Strategiedebatten Uruguay

Das leuchtende Beispiel für erfolgreiche progressive Politik in Lateinamerika steht vor einem Regierungswechsel: Bei der wegweisenden Wahl vom 24. Oktober 2019 konnte die Mitte-Links-Partei Frente Amplio zwar ihren Status als stärkste Kraft verteidigen (39,2%), verlor nach 15 Jahren jedoch ihre absolute Mehrheit. In ihrer Regierungszeit war Uruguay zum demokratischsten, am wenigsten ungleichen und wirtschaftlich erfolgreichsten Land Lateinamerikas geworden.

Der Opposition gelang es jedoch, sich das langsamere Wirtschaftswachstum mit sinkender Beschäftigung und steigender Unsicherheit zu Nutze zu machen – beide Themen dominierten die Wahlkampagne. Obwohl die wichtigste Oppositionspartei, die konservative Partido Nacional, zunächst schlechter abgeschnitten hatte als 2014, gelang es ihr im zweiten Wahlgang, die Unterstützung aller anderen wichtigen Oppositionsparteien für ihren Kandiaten Luis Lacalle Pou zu sichern.

Diese „Vielfarbenkoalition“ verfolgt eine größtenteils neoliberale Agenda: Austerität und Haushaltskürzungen, schlanker Staat, Deregulierung, Öffnung für internationalen Handel sowie mehr Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen. In gesellschaftspolitischen Fragen ist die Koalition jedoch deutlich weniger geeint. In den beiden traditionellen Parteien, Partido Nacional und Partido Colorado, ringen liberale Flügel mit konservativen. Darüber hinaus gehört auch die neu gegründete rechte Bewegung Cabildo Abierto der Koalition an, die mit einem autoritären Anti-Establishment und Anti-Liberale-Werte Diskurs 10,9% Protestwähler auf sich vereinen konnte. Damit ist die Partei die größte Neuerung in einem ansonsten bemerkenswert stabilen Parteiensystem. Besonders erfolgreich war sie mit dem Thema innere Sicherheit und ihrem Versprechen, mit harter Hand zu regieren; der FA gelang es nicht, dem eine progressivere Alternative entgegenzusetzen.

In Erwartung der Anti-FA-Koalition war die Kampagne sehr auf ökonomische Fragen zugespitzt, wobei die beiden wichtigsten Kandidaten für das Präsidentenamt die Idee der „Zwei Modelle“ propagierten. Der Ton der Kampagne war jedoch eher moderat, da beide Kandidaten in kulturellen Fragen um die Mitte warben und sich zeitweilig sogar von den Programmen ihrer Parteien distanzierten.

Der Slogan der FA „das Gute nicht zu verlieren und es noch besser zu machen“ bringt zum Ausdruck, wie schwierig der Balanceakt der FA war, sowohl ihr Erreichtes zu verteidigen als auch den Bedarf an neuen Ideen zuzugestehen. Ihr Programm versuchte folglich, wirtschaftliches Gleichgewicht mit Verteilungspolitik, einem starken Staat (auch starken staatlichen Unternehmen), Bürgerrechten, Arbeitsrechten und sozialem Fortschritt zu kombinieren; zusätzlich nahm es zuvor vernachlässigte Forderungen der feministischen und Umwelt-Bewegungen auf.

Die FA zeichnete von sich selbst das Bild der Garantin einer stabilen Regierung als Gegensatz zu der brüchigen Koalition der Oppositionsparteien.

Die politische Landschaft Uruguays

Kurzbeschreibung der politischen Parteien

Frente Amplio

Die Frente Amplio regierte Uruguay seit 2005. Trotz einiger Abnutzungserscheinungen nach drei Regierungszeiten ist sie noch immer eine starke und umfassende Links-Koalition. Sie erhält mit 39,2% immer noch bei weitem die meisten Stimmen. Dennoch hat sie zuletzt ihre absolute Mehrheit verloren.

Die Wahl von 2019 leitete einen Generationenwechsel ein, im Zuge dessen das altgediente Trio aus Pepe Mujica, Tabaré Vázquez und Danilo Astori in den Hintergrund trat. Der Kandidat von 2019, Daniel Martínez, früherer Bürgermeister von Montevideo, hatte zunächst Schwierigkeiten, seine Position zu sichern. Während des Wahlkampfes verbesserte sich seine Position aber schrittweise, indem er sich diskursiv darauf konzentrierte, zwei ökonomische Modelle einander gegenüberzustellen. Der Slogan der FA „das Gute nicht zu verlieren und es noch besser zu machen“ verdeutlicht ein Programm, das versucht, ökonomisches Gleichgewicht mit Verteilungspolitik, einem starken Staat und sozialem Fortschritt sowie Umweltthemen, erneuerbaren Energien, Feminismus und sozialen Rechten zu verbinden.

Die FA wurde als Koalition 1971 gegründet und umfasst rund 30 Parteien und Bewegungen: Von der Kommunistischen Partei über die Sozialistische Partei zur Christlich-Demokratischen Partei. Diese Diversität wurde während des Wahlkampfes jedoch nicht betont. Die Kampagne versuchte eher, die Partei als relativ einheitlich darzustellen. Sie zeichnete die Partei außerdem als die Garantin einer stabilen Regierung, die sich gegen die brüchige Parteienkoalition der Opposition wendet. Daniel Martínez´ gemäßigter Kurs richtete sich an unentschlossene Wähler und stellte Themen wie Sicherheit und Wirtschaft in den Mittelpunkt. Das Wahlprogramm der FA ist jedoch eindeutig links in der Wirtschaftspolitik (Verteidigung der staatlichen Unternehmen, Umverteilung und Sozialpolitik) und modernisierend in gesellschaftspolitischen Fragen (Geschlechtergerechtigkeit, Verteidigung der Fortschritte bei sozialen Rechten). Dies lässt sich durch den starken Einfluss erklären, den die Basis bei der Formulierung des Programms Monate vor der Wahl genommen hat.

 

Partido Nacional

Die PN ist eine von Uruguays traditionellsten Parteien, die bis auf das Jahr 1836 zurückgeht, und war während der Regierungszeit der FA die Hauptoppositionspartei. Sie konnte ihre Wahlergebnisse seitdem jedoch nicht signifikant steigern (28,6% in 2019). Ihr Präsidentschaftskandidat Luis Lacalle Pou erhielt aber die Unterstützung aller großen Oppositionsparteien in der Stichwahl und formte damit die sogenannte „Vielfarbenkoalition“.

Die PN selbst ist eine Koalition aus konservativen Christen, vor allem im ländlichen Raum, und dem klassischen, liberalen Herrerismo der ökonomischen Elite. Sie ordnet sich damit in das politisch rechte Lager ein. Im Wahlkampf entwickelte sie ein versöhnliches Narrativ, um Mitte-Wähler zu gewinnen und um Brücken zu anderen Parteien zu bauen.

Dabei betonte sie besonders wirtschaftliche Fragen: Haushaltskürzungen, Verkleinerung der Regierung, Öffnung für internationalen Handel sowie Unterstützung für kleinere und mittlere Unternehmen. In gesellschaftspolitischen Fragen war die Spannweite größer – Die relativ liberalen Verlautbarungen des Kandidaten wurden begleitet durch konservative Aussagen evangelikaler Kirchen (die in der Partei einen wachsenden Einfluss haben) und die Initiierung und Unterstützung eines Verfassungsreferendums, das eine härtere Gangart in der Sicherheitspolitik erlauben würde. Darüber hinaus hatte zuvor bereits ein stellvertretender Vorsitzender ein weiteres Referendum initiiert, um ein neu beschlossenes Gesetz rückgängig zu machen, das die Diskriminierung von Transsexuelles verhindern soll. Das Vorhaben scheiterte jedoch, da es nur 10% Zustimmung erhielt.

Partido Colorado

Die PC ist eine weitere der traditionellen Parteien Uruguays. Seit ihrer Gründung 1836 hat sie Uruguay für die längste Zeit in der Geschichte regiert, bis sie 2005 von der FA abgelöst und auf den dritten Platz im Parteiensystem relegiert wurde. Sie vereint konservativere und wirtschaftsliberalere Teile der politischen Rechten. In ihrer Wahlkampagne präsentierte sich ihr Kandidat Ernesto Talvi als Liberaler und stellte seine Vision vom "kleinen Modelland" vor. Während des Wahlkampfes schien die PC um den zweiten Platz zu konkurrieren, verlor dann aber an Zuspruch und erreichte 12,3% der Stimmen.

Ihr Wahlprogramm ist liberal in der Wirtschaftspolitik und relativ modern in kulturellen Fragen, obwohl Teile der Partei, angeführt vom früheren Präsident Sanguinetti, nach wie vor konservative Positionen haben. Die Partei unterstützte Luis Lacalle Pou in der Stichwahl und ist Teil der „Vielfarbenkoalition“.

Cabildo Abierto

Die CA war die große Überraschung des Wahlkampfes und erlangte 10,9% der Stimmen. Sie wurde erst im März 2019 vom früheren Chef der uruguayanischen Armee, Guido Manini Ríos,  gegründet, nachdem er die Unbefangenheit der Justiz infrage gestellt hatte und daher entlassen worden war. Seine Partei vertritt streng konservative bis hin zu militaristischen Positionen.

Die CA ist eine autoritäre Partei mit einer Mischung aus nationalistischen und neoliberalen Elementen. Sie zieht besonders Wähler_innen aus unteren sozioökonomischen Schichten an.

Ihr Wahlprogramm zielt besonders auf die Verteidigung traditioneller Arbeits- und Familienwerte ab. Ihre Forderungen nach ökonomischer Offenheit und Liberalisierung werden durch eine nationalistische Orientierung teilweise ausgeglichen. Sie unterstützte Luis Lacalle Pou in der Stichwahl und ist Teil der „Vielfarbenkoalition“.

Unidad Popular

Die UP ist eine radikale linke Minderheitenpartei. Ihr Inhalt ist klassischer Antikapitalismus, jedoch mit einigen Neuerungen. Ihr Augenmerk liegt auf Arbeit, Industrialisierung, Wohnungsbau und die Rolle der Regierung. Sie beinhaltet aber auch progressive gesellschaftspolitische Elemente, was eine Innovation im Vergleich zu ihrem früher eher konservativen Diskurs darstellt. Mit nur 0,8% der Stimmen verlor sie ihren Sitz im Parlament, sodass die PA nun als einzige Partei das linke Spektrum vertritt.

Methodik & Autoren

Methodik

Auf den Schaubildern in der folgenden Analyse sind die Positionen der Parteien auf einer zweidimensionalen Karte verzeichnet. Grundlage bilden die 30 wichtigsten Aussagen über besonders relevante Politikthemen in der derzeitigen politischen Debatte. Diese Inhalte gehen aus einer gründlichen Auswertung der Parteiprogramme und des politischen (Medien-)Diskurses hervor. Jede dieser Aussagen bezieht sich auf einen politischen Inhalt, der sich als „links“ oder „rechts“ beziehungsweise als „progressiv“ oder „konservativ“ einordnen lässt. Die Antworten auf diese Aussagen liegen auf einer fünfstufigen Skala: „Stimme überhaupt nicht zu“, „Stimme nicht zu“, „Neutral“, „Stimme zu“, „Stimme vollständig zu“. Die Position der Parteien zu diesen Aussagen ist jeweils entsprechend ihren offiziellen Verlautbarungen in Veröffentlichungen, Wahlkampfdokumenten und Medienauftritten kodiert. Die Befragung und Kodierung fand Anfang Oktober kurz vor dem ersten Wahlgang statt.

Auf der vertikalen Achse verwenden wir hier die Begriffe progressiv – konservativ statt autoritär-libertär Die Schaubilder entstanden auf Basis sämtlicher Positionen der Parteien in den beiden Dimensionen (der Links-Rechts- und der Progressiv-Konservativ-Dimension). Die tatsächliche Position der Partei liegt im Zentrum der jeweiligen Ellipse. Die Ellipsen repräsentieren die Standardabweichungen der Antworten der Parteien auf alle Aussagen, die für den Aufbau der Achsen verwendet wurden. Daher ist die Ellipse von Parteien mit sowohl linken wie auch rechten politischen Inhalten auf der Links-Rechts-Achse breiter. Parteien mit sowohl progressiven als auch konservativen Politikinhalten verzeichnen eine längere Ellipse auf der progressiv-konservativen Achse.

Bei den sogenannten Heatmaps werden Wählerinnen und Wähler mithilfe einer zehnstufigen „Propensity-To-Vote“-Variable (Wahlwahrscheinlichkeit) erfasst, auf der die Befragten angeben, wie wahrscheinlich es ist, dass sie jemals die jeweiligen Parteien wählen werden. Als potentielle Wählerinnen und Wähler werden solche Nutzerinnen und Nutzer bezeichnet, die diese Wahrscheinlichkeit für die jeweilige Partei mit den Werten 8, 9 und 10 auf der zehnstufigen Skala angegeben haben. Die durchschnittliche politische Position dieser potentiellen Wählerinnen und Wähler liegt in der Mitte der Ellipse. Die Verortung der Wähler_innen und potenziellen Wähler_innen erfolgte auf Grundlage einer Online-Befragung mit über 10.000 Teilnehmer_innen. Die Befragung und Codierung der Parteien wurden Anfang Oktober vor dem ersten Wahlgang durchgeführt.

Von wem wurden die Strategiedebatten erstellt?

Autoren:

Jan Souverein - FES Uruguay

Sebastián Aguiar - Universidad de la Republica

Grafiken:

André Krouwel - Gründer von Kieskompas BV & Freie Universität Amsterdam

Yordan Kutiyski - Kieskompas BV

Projektkoordination:

Christopher Gatz - Friedrich-Ebert-Stiftung

Internationale Politikanalyse

Leitung

Dr. Michael Bröning

Kontakt

Hiroshimastraße 28
10785 Berlin

+49 (0) 30 / 269 35-7738

E-Mail-Kontakt




 

DieAbteilung Internationale Politikanalyse arbeitet an Schlüsselthemen der europäischen und internationalen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ziel ist die Entwicklung von politischen Handlungsempfehlungen und Szenarien aus der Perspektive der sozialen Demokratie.

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