und beeinflusst, kann sehr unterschiedlich sein. Im Moment sind wir noch mitten in der Krise und hier sind viele in der Lage gut zu funktionieren. Wir alle müssen uns darauf einstellen, dass es Nachwirkungen geben wird, die auch erst weit nach Krisenende einen Einfluss haben. Wir Schulpsycholog_innen bereiten uns darauf vor, dass uns viele Anfragen bei Öffnung der Schulen erreichen werden, die unmittelbar oder mittelbar mit der Krise im Zusammenhang stehen.

Was bedeuten die Kontaktsperren gerade für Jugendliche in der Pubertät? Welche psychosoziale Folgen haben diese Maßnahmen in dieser Lebensphase? Und wann wäre aus Ihrer Sicht zeitlich eine kritische Grenze überschritten?

Laut The National Child Traumatic Stress Network können neben den genannten Ängsten und Verhaltensweisen körperliche Symptome (z.B. Kopfschmerzen), Schlaf-  und Appetitstörungen, vermehrter oder verminderter Bewegungsdrang, Apathie, sozialer Rückzug mögliche Erscheinungsformen sein.

Die Meinungsbildung der Jugendlichen unterliegt vielen Einflüssen. Hier wird es um Vorurteile, Stigmatisierungen, Gerüchte und Fake-News gehen.

Die Schulschließungen werden sich auf schuldistantes Verhaltensweisen auswirken. Studien zur Schuldistanz zeigen, dass längere Abwesenheit zu einer Chronifizierung führt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es zulässig ist, diese Erkenntnisse auf die aktuelle Situation zu übertragen.

Wie wird nach der Corona-Krise diese Zeit aufgearbeitet werden müssen? Kann man den Schulstoff einfach nachholen, wie kann und muss die Zeit reflektiert werden und wie neue Überforderung verhindert werden?

Die Aufarbeitung wird auf verschiedenen Ebenen stattfinden müssen. Der Unterricht wurde in der Zeit sehr unterschiedlich aufrechterhalten. Lehrkräfte haben auf unterschiedliche Art den Kontakt zu ihren Schüler_innen gehalten. Lehrkräfte waren teilweise über digitale Möglichkeiten (Video-Konferenzen) mit ihren Schüler_innen im Kontakt. Es werden Schüler_innen in die Schule kommen, die ihren Lernplan mit oder ohne Unterstützung der Eltern erfüllt haben. Andere werden die Zeit über wenig bis keine Schulaufgaben erledigt haben. Doch die Bildungsebene kann nicht ohne die Beziehungsebene funktionieren. Zunächst wird es eine Zeit brauchen, bis wirklich alle angekommen sind. Viele werden reflektieren wollen, andere werden auch schnell den Alltag zurück haben wollen. Es wird eine Herausforderung sein die unterschiedlichen Bedürfnisse und den unterschiedlichen Lernfortschritt zu bedienen. Dies ist allerdings eine Herausforderung, die die meisten Lehrkräfte durchaus als alltäglich bezeichnen können.

 

 

Matthias Siebert ist Dipl. Psychologe und Gestalttherapeut für Kinder- und Jugendliche. Er leitet den Fachbereich Schulpsychologie im SIBUZ Steglitz-Zehlendorf und ist Vorsitzender des Landesverbands Schulpsychologie Berlin e.V.

 



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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