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Analyse des Bundestagswahlkampfs 2025 auf TikTok

Swipe, Like, Vote

Die Bundestagswahl 2025 war auch eine TikTok-Wahl. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben im Wahlkampf auf die Plattform gesetzt, um die rund 23 Millionen deutschen TikTok-Nutzer:innen zu erreichen. Die Studie „Swipe, Like, Vote“ analysiert die Aktivitäten offizieller Parteikanäle, Spitzenkandidat:innen und inoffizieller Unterstützer:innen-Netzwerke. Im Fokus stehen plattformspezifische Kommunikationsstrategien, die Nutzung von Affordanzen (Edits, Vibes, Audio-Memes) sowie Formen partizipativer Propaganda. Die Untersuchung zeigt, wie sich Reichweite, Engagement und politische Wirkung in der Logik einer algorithmisch getriebenen Plattform konstituieren. Die Ergebnisse bieten zentrale Erkenntnisse zur politischen Sichtbarkeit im digitalen Raum – und legen offen, warum TikTok unverzichtbar geworden ist, um im Wahlkampf jüngere Zielgruppen zu erreichen.
 

Analysierte Kandidat:innen und Partei-Accounts auf TikTok im Überblick

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick

Analyse der Accounts von Parteien und Spitzenkandidat:innen

Die Teams der Kandidat:innen und der zentralen Partei-Accounts haben im Beobachtungszeitraum zusammen insgesamt 1.207 Videos veröffentlicht. Das sind rund 1,6 Videos pro Account pro Tag, dabei reicht die Gesamtzahl der Videos pro Account von nur 18 beim Account @afdfraktionimbundestag, 29 bei @heidireichinnek und 37 Videos bei der @fdp über 122 bei @die.linke, 128 bei @alice_weidel_afd bis zu 153 beim Account @insidecdu.

Die Anzahl der Videos führt zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf die Reichweite, die Likes, Shares, Kommentare und das Engagement. Eine hohe Zahl geposteter Videos bedeutet auf TikTok nicht zwangsläufig, dass diese Videos zusammengenommen auch die größte Reichweite (also die meisten Aufrufe) im Erhebungszeitraum erzielen. Die 153 Videos auf dem Account @insideCDU wurden zusammen 19 Millionen Mal aufgerufen. Die 29 Videos von @heidireichinnek hingegen wurden zusammen 40 Millionen Mal aufgerufen. Neben der Quantität ist die Qualität der Videos entscheidend, schließlich bedingt die Performanz eines Videos die algorithmische Weiterverbreitung des Inhalts.

Neben dem Wert der Likes (Wie oft haben Nutzer:innen ein Video mit „Gefällt mir“ markiert?) sind die Reichweite (Wie viele Aufrufe gab es?) und die Werte für Kommentare oder das Teilen eines Videos (Shares) auf TikTok relevant. Aus diesen Kennwerten lässt sich die sogenannte Engagement-Rate (in Prozent) errechnen: alle Interaktionswerte (Anzahl aller Likes plus Anzahl aller Kommentare plus Anzahl aller Shares aller Videos des Accounts) geteilt durch die kumulierte Reichweite pro Account (also alle Videoaufrufe) mal 100. Das Team von @insidecdu konnte mit den meisten Videos (153) nur die zweitgeringste Engagement-Rate von 4 Prozent erreichen, mit 3 Prozent unterboten nur vom Account @merzcdu mit 110 Videos. Eine beachtlich hohe Engagement-Rate von 15 Prozent konnte der Account @heidireichinnek (29 Videos) erzielen, übertroffen nur vom Partei-Account @die.linke mit 16 Prozent (122 Videos). Nicht immer liegen die Engagement-Werte von Spitzenkandidat:innen-Account und Partei-Account ähnlich nah beieinander. So erzielte der Account von Robert Habeck 11 Prozent, während der Parteiaccount der Grünen nur 7 Prozent Engagement-Rate erreichte. Die Beispiele zeigen, dass individuelle Werte wie die Anzahl der Videos kontextualisiert werden müssen, um zielführende Urteile zu ermöglichen. Daher werden in der Studie die offiziellen Accounts der Spitzenkandidat:innen und der zentralen Partei-Accounts auf TikTok näher untersucht.

Die Analyse der Accounts zeigt: Authentizität und Nahbarkeit scheinen auf TikTok zentrale Erfolgsfaktoren zu sein. Politiker:innen wie Reichinnek, die direkt, emotional und ungekünstelt auftreten, erzielen weitaus mehr Reaktionen als Kandidat:innen, die sich bemüht in Szene setzen, wie etwa Friedrich Merz in gestellten Alltagsmomenten. Letztlich zeigt sich, dass TikTok eine eigene Kommunikationslogik erfordert. Wer auf der Plattform lediglich klassische Videoausschnitte zweitverwertet, verschenkt Potenzial. Erfolgreiche politische Kommunikation auf TikTok verlangt ein tiefes Verständnis für Trends, Formate und ästhetische Codes der Plattform – nur so gelingt es, Sichtbarkeit und politische Wirkung im digitalen Raum nachhaltig zu erzeugen.

Fan-Accounts und Zielgruppenstrategien

Eine isolierte Betrachtung der führenden offiziellen politischen TikTok-Accounts ermöglicht erste Einschätzungen der Reichweiten und erste Inhaltsinterpretationen. Sie wird aber der Verbreitungslogik der Plattform und zunehmend fragmentierten Öffentlichkeiten nicht abschließend gerecht, bleibt sie doch einem Sender:innen-Empfänger:innen-Modell des massenmedialen Zeitalters verhaftet, das von einer begrenzten Anzahl von Sender:innen und meist passiven Empfänger:innen ausgeht. In der gegenwärtigen Plattform-Ära des frühen 21. Jahrhunderts gilt dieses Modell jedoch immer weniger. Oder um es an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Alle zwischen dem 1.1. und 23.2. veröffentlichten Videos der Spitzenkandidat:innen aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien kommen zusammengerechnet auf 19,1 Millionen Likes. Ein am 26.12.2024 gepostetes neunsekündiges Handyvideo des deutschen Content-Creators Younes Zarou, das ihn im weißen Hemd auf einem Hügel vor Mekka zeigt (er atmet ein, dann schwenkt die Kamera zum Sonnenuntergang, während wir den Ruf eines Muezzins hören), erzielt 22,7 Millionen Likes. Zarou, der auf seinem Account insgesamt 1,3 Milliarden „Gefällt mir“ angesammelt hat, ist also mit einem einzigen Video auf der Plattform erfolgreicher als die sieben Spitzenkandidat:innen mit 623 Videos. Das erklärt, warum das @teambundeskanzler im April 2024 ein Treffen von Zarou und Scholz in die Wege leitete, das erfolgreich auf TikTok inszeniert wurde. Bis zum Ende seiner Kanzlerschaft blieb das reichweitenstärkste Video (12,2 Millionen Views) auf dem Account ein Video mit Zarou.

Deswegen setzen tradierte Akteur:innen zunehmend auf die Mitwirkung von reichweitenstarken Creator:innen. Zudem zeigt sich hier die Notwendigkeit, sich näher mit plattformspezifischen Strategien der Inhaltsamplifikation und -verbreitung, inklusive der Auslagerung der Verbreitung, auseinanderzusetzen. Die Studie untersucht daher in einem zweiten Teil TikTok-spezifische Affordanzen, also Handlungsmöglichkeiten und Elemente der sogenannten partizipativen Propaganda aus der Wahlkampfphase 2025. Da die Parteien hier ganz unterschiedlich gut, geschickt oder auch kaum bis gar nicht agiert haben, erfolgt die Darstellung anhand ausgewählter Beispiele. Dabei lässt sich festhalten, dass die angewendeten Kommunikationsstrategien sich von eher rational-informierenden Inhalten eines klassischen Sender:innen-Empfänger:innen-Modells zu plattformgeeigneten Botschaften meist emotionaler Machart gewandelt haben. Erfolgreiche Kampagnen (vor allem von AfD und Die Linke) profitieren dabei von einem aktiven Vorfeld inoffizieller Accounts.

In der flüchtigen und dichten Informationsflut die TikTok prägt, lassen sich Kampagnen schwer planen und steuern, da sich Öffentlichkeiten emergent und „bottom-up“ organisieren und häufig wie bestimmte memetische Narrative oder Trends auftauchen, verschwinden oder sich wandeln. Da sich kommunikative Gepflogenheiten und Techniken permanent weiterentwickeln, müssen sie im „Trial-and-Error“-Verfahren möglichst unmittelbar probiert, evaluiert und angepasst werden. Nur so kann es gelingen, in einem fragmentierten und desintegrierenden Umfeld durch den Lärm zu dringen. Neue privilegierte Sprecher:innen (reichweitenstarke Creator:innen und Influencer:innen wie Brooklyn oder Zarou) können zielführend eingebunden werden, um in der Plattform-Ära eingebüßte Gatekeeper-Privilegien auszugleichen. Ob dies neben der Nutzung von Plattform-Affordanzen und dem Wechselspiel von offiziellen und inoffiziellen Accounts ausreicht, um über den Moment und über eine fragmentierte Zielgruppe hinaus so wirksam zu sein, dass Reichweitenerfolge in Stimmen an der Wahlurne übersetzt werden können, lässt sich nicht garantieren. Allerdings gibt es in einer zunehmend mediatisierten Gesellschaft, die Kommunikation zu einem großen Anteil auf digitale Plattformen auslagert, kaum Alternativen.

Wer erfolgreich digitalen Wahlkampf bestreiten will, der muss natürlich weiter jenseits von Trends, Memes, Sounds und negativem Campaigning politische Lösungen und Identifikationsangebote unterbreiten. Und diese auf Plattformen wie TikTok oder zukünftigen Arenen präsentieren und diskutieren lassen.

Handlungsempfehlungen

Um TikTok politisch wirksam zu nutzen, ist ein grundlegendes Verständnis der Plattformlogik entscheidend. TikTok ist weder ein verkleinertes YouTube noch ein klassischer Werbekanal, sondern ein visuell-emotionales, stark trendgetriebenes Ökosystem mit eigenen Codes, Rhythmen und Ästhetiken – etwa in Form von Sounds, Vibes oder Memes. Erfolgreiche Inhalte werden nicht einfach recycelt, sondern spezifisch für die Plattform produziert: Der Erfolg von Robert Habecks „Busfahrergruß“ lässt sich genau auf diese plattformspezifische Inszenierung zurückführen.

Ein zweiter zentraler Erfolgsfaktor ist Authentizität. Politiker:innen, die sich als nahbare, greifbare Persönlichkeiten präsentieren, erreichen auf TikTok mehr als jene, die bloß inhaltliche Positionen verkünden. Persönliche Einblicke, etwa aus dem Auto oder dem Alltag, erzeugen Nähe und Glaubwürdigkeit. Ironie, Humor und auch Selbstironie sind integrale Bestandteile des TikTok-Vibes. Heidi Reichinnek demonstriert dies eindrücklich: Mit direkter Ansprache, schnörkellosen Botschaften und einem unverstellten Auftreten erzielt sie enorme Reichweiten und baut parasoziale Beziehungen zu jungen Nutzer:innen auf.

Zudem ist TikTok keine Einbahnstraße – politische Kommunikation profitiert stark von partizipativer Einbindung. Parteien sollten nicht ausschließlich selbst publizieren, sondern aktive Vorfeld-Communitys fördern, die Inhalte adaptieren, remixen und weiterverbreiten. Das kann durch klare Aufrufe zur Mitgestaltung geschehen, etwa durch Soundvorlagen, Video-Downloads oder Challenges. Anreizsysteme – wie Gewinnspiele oder symbolische Anerkennung – können diesen Prozess verstärken. Die AfD etwa nutzt ein solches Unterstützer:innen-Netzwerk strategisch, allerdings oftmals intransparent. Demokratische Parteien sollten sich dieses Potenzials bewusst sein, aber gleichzeitig auf Fairness und Nachvollziehbarkeit achten – verdeckte Kampagnen oder der Einsatz von Bots sind mit demokratischen Kommunikationsnormen unvereinbar.

Ein vierter Schlüssel zum Erfolg liegt in der Trendkompetenz. TikTok ist ein Echtzeitmedium, das auf kurzfristige Dynamiken reagiert. Wer zu langsam ist, verpasst die Anschlussfähigkeit. Deshalb braucht es Social-Media-Teams, die agil und plattformaffin agieren, Trends erkennen, aufgreifen und ausprobieren. Fehlversuche sind einkalkuliert – „Trial and Error“ gehört zum digitalen Repertoire. Auch vermeintlich inhaltsarme Clips – wie Friedrich Merz mit Sonnenbrille zu einem Snoop-Dogg-Sound – können viral gehen, wenn sie humorvoll mit der Plattform-Ästhetik spielen.

Nicht zuletzt lohnt es sich, gezielt mit Influencer:innen zusammenzuarbeiten. Diese verfügen über Reichweite, Glaubwürdigkeit und ein Vertrauensverhältnis zu ihren Communitys. Entscheidend ist dabei eine Kooperation auf Augenhöhe: Statt plumper Werbung sind authentische Formate gefragt – etwa Co-Creations oder Challenges. Olaf Scholz’ Kooperation mit dem TikTok-Creator Brooklyn zeigt, dass selbst eine orchestrierte Inszenierung erfolgreich sein kann, wenn sie an bestehende Narrativstrukturen anschließt.

Abschließend gilt: Erfolgreiche TikTok-Kommunikation ist nur dann nachhaltig, wenn sie kontinuierlich analysiert wird. Das Monitoring von Engagement-Raten, Kommentaren, Reaktionen und Soundverwendungen ist essenziell. Gerade qualitative Auswertungen der Resonanzräume liefern tiefe Einsichten in politische Stimmungen und Anschlussfähigkeiten – ein Schatz, der weit über einfache Reichweitenmetriken hinausgeht.

Autoren und Datengrundlage

Über die Autoren

Marcus Bösch ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Er forscht, berät und publiziert zu postdigitaler Propaganda und digitalen Kommunikationsstrategien. Bösch veröffentlicht den international renommierten Newsletter „Understanding-TikTok.com“.

Jolan Geusen ist freier Journalist und studiert im Master Digitale Kommunikation an der HAW Hamburg. Er beschäftigt sich vor allem mit politischer Kommunikation und digitalen Phänomenen auf TikTok. Für den SPIEGEL analysierte er unter anderem den deutschen Europawahlkampf auf der Videoplattform.

 

Zur Datengrundlage

Die Datengrundlage der Untersuchung umfasst die offiziellen TikTok-Accounts (Spitzenkandidat:in und jeweils ein zentraler Partei-Account [1]) aller im 20. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, also AfD, BSW, CDU, Die Grünen, Die Linke, FDP, SPD und deren Postings vom 1.1.2025 bis zum Tag der Wahl, dem 23.2. [2] Zudem wurden ausgewählte Fan-Accounts und relevante TikTok-Sounds (zum Beispiel Ausschnitte aus Reden, Lieder oder Ähnliches) gespeichert und analysiert. Für die Datensammlung wurden alle Videos der genannten Accounts am 24.2.2025 mittels der Browsererweiterung Zeeschuimer (Github 2024a) heruntergeladen und mit dem Recherchetool 4CAT (Github 2024b) verarbeitet und ausgewertet. Neben der quantitativen Auswertung (Likes und Engagement) wurden sogenannte Plattformspezifika, namentlich Edits (Terpak 2024), Vibes (Lupinacci 2024) und Memes (Galip 2024), analysiert. Nicht untersucht wurde die Anzahl der Follower:innen der einzelnen Accounts, da die Funktionslogik von TikTok es zwar ermöglicht, einem Kanal zu folgen, dies aber nicht – wie andere Dienste zuvor – voraussetzt.

 

[1] Zur besseren Vergleichbarkeit wurde bei der Union nur der CDU-Account und nicht der CSU-Account untersucht und bei der Partei Die Linke nur der Account der Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek.

[2] Der Account des Südschleswigschen Wählerverbands, der ein Bundestagsmandat für den Spitzenkandidaten Stefan Seidler errungen hat, wurde nicht analysiert.

Kontakt

 Jan.Engels(at)fes.de  Referat Analyse und Planung  Presseanfragen: Johannes Damian, 030 26935-7038,  Presse(at)fes.de

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