Friedrichs Bildungsblog

Den Abi-Kompromiss 2020 zu einer Modernisierung des Abiturs nutzen!

Das Abitur in seiner heutigen Form ist ein Relikt vergangener Zeiten. Die Corona-Krise kann dazu beitragen, überfällige Reformen anzustoßen.

Bild: Klaus Hurrelmann / Dieter Dohmen von Privat

Von Dieter Dohmen  und Klaus Hurrelmann


Die Kultusministerinnen und -minister haben gerade entschieden, dass die Abiturprüfungen in diesem Jahr stattfinden sollen. Dies ist nach unserer Auffassung eine sehr gute Nachricht für Tausende von jungen Leuten. Das Abitur ist zum Standardabschluss in Deutschland geworden. In der biografischen Lebensplanung der Mehrheit der Familien ist dieser Schulabschluss eine feste Größe. Eine Absage der Abschlussprüfung oder eine Verschiebung auf unbestimmte Zeit wäre von der Mehrheit der Betroffenen kaum zu verarbeiten gewesen.  In den 16 Bundesländern bereiten sich seit mehreren Monaten rund 400.000 Schülerinnen und Schüler auf die Abiturprüfungen vor. Die Prüfungen bilden den Abschluss einer langen Schulkarriere, die mit großer Intensität geplant worden ist.

Der Stellenwert des Abis ist in den letzten Jahren immer weiter gewachsen. In der letzten Shell Jugendstudie geben schon fast 70 Prozent aller befragten 12 bis 25 Jahre alten Befragten an, das Abitur anzustreben. Den gleichen Wert ergeben Elternbefragungen. Das Abitur gilt mehr und mehr als ein nicht nur wünschenswerter, sondern notwendiger Schulabschluss, der eine Voraussetzung dafür ist, die Einmündung in Ausbildung und Beruf sicherzustellen. Die meisten Eltern wählen Schulen in Anschluss an die Grundschule strategisch danach aus, ob sie einen Zugang zur Abiturprüfung ermöglichen. Deswegen ist der Anteil von Schülerinnen und Schülern an an Schulen, die eine eigene gymnasiale Oberstufe haben, immer weiter angestiegen. Vor allem Gymnasien haben von diesem Trend in den letzten Jahren enorm profitiert.

Der Anteil der jungen Leute, die ihre Schulzeit mit dem Abitur abschließen, ist in den letzten Jahren immer weiter angestiegen und bewegt sich in diesem Jahr auf die Schwelle von 50 Prozent eines Altersjahrgangs zu. Auch wenn die Hochschulen ihre Studienplatzkapazitäten deutlich erhöht haben, ist dadurch der Druck gestiegen, sehr gute Abschlüsse zu schaffen – auch weil immer mehr leistungsstarke Studienberechtigte aus anderen Ländern an deutsche Hochschulen drängen. Den enormen Leistungsdruck zeigt auch die hohe Zahl von Abiturprüfungen, die mit einer Eins vor dem Komma abgeschlossen werden.  

Pragmatische und intelligente Alternativlösungen sind gefordert

In einer derart angespannten Lage die für den April oder Mai vorgesehenen Abiturprüfungen abzusagen oder auf unbestimmte Zeit zu verschieben, das wäre für alle Beteiligten nicht hinnehmbar. Auf eine Prüfung, die von zentraler Bedeutung für Entscheidungen über den weiteren Bildungs- und Lebensweg ist, müssen sich die Schülerinnen und Schüler systematisch vorbereiten können. Schon Wochen vor dem Abschlusstermin müssen sie wissen, wann die Prüfungen stattfinden und in welchen Schritten sie sich auf welche konkreten Aufgaben vorbereiten müssen. Sie brauchen Planungssicherheit.

Wir appellieren daher an die zuständigen Ministerien, die Abschlussprüfungen gezielt auf einen festen, aber möglichst späten Zeitpunkt im Sommer festzulegen und davon auszugehen, dass die Schulen noch längere Zeit, wenn nicht gar bis zu den Sommerferien geschlossen bleiben müssen. Deswegen wird es sich bei den Prüfungen auch nicht um einen Ablauf handeln können, wie er in den bisherigen Abiturregelungen vorgesehen ist. Vielmehr sollten pragmatische und intelligente Alternativlösungen gefunden werden. Zwar steht ein großer Teil der Benotung bei den künftigen Abiturientinnen und Abiturienten bereits fest, weil die Leistungen der letzten beiden Jahre in das Abschlusszeugnis einfließen. Allerdings werden die Abi-Prüfungsnoten in allen Ländern überproportional stark gewichtet und können bis zu einem Drittel in die Gesamtnote einfließen.

Sollte es nicht möglich sein, die noch fehlenden Leistungen über digitale Plattformen oder Klausurersatzleistungen zu absolvieren, könnten die Ministerien auch darüber beraten, ob die bisher erbrachten Leistungen ausnahmsweise für den Abschluss gewertet werden. In einer ungewöhnlichen Notsituation ist das zu rechtfertigen, auch wenn nicht völlig ausgeschlossen werden kann, dass es zu Rechtsstreitigkeiten über die Vergleichbarkeit mit früheren oder späteren Abiturjahrgängen bei begehrten Numerus-Clausus-Fächern wie Medizin kommt.  

Corona-Krise: Anstoß für überfällige Reform des Abiturs

Sobald die Abschlussprüfungen trotz der Coronakrise erfolgt sind, sollte die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Überprüfung genutzt werden, ob der heutige Modus noch den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Die Abi-Prüfung heißt immer noch ‚Hochschulreife’, sie schafft eine verbindliche Studienberechtigung, wodurch eine einseitige Orientierung auf ein Studium an Fachhochschulen, Dualen Hochschulen oder Universitäten programmiert ist. Weil immer mehr junge Leute das Abitur erwerben, leidet darunter die Akzeptanz der anderen Schulabschlüsse wie auch der beruflichen Ausbildungswege, obwohl auch für diese in zunehmendem Maße faktisch die Hochschulreife benötigt wird, besonders aufgrund steigender Anforderungen in Berufsausbildung und -praxis. Dies dürfte über kurz oder lang auch dazu führen, dass ein immer größerer Teil der beruflichen Ausbildung in die Hochschulen verlagert wird.
 
Dem Beispiel anderer Länder folgend sollte nach unserer Einschätzung das Abitur in Zukunft zu einem Abschluss umgestaltet werden, der kein rechtlich verbindliches Zertifikat für den Hochschulzugang mehr darstellt. Nach internationalem Vorbild sollten vielmehr genau profilierte Aufnahmeprüfungen der jeweiligen Ausbildungsinstitution darüber entscheiden, welche jungen Leute den Zugang erhalten. Damit entfällt zugleich die heute weit verbreitete rein taktische Wahl von Leistungsfächern, nur um einen guten Abschuss zu erhalten. Hierbei sei darauf hingewiesen, dass ein solches Wahlverhalten absolut rational ist und auf ein hohes Verständnis der Zusammenhänge zwischen der Abiturnote und den abschließenden Bildungschancen schließen lässt.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Notenorientierung nicht ganz entfallen und durch qualifizierte Angaben zu Kompetenzen und Fähigkeiten, Motivationen und Zielsetzungen ersetzt werden sollte. Simple Noten oder Punkte werden einer zunehmenden Vielfalt von Ausbildungs- und Lebenswegen sowie differenzierten Bildungs- und Lernprozessen mit sehr unterschiedlichen Anforderungen nicht mehr gerecht. Auch ist zu fragen, wie man zukünftig die häufig außerhalb der Schule erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten berücksichtigen kann. Heute steht eine Vielzahl von Informations- und Lernangeboten zur Verfügung, insbesondere über das Internet. Die dort erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten fließen bisher nur dann indirekt in die Noten mit ein, wenn sie sich auf die Fachleistungen auswirken. Unberücksichtigt bleiben aber die vielfältigen Kompetenzen, Fähigkeiten, Wissensbestände und Informationen, die junge Leute im Alltag auf eigene Initiative erwerben. Sie sollten unserer Ansicht nach in eine modernisierte Abiturprüfung eingehen.

Bedenkt man alle diese Möglichkeiten, ist das Abitur in seiner heutigen Form ein Relikt vergangener Zeiten. Die Krise kann auch hier dazu beitragen, überfällige Reformen anzustoßen.

 

Klaus Hurrelmann ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School, University of Governance in Berlin und Senior Expert am FiBS Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie.  
Dieter Dohmen ist Inhaber und Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie in Berlin. Er arbeitet seit 30 Jahren als Forscher und Berater.

 



Über diesen Bildungsblog

Friedrichs Bildungsblog ist der bildungspolitische Blog der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich Ebert ist nicht nur Namensgeber der Stiftung.

Sein Lebensweg vom Sattler und Sohn eines Schneiders zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Deutschlands steht für Aufstieg durch Bildung.

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Katja Irle, Redaktionelle Betreuung des Blogs, Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin 

Lena Bülow, Team Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

Florian Dähne, Leiter Bildungs- und Hochschulpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung

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