Referat Lateinamerika und Karibik

Öffentliche Ausgaben und Staatsverschuldung angesichts der Corona-Krise – Problem oder Lösung? – Das Beispiel Chile

Warum am strenggläubigen Neoliberalismus festhalten?

Die aktuelle Wirtschaftskrise in Chile ist tiefgreifender als erwartet. Die chilenische Regierung hält ihrer Austeritätspolitik seit Jahren die Treue und achtet auf eine geringe Schuldenquote. Für die Zukunft ist aber eine andere Politik erforderlich.

Ein Artikel von Ignacio Silva Neira

 

Bild: Sitz der chilenischen Regierung im Palacio de La Moneda in Santiago de Chile von © Ignacio Silva Neira

Die vom Coronavirus ausgelöste Wirtschaftskrise erweist sich als tiefgreifender und weitreichender als zunächst erwartet. Sie zwingt uns, ständig nach neuen Mitteln gegen eine Krise zu suchen, die sich von früheren Konjunkturflauten in vielerlei Hinsicht unterscheidet. Schätzungen der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) vom April gehen davon aus, dass das BIP im Jahr 2020 um 1,8 Prozent schrumpfen wird. Die chilenische Zentralbank erwartet einen Rückgang zwischen 1,5 Prozent und 2,5 Prozent. Auch in den letzten zwei Monaten gab es keine Anzeichen für einen baldigen Aufschwung – vielmehr stieg die Zahl der Infizierten immer weiter und machte Lateinamerika zu einer der am schwersten von der Krise betroffenen Regionen. Im Juni wurde dann eine Konjunkturabschwächung um 9,4 Prozent für die gesamte Region und im Bereich zwischen 5,5 und 7,5 Prozent für Chile vorhergesagt. Zwar gibt es in einigen Wirtschaftssektoren Anzeichen einer leichten Erholung; doch die Krise ist alles andere als überwunden.

Die Reaktion der chilenischen Regierung fällt bei alledem äußerst zurückhaltend aus. Die ersten Hilfsprogramme, mit denen die Haushaltseinkommen gesichert werden sollten, konnten die entgangenen Gehaltszahlungen kaum ausgleichen und waren zudem zeitlich befristet. Die Kosten der Maßnahmen, die dringend verlängert werden sollten, sind offenbar die Hauptsorge der chilenischen Regierung, die sich zu fiskalpolitischen Sparmaßnahmen und einer weiterhin geringen Staatsverschuldung verpflichtet hat. Vor diesem Hintergrund wird derzeit die Frage debattiert, wie stark der Staat eingreifen sollte und wie sehr die Staatsausgaben erhöht werden dürfen, um noch verheerendere Schäden abzuwenden.

Die Folgen sind bereits erkennbar und fallen mit Blick auf den Arbeitsmarkt sehr unterschiedlich aus. Denn der ist von den Produktionsbeschränkungen infolge der Abstandsvorschriften unmittelbar betroffen. Daher hängt der Erhalt der Arbeitsplätze bislang davon ab, wie weitreichend die staatlichen Eingriffe ausfallen. Die Arbeitslosigkeit ist in Chile von 8,2 Prozent zwischen Januar und März auf 12,9 Prozent zwischen Juni und August gestiegen. Das ist zwar ein recht hoher Wert, wird dem eigentlichen Ausmaß der Krise aber nicht gerecht. Denn mehr als eine Million Beschäftigte, die meisten davon Frauen, haben die Arbeitssuche inzwischen aufgegeben und den Arbeitsmarkt verlassen. Diese Gruppe wird bei der Berechnung der Arbeitslosenquote überhaupt nicht mehr berücksichtigt, entsteht aber erst durch die mangelnden Chancen am Arbeitsmarkt und die massive Arbeitsplatzvernichtung.

Angesichts unzureichender staatlicher Hilfen zur Beschäftigungs- und Einkommenssicherung und des Beharrens auf fiskalischen Sparmaßnahmenhaben viele europäische Länder und die USA eine expansive Haushaltspolitik von nie dagewesenem Ausmaß eingeführt, um die Krise abzufedern. Im Mai dieses Jahres entsprachen die öffentlichen Ausgaben in den USA 13 Prozent des dortigen BIP, während sie in Ländern wie Slowenien, Belgien und Österreich bei 15, 17 bzw. 19 Prozent lagen. Damit sind sie weit von den fünf Prozent Chiles nach Einführung der ersten Maßnahmen entfernt. In diesem Zusammenhang wurde angesichts der notwendigen Sozialhilfeerhöhungen ein neues Maßnahmenpaket verabschiedet. Dieses sah eine Ausweitung der ursprünglichen Hilfsprogramme und Ausgabenerhöhungen vor, die jedoch vor allem auf Haushaltseinsparungen und nicht auf öffentliche Ausgaben entfallen. Zu den anfangs vorgestellten Hilfsleistungen gesellten sich staatlich garantierte Kredite und die Einziehung von zehn Prozent der privaten Pensionsfonds. Damit stieg die staatliche Unterstützung, ohne dass die Steuereinnahmen angetastet wurden. Die Beschäftigten sollen die Krise also mit eigenen Mitteln bewältigen.

Was hat es mit diesem Festhalten am Neoliberalismus also auf sich? Ist es wirklich notwendig, die Staatsverschuldung um jeden Preis niedrig zu halten? Zweifelsohne leiden die Länder Lateinamerikas und der Karibik bis heute unter ihren Schulden aus den achtziger Jahren, die heute als verlorenes Jahrzehnt angesehen werden. Ursache waren dabei stets Schulden- und Bankenkrisen. Doch nun ist die Lage anders und es ist an der Zeit für einen Perspektivwechsel.

Die gesamtwirtschaftliche Stabilität, die Chile erreicht hat, genießt internationale Anerkennung durch Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, hat jedoch auch große gesellschaftliche Kosten verursacht. Der Rückzug des Staates und der Aufbau einer Marktwirtschaft haben ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht geschaffen, zugleich aber den Beitrag des Staates beim Schutz der sozialen Grundrechte geschwächt. Hierzu zählen etwa der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie der Umweltschutz und die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Die Folge ist eine öffentliche Bruttoschuldenquote von 27,9 Prozent, die im Vergleich zu Lateinamerika insgesamt (47,1 Prozent) und anderen Ländern des südlichen Lateinamerikas wie Argentinien (89,4 Prozent), Brasilien (75,8 Prozent) und Uruguay (54,1 Prozent) sehr gering ausfällt.

Seit einigen Jahren geht der Trend nun jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Nach dem Ende des Kupfer-Superzyklus schwächte sich das chilenische Wirtschaftswachstum allmählich ab, während die Staatsverschuldung wieder zunahm. Die aktuelle Krise verstärkt diese neue Entwicklung. Inzwischen geht die Regierung davon aus, dass die Schuldenquote für das Jahr 2021 die Marke von 40 Prozent des BIPs übersteigen wird.

Vor diesem Hintergrund dreht sich die finanzpolitische Debatte vor allem darum, die Schulden unter Kontrolle zu halten, um negative Folgen für Wirtschaftsstabilität und Wirtschaftswachstum abzuwenden. Im Jahr 2010 veröffentlichten die Harvard-Ökonomen Reinhart und Rogoff unter dem Titel Growth in a time of debt eine wegweisende Studie im American Economic Review. Darin untersuchten sie den Zusammenhang zwischen Schulden und Wirtschaftswachstum und kamen zu dem Schluss, dass Länder mit einer Verschuldung von mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ein geringeres Wirtschaftswachstum verzeichnen. Trotz der methodischen Kritik an Kodierungsfehlern und der Übergewichtung von Verschuldungsperioden bei der Berechnung ist Chile weit von einer Schuldenquote entfernt, die als gefährlich für das Wirtschaftswachstum gilt.

Doch was noch viel wichtiger ist: Nicht nur die Schulden wirken sich auf das Wachstum aus, sondern auch das Wachstum auf die Schulden. Wächst die Wirtschaft schneller und steigt dadurch das Bruttoinlandsprodukt (BIP), schrumpfen die Schulden im Verhältnis zum BIP. Diesen möglicherweise doppelten Kausalzusammenhang muss man berücksichtigen, da er entgegengesetzte politische Entscheidungen nahelegt. Geht man davon aus, dass sich Schulden auf das Wachstum auswirken, wird die Politik die Verschuldung begrenzen; geht man hingegen davon aus, dass Wachstum Schulden senken kann, sollte man auf Wachstumspolitik setzen. Man muss also keineswegs zwingend die Schulden abbauen – genauso gut kann man versuchen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Und hier kann der Staat in Krisenzeiten eine Schlüsselrolle spielen.

Man sollte sich also nicht nur Sorgen über die Nachhaltigkeit der Schuldenpolitik machen, sondern sich auf die Wiederbelebung der Wirtschaft konzentrieren. Dazu zählen aktuell die Sicherung von Einkommen und Arbeitsplätzen und langfristig die Wiederherstellung höherer Wachstumszahlen durch fiskalpolitische Maßnahmen – und bei Bedarf die Aufnahme neuer Schulden. Nur so kann langfristiges Wachstum gesichert werden. Verzichtet man dagegen auf eine expansive Steuerpolitik in Zeiten der Rezession, so wie wir es derzeit tun, kann dies den Wirtschaftsabschwung sogar verlängern. Dass die Rolle verkannt wird, die staatliche Ausgaben für die Wirtschaftstätigkeit spielen, zeugt von einer ideologischen Voreingenommenheit, die den Staat um jeden Preis zurückdrängen will und weiterhin behauptet, der Markt werde schon alles regeln. Die aktuelle Herausforderung besteht angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage darin, Staatsausgaben und öffentliche Investitionen im Rahmen einer nachhaltigen Staatsverschuldung zu erhöhen. Dafür braucht es eine Haushaltspolitik, die die Produktionsstruktur stärkt, nachhaltiges Wachstum fördert und Krisen durch beherztes institutionelles Eingreifen bewältigt.

Ignacio Silva Neira ist derzeit Research Assistant in der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Er ist Direktor des Think-Tank des Observatorio de Políticas Económicas (OPES) und hat ein Master in Wirtschaftsanalyse sowie in Internationaler Wirtschaft.


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